Ich denke, es ist nachvollziehbar, wenn man sich Gedanken über einen geliebten Menschen macht und wie man ihm gedenken will. Die Abwägung, Gutes oder Schlechtes über ihn zu berichten, ist ein Dilemma, dem man sich im Prozess des Schreibens oftmals aussetzt,. Aber in diesem Fall ist es allzu deutlich hervorgetreten, dass die schlechten Dinge keine aus dem Nichts aufgetauchten Eigenschaften sind, sondern nur die Konsequenz von Verwerfungen anderer Menschen und Umstände.
Ich habe das Leben seiner Eltern, also meiner Großeltern, ebenfalls in Erinnerung. Unter dem er zu leiden hatte und das auch meine Kindheit betraf. Weniger bedeutete das den Einfluss meines Großvaters, der starb, als ich gerade mal 4 Jahre alt war. Ich weiß noch, wie ich an seinem Sterbebett stand und um ihn weinte. Und wie mein Großvater versuchte, mich, trotz seiner schweren Krankheit, zu beruhigen. Mir Mut zusprach und die Ausweglosigkeit vor dem Tod betonte. Er hatte in dem Moment schon damit abgeschlossen und es akzeptiert.
Dass er meinem Vater verbat, seine Pläne eines Studiums, die er sich beruflich vorstellte, durchzusetzen, ist wiederum nur eine Konsequenz der Jahre, in denen sie ihren Alltag bestreiten mussten. In der Nachkriegszeit hatte man nicht viel, es waren Jahre des Verzichts gewesen und der Notwendigkeit, Verdienste der gesamten Familie zu hinterlassen, damit man sich etwa ein Mal in der Woche Fleisch statt nur ständig Kartoffeln leisten konnte oder auch ein warmes Bad. Also bestand auch kein Bedarf an höherer Bildung in der Familie, und diese Vorstellung der Alltagsbewältigung wurde mit autoritärer Hand eingefordert.
In dieser Hinsicht war mein Großvater nicht der Hausdrachen gewesen, sondern meine Großmutter. Inwiefern sie es bedauerte, so gewesen zu sein, weiß ich nicht. Aber sie hatte in meiner Anwesenheit kein Wort darüber verloren, ob sie jemals bereute, was sie tat. Meinen Vater ständig zu verprügeln oder auch mir gegenüber, als ich im Vorschulalter zeitweise unter ihrer Obhut stand, psychischen Druck aufzubauen. Sie durfte mich nicht schlagen, dafür hatte mein Vater mit allem Nachdruck gesorgt gehabt. Um ihrem inneren Drang nachzukommen, Autorität auszuüben, griff sie allerdings zum psychischen Mittel. In der Hinsicht war meine Großmutter undurchdringlicher gewesen, und ich kann ihr bis heute nicht verzeihen, wie sie mit meinem Vater oder mir umgegangen war.
Das ging so weit, bis ich irgendwann Angst davor hatte, weiter bei meiner Großmutter zu bleiben. Ich wurde als Ausweg in einen Kinderhort gesteckt, weil meine Eltern einfach alles dafür taten, dass es mir besser gehen sollte und arbeiteten beide Vollzeit. Und wer nur einen unakademischen Bildungsbackground vorweisen kann, musste halt ranglotzen. Als gelernter Maschinenschlosser geriet man dazu im ungünsigen Fall in das Schichtsystem, verkümmert geistig am laufenden Band und hat wohl in seiner Lebensrealität mehr damit zu tun, die ständigen Wiederholungen im Alltag zu ertragen denn sich entfalten zu können. Dazu bedeutet Schicht auch privaten Verzicht, und man belügt sich schon ein wenig damit, das alles für die Familie zu tun. Doch was ist das wert, wenn man ständig abwesend ist? Wenn die gemeinsame Zeit durch Schlaf, Erledigungen und Schicht eine räumliche wie geistige Trennung verursacht und man dies kaum gemeinsam erleben kann? Ich könnte ihm das schon vorwerfen, aber der Zweck war ein hehrer.
Ich erinnere mich noch an eine Nacht, in der sich mein Vater hatte gehen lassen und betrunken im Wohnzimmer saß. Sich Platten mit dem Kopfhörer anhörte und schief vor sich hinsummte. Ich „erwischte“ ihn dabei, weil ich selbst unterwegs gewesen war und irgendwann nachts nach Hause kam. Ich runzelte die Stirn über die schiefen Töne und sah ihn dort sitzen, in sich gekehrt, mit schweren, alkoholisierten Augen hin und her wippte und erst gar nicht bemerkte, dass ich gerade heimgekehrt war. Auch ich hatte einen im Tee, allerdings nicht so derbe wie er. Wir kamen ins Gespräch. Wie es so war beim Feiern. Ob wir Spaß hatten. Ich war natürlich etwas mundfaul, weil ich davon ausging, er würde wie üblich irgendwelchen Blödsinn brabbeln, den ich akustisch eh nicht verstand, aber an diesem Abend war er ungewöhnlich tiefsinnig gewesen und fand auch klare Worte.
Bisher war ich auch nicht erpicht gewesen, allzu viel mit meinem Papa zu reden. Die berufliche Belastung hatte dazu geführt, dass er in den Phasen unseres Zusammenseins die verlorene Zeit gewaltsam mit Erziehung und Nähe erzwingen wollte. Das bedeutete aber leider auch, dass er sich übernahm. Autoritär auf mich wirkte, mich auch unter Druck setzte. Mal schnell eine Lebensweisheit in der kurzen Zeit loswerden, auf dass ich sie ja schnell und unvermittelt verstand. Bevor er schon wieder in die nächste Schicht verschwinden musste.
Doch an diesem besagten Abend hatten wir Zeit. Nachts, mit angenehmer Musik im Hintergrund, stellte er mir plötzlich Fragen: ob ich böse auf ihn wäre. Ob ich ihn in all den Jahren vermisst hätte. Und eröffnete mir sogar noch sein für mich bis dato schwer zu durchdringendes Innenleben. Dass er es sehr bedauerte, nicht so viel Zeit mit mir verbracht zu haben. Dass er mich lieb hat. Es war ein Eingeständnis, eine Selbstoffenbarung, die ich mir immer gewünscht hatte. In dem Moment hatte er mir das erste Mal ernsthaft sein Herz geöffnet, und ich bin heute noch dankbar für diesen denkwürdigen Moment. Auch zu wissen, dass er weiß Gott nicht so geworden ist wie seine Mutter.
Ich weiß nicht mehr, ob dieser so einiges entschuldigt, was mir an seiner Art nicht gepasst hatte. Dass er sich etwa weigerte, mir wirklich zu helfen, als es mir sozial und finanziell wirklich schlecht ging. Ich kurz vor der Obdachlosigkeit stand und letztlich nur noch auf meine Mutter hoffen konnte, die eher nicht ertragen konnte, dass ich so hilflos dagestanden war und mir wenigstens ein paar Scheine zum Überleben zusteckte.
Gut, heute kann ich verstehen, was er damit bezweckt hatte. Mich selbst wieder aus der Jauchegrube befreien, so in etwa. Allerdings konnte ich die damalige, brenzlige Situation nicht mehr ohne Hilfe stemmen, was mich - ob der fehlenden monetären Möglichkeiten seitens meiner Eltern - letztlich zu meinen Schwiegereltern trieb, die mir auch prompt unter die Arme griffen. Aus heutiger Sicht weiß ich gar nicht mehr, ob man seine Weigerung pauschal gut oder schlecht finden soll – wahrscheinlich beides, auch weil es im Nachhinein eine harte Lehre für mich war, da bloß nicht mehr hineinzugeraten. Und wenn es nur eine Wegweisung war, die er mir mitgeben wollte, vergleiche ich das gerne mit den Tagen, an denen ich schwimmen und Fahrrad fahren lernte. Auch da war er zugegen – griff mir aber schnell nicht mehr physisch unter die Arme, sondern schwamm nur mit oder rief mir Ratschläge zu, wie man in die Pedale tritt. Es war schlicht Hilfe zur Selbsthilfe.
Prinzipiell hatte seine vordergründige Hartherzigkeit immer einen weichen Kern. Dass man das erst im Nachhinein erkannte, war nicht leicht. Aber man musste sich immer selbst ins Gedächtnis zurückrufen, welchen Zeiten er entstammte. Eben aus solchen, in denen Gefühle fehl am Platz waren. Die nur dem harten Alltag im Wege standen. Selbst die Wochenenden waren nicht genug, sich vom öden Alltag freizuschaufeln, auch wenn er sie nutzte, die Gedanken und die Abscheu über den nächsten Arbeitstag wenigstens in feuchtfröhlicher Gesellschaft zu betäuben.
Er ertrug es immer weniger, bis endlich der Tag X des Renteneintritts da war. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob er noch große Pläne hatte, aber er wollte an Dingen werkeln, die er zu lange aufgeschoben hatte. Mit 60 noch Globetrotter spielen wie andere, das lag ihm nicht. Er stellte sich Tage im Schrebergarten vor, Ruhe finden, Natur. Schmetterlinge beobachten, die er so mochte. Einfache Dinge, schöne Dinge.
Doch nach kaum zwei Monaten schlug des Schicksal das erste Mal zu.
Irgendwann litt er unter kaum erträglichen Nackenschmerzen. Eine Geschichte, die man überhaupt nicht unter „falsch geschlafen“ einordnen konnte – man sah, dass es ernst war. Danach ging es Schlag auf Schlag. Arzt, Krankenhaus, Diagnose. Hirnhautentzündung. Sofortige Einweisung. Versuch einer Medikation. Man flößte ihm allerlei Antibiotika ein, aber nichts half. Im Gegenteil. Plötzlich schwollen seine Knöchel an. Er wird durchleuchtet. Die Herzklappen wurden angefressen. Not-OP. Und davon gleich zwei. Unendliche Stunden des Bangens und Hoffens. Nah-Tod-Erfahrung. Er stand auf der Kippe.
Und doch – er überlebte. Und schon nach den ersten Tagen, nachdem er aus dem künstlichen Koma erwachte, schöpfte ich neuen Mut. Er war der Kämpfer, der er immer vorgab zu sein. Er kam schnell wieder auf die Beine, pfiff auf die Empfehlungen der Ärzte, sich zu schonen und machte sich schnell wieder an den Schrebergarten, renovierte bald wieder die Wohnung. Irgendwas fiel immer an, und wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte (der alte Sturkopf), zog er es auch durch. Er strich die Wände in Rekordzeit, selbst wenn er unendlich viel Zeit dafür gehabt hätte. Rentner haben aber nie Zeit, weiß man ja.
Und immer war es das letzte Mal. Mehrere letzte Male strich er die Wohnung, baute im Garten einen Pavillon aus Stahlträgern und Holzdach; es musste schon etwas Massives sein und kein Billigkauf, der bei einem lauen Lüftchen zusammenkracht. Und auch mehrere letzte Autos. Irgendwann hatte es sich bei ihm so eingebürgert, unbedingt ein neues Auto haben zu wollen. Werkzeug ebenso. Da ließ er sich gerne mal gehen und verprasste dafür seine Rente. Es sollte ihm vergönnt sein, es war ja im Grunde ein zweites Leben, das er noch führen durfte. Ich persönlich hätte ihm nur etwas mehr gewünscht, Reisen etwa – dagegen meldete er jedoch Bedenken an, weil seine Routineuntersuchungen und die Medikation immer akkurat ausgeführt werden musste. Und da traute er keinem anderen Krankenhaus über den Weg, das hinzubekommen. Als ob das so essentiell gewesen wäre, wenn er im Ausland mal Bedarf an einem Krankenhaus gehabt hätte...
Ich verstand es nicht, aber auch davon ließ er sich nicht abbringen. Ich fand es schade, dass er sich so in den Schonmodus versetzte, zuhause jedoch im Akkord Wände strich und Pavillons baute. My home is my castle. Außer ab und zu nach Luxemburg zu fahren, um sich mit Tabak und Kaffee einzudecken, war da nichts mehr mit Unternehmungen. Daheim sitzen, im Garten sitzen, morgens beim Bäcker sitzen. Und letztes ging dann wegen Corona nicht mal mehr. Das schien ihn sehr zu fuchsen. Das handhabte er dann genauso wie ich und suchte nach Auswegen im alten Normal, soweit es noch möglich war. Er war halt Rentner, die betraf es nicht so extrem wie das arbeitende Volk. Trotzdem schien er sich immer weiter zuhause einzuigeln.
Doch hatte ihn das letztlich doch betroffen. Ärzte. Praxen. Krankenhäuser. Die fuhren das volle Programm, was ihn furchtbar störte. Er hatte keine Lust darauf, im Freien anzustehen oder aufwändig einen Arzt zu suchen, wenn mal was anfiele. Manche hatten wohl auch keine Lust auf ihn, als bei ihm der chronische Husten begann und er „rote Sprenkel“ im Sputum entdeckte. Da hätte er einerseits mal etwas ellenbogenmäßiger darauf beharren sollen, dass man ihn untersucht. Trotzdem dauerte es ewig, bis da was passierte, man von ihm eine Röntgenaufnahme machte und das als Wasser in der Lunge diagnostizierte. Irgendwas war da, aber das kriegt man mal schnell mit Tabletten weg. Dachte der Arzt zumindest. Das wurde nur immer schlimmer, bis er sich vom Husten die Rippen brach. Ab diesem Moment ging es Schlag auf Schlag, und er hatte ziemliche Schmerzen. Erstes Krankenhaus erkannte noch die gebrochenen Rippen, aber sonst nichts. Die Schmerzen wurden schlimmer, also ab ins nächste Krankenhaus. Die behielten ihn gar eine Nacht dort, aber erkannten zuerst auch nichts.
Zuerst flöteten sie ihm noch herüber, dass er nach Hause darf, nuschelten ihm allerdings im Nebensatz, mehr oder weniger in der Türschwelle noch entgegen, dass er Lungenkrebs hat. „Ach ja, übrigens...“, so muss das gelaufen sein. Da wird mir schlecht, wie wenig Feingefühl bei den Halbgöttern in Weiß vorhanden sein kann. Ich glaube, dieser Mangel an Feingefühl muss auch meinen Vater völlig überrumpelt haben. Auch wenn er eine Ahnung davon gehabt haben musste, was ihn befallen hatte, ist es die Art und Weise, wie man gerade von Ärzten in letzter Zeit behandelt wird (sei es körperlich oder psychisch), die einen sprachlos macht oder in solchen Momenten zu dem Schluss führt, dass die Menschheit verrückt geworden sein musste.
Es muss noch härter auf ihn eingeprügelt haben als jeder Schlag, der ihn damals von seiner Mutter traf. Die letzten Monate habe ich schon an anderer Stelle grob beschrieben, also erspare ich mir die Wiederholungen. In dieser Zeit lag er noch in Heidelberg im Krankenhaus, die ihn aufgrund seiner Herzgeschichte nur zaghaft behandelten. Dafür habe ich Verständnis, weil das schnell zu Komplikationen führen kann, wenn jemand geschwächt ist und durch Herztabletten nicht normal „läuft“. Sie versuchten es noch mit einer „Chemo light“, doch die schlug nicht mehr an. Und so entließen sie ihn schließlich nach Hause – dort hin, wohin er sich am meisten sehnte. My home is my castle. Es dauerte keine Woche mehr, da kämpfte er seinen letzten Kampf. Der alte Kämpfer. Ich konnte noch mit ihm am 1. Mai reden, am Tag der Arbeit. Er wirkte sehr erfreut darüber. Und das erfreute mich.
Er verstarb am 4. Mai 2023.
Als ich ihn an diesem Abend im Bett liegen sah, hatte das etwas Würdevolles. Horizontal aufrecht, sozusagen. Dass ihm wenigstens diese letzte Würde zuteil wurde, die ihm das harte, manchmal herzlose Leben manchmal nicht vergönnte. Die er sich gar manchmal selbst nicht gönnte. Und als ich ihn so daliegen sah, gab ich ihm unter Tränen noch das einzige mit, das ich ihm in Lebzeiten nicht mehr sagte: „Egal, was war – ich hab dich lieb.“
Kommentar schreiben
Fluchtwagenfahrer (Freitag, 12 Mai 2023 07:32)
Hallo,
ich möchte mein tiefst empfundenes Beileid aussprechen. War leider selbst, viel zu früh, in der selbigen Situation. Trotzdem beneide ich Dich um diese eine Nacht, bei der die Hülle fiel.
Polemicer (Samstag, 13 Mai 2023 08:11)
@Fluchtwagenfahrer
Vielen Dank für deine Anteilnahme. Es tut mir leid, dass das bei dir nicht eingetreten ist. Kann mir gut vorstellen, dass diese ungeklärte Sache jetzt einfach hängenbleibt und schmerzt, wenn es so vor allem wichtig für jemanden ist.
Holgi (Montag, 15 Mai 2023 07:21)
Wenn es dann passiert ist es doch anders, als man gedacht hat. Nun hat dich die traurige Erfahrung auch eingeholt: Herzliches Beileid.
Polemicer (Donnerstag, 18 Mai 2023 13:30)
@Holgi
Vielen Dank für deine Anteilnahme. Ja, leider. Aber ich bin irgendwie auch beruhigt, dass diese abschließende Leiden nicht zu lange dauerte. Für alle Beteiligten.