Zum Glück habe ich keinen dieser Sylt-Aufkleber auf dem Auto pappen. Also jene, die lediglich die Umrisse der Insel darstellen, so einige fahren damit herum. Ich hatte das früher mal für eine Chiffre von Waffennarren gehalten, denn mal ehrlich: ein bisschen wie ein Maschinengewehr sieht es ja schon aus. Na ja, irgendwann lernte ich halt, dass es Sylt sein soll. Aber hey, wer weiß, was dahinter steckt... der Deutschland-Ableger der NRA macht dort regelmäßig Urlaub. Oder sie ist die Insel der Rheinmetall-Führungsriege. Weiß nicht. Irgendwas in der Art muss es doch sein.
Aber nein. Es kam anders als gedacht. Tatsächlich ist die Insel das Sammelbecken irgendwelcher Rich Kids, die sich bisher bedeckt hielten und jetzt am Rande einer großen Reichensause „Ballermann“-mäßig (AHA!) die Lichter aus“schossen“ (AHAAAA!) und im Delirium ihre „wahre“ Ideologie herausposaunten. Sie merkten bestimmt, wohin das führen soll: Man kann sich wahrscheinlich glaubhafter Waffenchiffres zusammenspinnen denn irgendwelche Nazichiffres. Es ist nur eine Geschichte aus der Endlosschleifenparanoia dieser Tage, die uns wahrscheinlich noch bis zum Herbst nachstellen wird.
Sylt war ja jetzt für sie nur der Auslöser für eine Reihe von angeblichen Chiffretreffen. Die empfangsgestörte FUNK-Welle hat dann die Brotkrumensuche auf ganz Deutschland ausgeweitet und bis zu den Alpen Döp-Alarm geschlagen, von wo aus sie aufgebracht riefen: „Joa mei, bist du döppert?“. Etwas anderes schwirrt mir im Kopf herum: die Partyszene hat nur mal wieder den nächsten Angriff hinter sich. Man denke nur an Ischgl – auch da war Corona teils nur das Ventil für die Generalabrechnung mit dem Après-Ski-Gelage, dazu noch die passende, wiederholte Kontroverse auf Mallorca. Auch das wurde wieder mehr oder weniger elegant den Aufregerthemen untergeschoben, und immer wieder ist es die Schlagerpartyszene, die solchen Angriffen ausgesetzt ist. Ist nur so eine Annahme, aber wenn die Moralasketen zum Angriff blasen, kann man die verhasste Saufmeute ohne Chiffrierung auch noch gleich mit dämonisieren.
So wirklich verstanden habe ich – abgesehen von den Videobeweisen – die Konstruktion vom strukturellen Partyrassismus ehrlich gesagt nicht. Aber es scheint auch nicht nötig, sich noch eingehender da reinzuknien, weil momentan ja eh eine Konstruktion die nächste ohne Verschnaufpause ablöst. Man hätte es auch mit „Layla“ oder sonstigen Empörungen aus der Vergangenheit austauschen können, es macht schlicht keinen Unterschied, und ist deswegen so ausgelutscht und berechenbar geworden.
Ein bisschen emotionaler wurde ich bei der Mannheim-Geschichte. Bös-witzisch, wie ich manchmal drauf bin, würde ich jetzt sagen, dass man die Monnemer nicht mal ein paar Tage sich selbst überlassen kann. Kaum im Urlaub unter gedöpten Wanderfreaks und Alm-Rich Kids (demnächst mehr dazu), dölcht einer daheim durch die Gegend. Da will ich mal wieder whataboutisieren und nehme nur beide Vorfälle als Vergleichsmaterial, wenn jemand in meinem Dunstkreis nicht mehr alle Latten am Zaun hat oder messerscharf argumentiert. Wirkt auf mich irgendwie „stich“(höhö!)haltiger als Chiffreratespiele. Und man testet sich aus, ob einem noch Wortspiele zu Gedöps oder Stichwaffen einfallen. Was bin ich wieder kreativ...
Eine Landkartenschneise von Messerangriffen wagt sich die FUNK-Störung dann doch nicht zu zeichnen. Unsere allerheiligste Buntenrepublik hat halt bei aller Anständigkeit immer einen Haken: die Realität. Und in der ist es eben nicht so einfach, sich nur zu positionieren und zu denken, alles wäre gut und das andere schlecht. Jetzt haben sie wieder mal die Gesetze der Straße kennengelernt – und schon zeigt sich die Nation massiv döpiert. Die nächste Sau wird durch das Quadratedorf getrieben, die Fronten kehren sich um, und schon ist Sylt nur noch ein Schatten seiner selbst, wo Luxusprobleme demnächst mit Hansa-Pils heruntergespült werden oder wir bestenfalls mit der Rückkehr des Wehrdienstes beglückt werden sollen.
Da kommt (Atom)Bombenstimmung auf, am besten auf Sylt, das man sich von oben anschaut. Sieht ja aus wie ein Gewehr, da kann man sich noch ein bisschen die „Woffn, Woffn, Woffn“-Geilheit auffrischen, bis man wieder freudig in den Schützengraben zieht und die Demokratie verteidigt. Es ist aber eher anzunehmen, dass die das eher bei einer Partie „Call of Duty“ machen werden denn richtig. Zuhause, im Schoße der virtuellen Parallelexistenz, lässt es sich eben besser bellizistieren als sich der Realität zu stellen.
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Holger (Samstag, 01 Juni 2024 15:26)
Das für mich persönlich Schlimmste am derzeitigen Stand in Deutschland:
Als Zyniker steht man beim Kommentieren des Zeitgeschehens immer mit einem Bein im Knast.
Nicht schön.
Polemicer (Sonntag, 02 Juni 2024 06:16)
@Holger
Wenn wir wenigstens in Eigenverantwortung und uneingeschränkt justiziabel so reden würden. Dann wäre das ja irgendwie gerechtfertigt. Aber wenn man die Messlatte für "mit einem Bein im Knast" so tief legt, müsstest du mittlerweile halb Deutschland einbuchten.