Ich wollte erst nichts darüber sagen geschweige denn darüber schreiben. Es ginge niemanden etwas an, was privat passiert, dachte ich. Ob das nur falscher Stolz ist, will ich gar nicht zum Thema machen, aber wenn „zuhause“ das Schicksal zuschlägt, bist du in einem gedanklichen Zwiespalt, der Dringlichkeit des Darüber-Redens gar nicht, nur privat oder dann doch öffentlich nachzukommen.
Das lag auch an der Sachlage, die sich in der Situation meines Vaters widerspiegelte – dabei war noch so vieles im Unklaren, dass ich mich nicht – wie bei mir üblich – in Spekulationen verrennen wollte und die Hälfte der Texte auf Wahrscheinlichkeiten und Nebelstocherei basieren. Ich wollte zuerst Gewissheiten, die man im Verarbeitungsprozess ohne Umschweife in knackige Worte kleiden kann, und bei etwas so Wichtigem wie die letzte Lebenszeit will ich mich nicht in irrationalen Hoffnungen verlieren. Mir ist es lieber, in einer klaren Situation, so schmerzhaft sie auch sein mag, Greifbares in den Händen zu halten.
Werte des Todes
Nun ist dieser wichtige Moment eingetreten, und letztlich schweifen die Gedanken um die nächste Zeit. Ja, mein Vater wird an seiner Krankheit versterben. Es ist eine erschütternde Gewissheit, nun ist es nur noch der Zeitpunkt, den man noch beeinflussen kann, weil der Krebs schon gestreut hat und das die Heilungschancen erfahrungsgemäß gen Null tendieren lässt. Fragen türmen sich auf – wie lange dauert es bis zum Tag X? Was kann man tun, um die Zeit bis dahin noch sinnvoll zu füllen? Will er denn noch etwas daraus machen so wie ich es ihm erdacht hatte? Letztlich ist es seine eigene Entscheidung, ob er der Restzeit noch etwas Schönes abgewinnen will oder ob er sich nun katzenartig in die Ecke verzieht und nur noch auf den Eintritt des Todes wartet.
Um das schwierige Thema etwas offener angehen zu können, müsste man wahrscheinlich zuerst den Umgang von Völkern mit dem Tod behandeln. Ich bin zwar nicht sehr bewandert darin, aber ich habe ein paar Beispiele im Kopf, die mir Hoffnungen machen, selbst mit dieser erdrückenden Last besser umzugehen. Ich denke dabei an die fast schon zu Attraktionen hochstilisierten Begräbnisrituale wie in New Orleans, wo die schwarze Community in „Jazz-Begräbnissen“ zuerst den Sarg zu Grabe tragen und vom Trauermodus in den Frohsinn wechseln. Das wäre so ein Ritual, das ich mir wünschen würde, oder dass es einfach klammheimlich passiert – irgendwie bin ich weg von der Vorstellung, Personen, denen ich noch wichtig wäre, angeblich Schmerz durch mein Ableben anzutun und die sich darüber hinaus in eine zu lange Phase der Trauer begeben, ohne dabei an ihr eigenes, erfüllendes Leben zu denken. Es mag Ausnahmen geben, aber wenn man quasi unverschuldet verstirbt, sind Schuldfragen einfach blödsinnig.
Leider wird allzu oft auf sich selbst eingedroschen, und der Traum vom ewigen Leben ist in dieser technisierten Wohlstandswelt gerne verbreitet. Das Unvermeidliche künstlich nach hinten zu verschieben oder sich gleich der monströsen Vorstellung ergeben, man könne unsterblich werden, hält sich hartnäckig und wird auch immer präsenter. Technik und Medizin sind mit jedem neuen Mittelchen ein Schritt in das Dogma, Kontrolle und Macht über die Natur auszuüben – dieser Gottkomplex des Wertewestens vergisst allerdings allzu häufig, dass uns der Tod zu abertausenden Gelegenheiten ereilt, Tag für Tag. Schon von dieser Perspektive aus verstehe ich nicht, wie man sich als Spezies derart aufplustern muss, nur weil wir die einzige sind, die sich Labore zur Medizinerforschung schafft.
Meta zu real
Dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, „meta“ zu denken und zu gestalten, verkompliziert die Sache mit dem Leben um ein Vielfaches. Zur Trauer sind auch Tiere fähig, aber sie forschen nicht, um ihre Trauer in wildem Aktivismus stumm zu schalten und den Tod zu überlisten. Im schlimmsten Fall ist das Leben einer Gattung mit dem Verlust anderer jäh zu Ende, bis auch bei ihr der physische Tod es beendet. Die Macht über den Tod sehe ich in solchen Fällen oft in dem Willen, das Leben noch leben zu wollen. Man kann etwa darüber sinnieren, wie ein langjährig und sich liebendes Ehepaar ab- und anhängig von- und zueinander ist, und verstirbt ein Teil, stirbt auch nicht selten bald das andere kurze Zeit später, weil er den eigenen Lebenswert mit dem Partner verband. Ferner ist der Wille des Lebens oft mit solchen Sinnfragen verbunden, für was man denn leben will. Fehlt diese Orientierung, kann es auch schnell zu Ende sein – auch weil man das selbst so entschieden hat.
Im Fall meines Vaters hält wohl hauptsächlich die Pflicht seinen Kampf aufrecht, meiner Mutter den Schmerz ersparen zu wollen. Jetzt durchkreuzt allerdings der Krebs dieses Anliegen, und ich bemerke, wie das unvermeidliche Scheitern dieses selbst auferlegten Anliegens über ihn hereinstürzt. Eigentlich eine selbstlose wie bewundernswerte Eigenschaft, die er da hervorbringt, aber sie zehrt auffällig an seinen Kräften, seit er weiß, was da in ihm wuchert. Es scheint, dass das ausweglose Scheitern seines Pflichtbewusstseins ihn mehr Kraft kostet als das böse Ding in der kurzen Zeit hätte anrichten können.
Ich hätte mir nicht vorstellen können, wie sehr sich ein Mensch in einer kurzen Zeit seit Beginn des Jahres verändern kann. Optisch wie psychisch. Und ich bezeuge im Grunde nur die Konsequenz dieses Wandels durch seinen eigenen Umgang mit der Schockdiagnose. Vielleicht sind es auch andere Gründe, die das beschleunigt haben, und hier kommt wieder der Aspekt des Verlustes geliebter Menschen hinzu – vor einem Jahr verstarb nach relativ kurzer Krebserkrankung sein Bruder. Der war für ihn ein Anker in einer Familie, von der mein Vater lieber Abstand nimmt, und als der nicht mehr da war, ging es auch mit ihm auffällig bergab. Er gibt es zwar nicht zu, aber ich glaube zu wissen, dass ihm da etwas im Geiste wegbrach, um den Willen zur Lebensfähigkeit synchron mit dem heimlich wuchernden Tumor anzukratzen. Und die Liebe zu seiner Frau konnte das nicht mehr kitten – was nicht heißen soll, dass die nicht vorhanden wäre oder genüge. Irgendwann ist der Scheitelpunkt erreicht, dass der Fall unweigerlich seinen Lauf nimmt.
Personal Corona
Wie das in der Gesellschaft fruchtet, konnte man jüngst bei Corona beobachten. Ich muss schon wieder das Thema anschneiden, aber das hat im Falle meines Vaters etwas damit zu tun. Leider lief es, auch unter dem Eindruck der Wesensveränderung von Fachärzten, noch zäher ab, einen Termin zu bekommen, der keine Wartezeit von mehreren Wochen, wenn nicht Monaten, zur Folge hatte. Als er auffällt oft hustete und irgendwann Blut im Sputum hatte, wäre es eigentlich Zeit gewesen, schnell zu handeln und auch zu therapieren. Da meine Eltern ungeimpft sind und sich diesem Wahn nicht ergeben haben, lag es einerseits an Kurpfuscherei sowie dem Unwillen des Arztes und in der Konsequenz der enttäuschten Sturheit meines Vaters, dass das Mistding viel zu lange unbehelligt sprießen konnte. Sie schauten hin, aber sahen nicht. Dazu kam ein Schippchen Selbstbetrug obendrauf, weil er sich ständig einredete, es wäre etwas Harmloses, leicht zu Heilendes. Ob das nur Sprüche seiner selbst willen waren oder die Ausweichmethode durch den Frust über ein Maßnahmen- und Einlassbeschränkungsregime, wird wohl nie wirklich aufgeklärt werden.
Häufig las und hörte man davon, dass Menschen aus Angst vor dem Virus einen Arztbesuch vermieden. Von „Schwurblern“ höre man nur etwas von einer „irrationalen Angst vor dem Impfstoff“, was in diesen Worten auch implizierte, die wären zuweilen kerngesund, würden sonst keine Krankheiten als Corona erleiden müssen, und das wäre bei Infektion so schlimm, dass man selbst Krebs im öffentlichen Bewusstsein mal in die hinteren Ränge medizinischer Dringlichkeit verdrängen könnte. Dabei war das Problem nie verschwunden, nur unsere Reaktionsgepflogenheiten, bei jedem Anzeichen zum Arzt zu rennen, wurden durch, wie auch immer, gelagerte Ängste lahmgelegt. Man macht als kritischer Mensch so seine Erfahrungen mit Halbgöttern in weiß, wie sie sich völlig verbarrikadierten und sogar ethische wie berufsbedingte Grundsätze in diesen drei Jahren mit Füßen traten. Menschen draußen anstehen lassen, zwischen Tür und Angel unverhohlen und vor aller Patienten Nasen Impfangebote zu verbreiten (wie meiner Freundin passiert) oder Sprechzeiten einem wöchentlichen Impfmarathon zu opfern. Mein Hausarzt hat nämlich jetzt mittwochs nur noch für Impfwillige geöffnet.
Ob mein alter Herr nun über seinen Schatten hätte springen sollen oder ob man der Ärzteschaft pauschal eine Schuld ausstellen darf, ist in diesem Einzelfall weniger von Belang. Übergreifend war meiner Auffassung nach die Einschränkungspolitik definitiv ein Auslöser dafür, sture und auch ängstliche Menschen davon abzuhalten, zu reagieren oder expertitiv aktiv zu werden. So kann man im Groben schon behaupten, dass die Krankheit, als indirekte Folge staatlicher Regulierungswut, ausgebrochen und gewuchert ist.
Eine Frage der Zeit
Stand heute gibt es fast täglich neue Dämpfer zu erfahren, sei es durch negative Prognosen der Ärzte, die ihn betreuen, oder durch sein Verhalten selbst. Noch im März war er einigermaßen klar im Kopf gewesen – den Umständen entsprechend, würde ich sagen. Heute erkenne ich ihn kaum noch wieder. Er ist völlig verwirrt, und je länger wegen Folgeerkrankungen im Krankenhaus verbleiben muss, um so mehr baut er körperlich wie seelisch ab. Völlig abgemagert und redet unzusammenhängend.
Ich kann schlecht einschätzen, ob ihn der Krebs nun innerlich auffrisst oder ein etwaiger Krankenhauskoller für den geistigen Zerfall sorgt. Oder beides. Ich mache mir keine Hoffnungen mehr, dass ihm im Rest der Zeit, die ihm noch bleibt, etwas Lebens- und Erfahrungswertes beschert werden wird. Momentan ist sein Zustand nicht nur für ihn ein finaler Kampf, mit sich selbst, der Krankheit und den widrigen Umständen, sondern auch für uns als Angehörige. Man weiß in solchen Situation nicht, wie man Menschen noch erreichen kann, wenn sie in ihrer inneren Zerrissenheit das verbliebene Leben, das Gefühl von Zufriedenheit und Ergriffenheit etwa, völlig ausklammern.
Er und wir hatten diesen Todeskampf schon mal ausgestanden. Als ihn eine Hirnhautentzündung befiel. Ins Herz wanderte, Herzklappen wie zerbrechliches Material in rauen Händen auflöste. Was zwei sehr schwierige Operationen zur Folge hatte. Nahtoderfahrung, künstliches Koma, Erwachen. Diesen Todeskampf hatten wir gemeinsam gewonnen, und es bescherte ihm und uns bis heute dreizehn weitere Lebensjahre. Doch heute haben wir die Gewissheit, dass er diesen zweiten Kampf verlieren wird. Es ist nur noch eine Frage der Zeit...
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epikur (ZG Blog) (Donnerstag, 27 April 2023 14:03)
Mein herzliches Beileid!
Ich finde es wichtig, noch mal alles zu sagen, was man vielleicht immer sagen wollte. "Offene Baustellen" und "Offene Konflikte" zu lösen, damit alle Seiten ohne Groll im Herzen "gehen" können.
Polemicer (Samstag, 29 April 2023 06:27)
@epikur
Vielen Dank für deine Anteilnahme!
Das mit den Baustellen wäre eher eine Sache, die sich wohl nicht mehr auflösen würde oder was sich teils schon aufgelöst hat. Erstens wegen seines Zustandes, wo sowas vielleicht für die Restzeit nicht förderlich wäre (bin da akut zwiegespalten), zweitens weil die Verhältnisse sich in der Vergangenheit schon alleine dadurch geklärt hatten, dass ich Verständnis für seine Lebenssituation habe und er sich dadurch gar schon entschuldigt hat (wegen der Arbeit zu wenig Zeit mit mir verbracht zu haben etwa). Oder auch immer das Beste für mich gewollt zu haben und das immer mit irgendwelchen Besserwisser-Phrasen verkündet zu haben. Irgendwann ist man selbst an dem Punkt, auf Durchzug zu schalten. In vielerlei Hinsicht hat er schon vorgelebt und mir gezeigt, wie ich es nicht tun würde. Solche Dinge. Er tut es in lichten Moment ja immer noch.
Holgi (Samstag, 29 April 2023 09:47)
Mein Vater ist vor genau einer Woche gestorben. Davor zwei Wochen rapiden Verfalls sowohl körperlich als auch geistig.
Ich fürchte, er glaubte bis zum Schluss nicht, dass er stirbt.
Sollte ich in die Situation geraten, werde ich alles versuchen, in einem Hospiz zu sterben.
Polemicer (Samstag, 29 April 2023 19:59)
@Holgi
Mein herzliches Beileid.