Vorfreude dominiert meine aktuelle Gemütslage. Bald ist wieder Reisezeit, und wir harrten jetzt lange genug aus, um in sonnenverwöhnten Monaten durch die Gegend zu cruisen und uns unseren sehr dringenden Tapetenwechsel abzuholen. Diesmal wird es mal keine Großstadt sein wie letztes Jahr Prag; sie wollte es so. Einfach Natur, keine Menschenmassen, keine Lärmbelästigung, und wenn es nur ein paar Tage sind. Kommt mir irgendwie gelegen, dieser Ausbruch aus dem Gewohnten in etwas völlig anderes. Als Flachlandbewohner in den Alpen wandeln, darauf bin ich gespannt. Das kann Glücksgefühle wecken und die leidliche Fitness einem Outdoor-Checkup unterziehen.
Und einfach nur Landschaften als Ziel anzusteuern, kommt einem plötzlich fremdartig vor. Während viele mit ihren Gewohnheiten schwer brechen können, fühle ich mich wie ein Fisch im Wasser. Ich mag es, der Fremde zu sein. So gerät man nämlich fast immer ins Grundsätzlichste aller Lebensgefühle, die naive Erfahrung neuer Gegenden, ohne besondere Verpflichtungen, und vielleicht mag ich es sogar, ein bisschen mit den Erwartungen Einheimischer zu spielen. Das schafft man meist alleine dadurch, nicht völlig klischeebehaftet auszusehen oder sich zu verhalten. Und wenn es wirklich nur heißen mag, statt mit dem Handy mit einer Vollformat Fotos zu schießen, symbolisiert es alleine dadurch schon einen anderen Anspruch als sich nur selbst vor anderen Landschaftstapeten zu inszenieren.
Mir ist das einfach wichtig. Ich bin nicht der Mittelpunkt der Erde, die Erde ist der Mittelpunkt der Erde. Und will in diesem Punkt ein Gegengewicht zu all den selbstbezogenen, selbstoptimierten Selbstdarstellern sein, wie man sie im Influencer-Zeitalter überall wiederfindet. Zugeben werden sie es freilich nicht, aber findet man sie überall und immer auf dieselbe Weise vor einer Location drappiert – fehlt nur noch ein Produkt, das sie in die Kamera halten, danach kannst du das Schnappschussergebnis noch mit einem Logo und einem Slogan erweitern. Heute muss es nicht mal mehr der Sponsoren-Lipstick sein oder eine Startup-Energy-Drink-Marke sein, heute sind sie selbst das Produkt. Und die Submessage „Spende Geld, damit du mich auch weiter vor Naturwundern bewundern darfst“ kommt mir fast schon unheimlich grotesk vor.
Was und wie die dabei sind, ist nicht mal wichtig. Klar, es sind zuerst Globalisten, Kosmopoliten, oder wollen es zumindest welche sein, die ihre Selbstfindungsphase als Geschäftmodell entdeckt haben. Denen stehen aber noch andere Kulturkreise ihrer kurzen Bühnenshow im Weg – Reisende aus asiatischen Ländern, die ebenfalls die Bühne entern und sich in der kurzen Verweilzeit ihrer mühsam zusammengesparten Auszeit eine besondere Fremderfahrung sammeln möchten. Auch sie drappieren sich dann an vorderster Front für die beste Aussicht auf Location und sich selbst und stehen so in Konkurrenz zum Influencertum. Nur ist der Unterschied zwischen beiden größer als unseren westlichen Freizeitglobalisten bewusst ist. Asiaten, vor allem Chinesen, haben sich diese besonderen Momente unter jahrelangem Verzicht zusammengeklaubt. Geld gespart wie auch Urlaubstage, drei oder fünf Jahre lang geschuftet wie blöd, nur um sich drei, vier Wochen Europareise erlauben zu können.
Und so prallen an all den Naturwundern und besonderen Touristenhotspots zwei Wertesysteme aufeinander, die einem wie mir ständig auf die Nerven gehen. Situativ macht man erst mal keine Unterschiede, aber weiß man nur ansatzweise etwas darüber, unter welchen Kriterien beide vor mir stehen, halte ich mich bei Asiaten mit Kritik viel eher zurück. Und so muss man es leider schlucken, wenn weiter Busladungen an Asiaten die Aussichtspunkte verstopfen, und auch wenn so manche von ihnen eine Arschlochattitüde besonderer Güte an den Tag legen (indem sie sich regelrecht mit ihren angespitzten Ellenbogen in die vorderste Reihe drängeln), gibt es wie überall in der Welt solche und solche.
Mehr nerven mich allerdings eben unsere höchsteigenen Drängler:innen, weil die eben nicht von Bussen abhängig sind und die Reiseveranstalter ein straffes Programm (ab)fahren. Die können in ihrer üppigen Freizeit gerne selbst darüber entscheiden, wann sie wo sein wollen und müssen auch sicher nicht in einer, zwei, drei Stunden wieder woanders hingekarrt werden. In dieser Zeit spulen sie völlig losgelöst davon ihr Posierrepertoire herunter, während die östlichen Besucher darauf keinen Wert legen außer eine günstige Position, um dann wie auf Familienfotos üblich aufrecht in die Kamera zu lächeln. Nein, ihnen reicht das bei weitem nicht mehr, und so wird jede Session gleich zum Exklusivfotoshooting aufgebauscht – fehlte nur noch eine Zugangsschranke mit Securitypersonal, die jeden Touristen von der Szene abhält, damit sie sich auch ungestört ablichten lassen können. Ist aber nicht, also schubsen sie auch ihrerseits die Leute von sich weg.
Unter welchen Voraussetzungen sie dann die Locations für sich vereinnahmen – darüber dürften sich Asiaten wahrscheinlich lustig machen. Wie oben erwähnt, haben die sehr viel verzichtet und sich die Reise hart erarbeitet, unsere Gen-Z-Influenca-Klientel denkt hingegen, ihnen müsse das alles wie gebratene Tauben in den Mund fallen. So – nun Preisfrage. Sie ahnen es sicherlich schon. Ja, ich fühle mich tendenziell eher Asien verbunden, denn auch wir müssen uns eine gewisse Zeit lang unser Konto auffüllen und Urlaubstage vorplanen, wenn auch nicht in dem Ausmaß, drei, vier, fünf Jahre ohne Unterbrechung durchackern zu müssen. Dabei will ich deren Arbeitsmodelle sicher nicht als etwas ungemein Gutes hinstellen, weil ich es ziemlich inhuman finde, mit fünf Urlaubstagen pro Jahr abgespeist zu werden und dann noch ununterbrochen in diesem Verzichtsmodell für Xi Jingping zu rödeln. Nur gleich das andere Extrem zu wählen, wäre für mich selbst nichts Lebenswertes – und so lache auch ich mit den „Schlitzaugen“ mit, wenn unsere dekadenzinfizierte Generation den sterbenden Schwan spielt, wenn ihnen nicht jeder Wunsch von den Lippen abgelesen und umgehend erfüllt wird. Nur 30 Tage Urlaub. Addieren Sie das mal auf chinesisch. 36 000 Euro. China so: … (Mandarin-ähm)...
Sie haben bestimmt gemerkt, in welchem Zwiespalt ich stecke – auch im Urlaub. Mir ist es am liebsten, wenn niemand Obengenannter anwesend wäre. Da das aber nicht möglich ist, bleiben nur gewollt/gezwungen gute Laune oder dieselbe Ellenbogentechnik als Alternative. Ist ja nicht so, dass die ganzen Alpenkämme jetzt von Asiaten oder Influencern belagert wären, aber wir sind nicht weit von Hallstatt stationiert. Ich so auf Google Maps, Street View und Panoramabilder angeklickt, und was mir außer dem berühmten Blick auf das Örtchen so auffiel, waren Unmengen durchgeschleuster Asiaten auf der Promenade. Wusste ich so gar nicht, warum noch weniger, und dann liest man was von einer Kopie, die man in China hochgezogen hat. Und das Original trotzdem aus allen Nähten platzt.
Und mit dem Ort passiert das, was nicht nur der Massentourismus anrichtet, sondern die Influencer auch noch anrichten. Nicht nur, dass sie Orte durch ihre pure Anwesenheit verstopfen, sondern auch noch die historische Bedeutsamkeiten wie die Mystik des Augenblicks völlig ignorieren und manchmal auch mit Füßen treten. Sie selbst stehen im Mittelpunkt, nicht etwa, dass Hallstatt das weltweit älteste Bergwerk der Welt beherbergt oder dass Hobby- und Profiknipser alle Standards für ein gelungenes Foto serviert bekommen. Nein, sie klatschen sich selbst mit bequem zu erreichenden Wechselhintergründen über die Szene. Sie machen eine Selfmade-Karriere im Netz und umgehen die hohen Hürden, die Starfotografen und Modelagenturen aufgestellt haben.
Na ja, genug gemeckert. Irgendwie muss ich mich, sollten wir dort hin wollen, damit arrangieren. Völlig wurscht, ob ich das jetzt in alle Einzelheiten, Kritikpunkte und Rechtfertigungsversuche zerpflücken mag – die Vorfreude nimmt mir das nicht. Oftmals erfreut man sich nämlich dann besonders an Dingen und Orten, die man gar nicht auf dem Schirm hatte. Wir werden also auf einer Alm in einer Pension wohnen, und von da hat man schon einen Blick ins weite und mit Bergen gesäumte Tal. Schon das dürfte ausreichen, verzückt in die Landschaft zu schauen.
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