Wann wird man eigentlich demokratiemüde? Ich habe ein wenig den Eindruck, extern und bei mir selbst, dass alle vor dem großen Sonntagsknall in einen Kaninchen-vor-der-Schlange-Modus geschaltet haben. Man hat sich ja monatelang, gar jahrelang den Mund fusselig geredet, Erniedrigungen ertragen müssen und hat viel zu lange unter Dauerstrom gestanden, dass eine Gefühlsauszeit außer Erschöpfung und müdes Abwinken unbedingt nötig scheint.
Man übt sich plötzlich in prokrastinatorischem Rückzug, sagt der Welt und dem Gespinne da draußen kurz Goodbye. Das könnte sich vielleicht ab Sonntag/Montag ändern, wenn die Wahlergebnisse da sind und entsprechend dem, wie die ausgehen. Es ist jetzt kaum der Knaller schlechthin zu erwarten, so oft, wie die jetzt Umfragen bemühten, um ja nicht das Stimmungsbild aus den Augen zu verlieren. Die Unserendemokraten wollen dann doch noch den Super-GAU vermeiden, auch wenn ihnen 20 % blau natürlich so gar nicht schmeckt.
Nun flennen sie uns noch weiter die Ohren voll, wählen zu gehen. Natürlich werde ich das tun, aber sicher werde ich nichts wählen, was sie sich vorstellen. Ich werde nicht mit diesem Hochgefühl zur Urne schreiten, demokratisch etwas reißen zu können, weil ich zu der Minderheit gehöre, die etwas gegen die Weiterführung der Formaldemokratie anno 2025 hat. Es geht um ein paar Gewichtungen in der Sitzverteilung, ein paar halbe Prozente und keinen echten Umbruch. Es wird nur darum gehen, ob die Unseredemokraten etwas beruhigter in die nächste Legislaturperiode gehen werden oder ob sie mit ein paar mehr unliebigen Parteien den Bundestagssaal teilen und sich in selbst geschürten Ängsten Sicherheitskräfte leisten müssen.
Und ich bin sicher nicht gewillt, einer Partei die Stimme zu geben, die mir selbst das Schlimmste abverlangte und sich bis heute nicht eingestehen will, Fehler gemacht zu haben. Wenn Politiker heute noch so reden wie 2020 geschweige denn 2015, Geschichte ignorieren und revisionieren, Meinungen wechseln wie andere Unterhosen, mich direkt oder indirekt als Staatsfeind betrachten, dann können sie sich IhreDemokratie sonstwohin stecken. Ich habe keine Lust mehr und die Schnauze voll, mich dem selbsternannten und selbstdefinierten Demokratieduktus zu fügen. Oder noch schlimmer: mir Gedanken darüber zu machen, ob an deren Anschuldigungen etwas dran sein könnte.
Natürlich kann man sich ein bisschen selbst dafür geißeln, das Deutschtümeln zu kritisieren und dann doch so zu reagieren. Das Miesepetrige, Besserwisserische, Pedantische steckt in uns allen, mehr oder weniger. Aber wir haben noch dieses Mü obendrauf, und es ist völlig egal, ob da links, rechts, progressiv oder alte Männer draufsteht – niemand ist tendenziell weltoffener oder großzügiger. Das kann man nur an Einzelnen festmachen, nicht an Gruppen oder der schlichten Behauptung, etwas zu sein. Vielleicht sind das die „richtigen“ Voraussetzungen, die uns schon mehrmals einen dubiosen bis ekelerregenden Ruf in der Welt einbrachten. Und wir blähten uns zuvor noch auf, der Welt die Welt erklären zu wollen. Ähnlich, wie uns Fremde heute weismachen wollen, wie wir politisch stünden, weil wir mal eine Meinung zu einer beliebigen Sachlage abgegeben haben.
Nur wie wir uns in der Welt aufspielen, wirkt in ungefähr so wie einen Obdachlosen zum Leitenden einer Modenschau ernennen würden. Wir sind wohl eher ein Regime der Ahnungslosen geworden, das jedoch meint, es besser zu wissen. Wir sind nur noch die Auswendiglerner und Nixversteher. Wir lassen uns treiben von Dopaminschüben, Kurzzeitgeilheit, Erregungen, positiv wie negativ, Wir leben mit einer Welt, als hätten wir sie in zwei Zeitalter unterteilt: Das Heute und alles von vor drei Wochen. Unsere Denk- und Gedächtnisfähigkeit ist so dermaßen verkümmert, dass wir uns an ein Onlineleben assimiliert haben, das nur in diesen Blickmomenten funktioniert. Man kann schon froh sein, wenn wir uns in diesem Gefühlsbombardement noch an Dinge von vor drei Wochen erinnern können.
Das ist sicher kein nur deutsches Problem. Aber wir kultivieren es mit unseren Mentalitätsmerkmalen mal wieder besonders stark und pedantisieren es zusätzlich ins Totalitäre hinüber. Es kann sein, dass wir immer nur die Nachzügler und Spätentwickler sind, die mit einer Verzögerung von zwei bis fünf Jahren Tendenzen, die schon im Ausland zu beobachten waren, genauso durch- und mitmachen. Aber wir setzen dem regelmäßig noch eins drauf. Wir wollen nichts Halbgares, wenn es moralisch Bedarf gibt, wir wollen es einfach nur richtig machen und merken schnell nicht mehr, wann wir von guten Ansätzen zu schlechten Angewohnheiten übergehen.
Wenn das politische Dimensionen erreicht, wird es schnell zur Ideologie. Und Ideologie wird schnell zur Manie. Und in der ist für Pluralismus schnell kein Platz mehr. Das hatte sich in der Geschichte, und gerade im Industriezeitalter, schon mehrmals in Angstregimen manifestiert. Sie sagen heute „Nie wieder ist jetzt“ und machen daraus und gerade damit ein „Schon wieder ist jetzt“. Sie mögen sich gegen Rassismus aufstellen, aber ängstigen sich und andere mit anderen, geistgleichen Feindbildern. Es ist somit völlig unwichtig, ob sie aufrichtig antirassistisch sind, wenn sie andere zu Ausgestoßenen ernennen und nur mit anderer Motivation einen Weltherrschaftsanspruch anmelden.
Offenbar ist es wieder so weit gediehen. Die moralische Überhöhung hat wieder Macht über sie erlangt, und ich mache keine Unterschiede mehr, ob sie für das Klima und gegen die Klimaleugner, für den Gesundheitsschutz und gegen die Coronaleugner, für die Ukraine und gegen Russland und deren Versteher vorgehen und sich gleichzeitig als antirassistisch und empathisch etikettieren. Man müsste alles einzeln wie auch im Gesamten, innen- wie außenpolitisch, aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Was aber schlicht im Internetzeitalter kaum noch möglich ist. Und doch kann man es auf Weniges herunterbrechen: Sie haben Geschmack an repressiven Mitteln gefunden, und sie nutzen sie zu jeder Gelegenheit, um ihr Vormachtsstellung schnell und nachwirkend zu sichern.
Manchmal wünsche ich mir die alten Zeiten zurück, als noch die Mentalität trotz aller kritischen Weltgeschehnisse positiv gestimmt war. Das bedeutete auch ein gewisses Maß an gleichzeitiger Zurückhaltung wie auch Selbstbewusstsein, wo man bemerkte, dass die innere Ruhe und nicht ständig der prüfende Blick nach außen unser Leben bestimmte. Heute sind wir das komplette Gegenteil, und das lässt mich ähnlich umschwenken, in Angst, Misstrauen und sozial unsicheren Zeiten meinen Lebensalltag gestalten zu müssen. Es wirkt alles so ausweglos, müßig, unaufrichtig, selektiv zu meinen Ungunsten. Man wird dadurch immer mürrischer, zynischer, müder, abweisender. Man zieht sich in dieser Ohnmacht zurück, scheißt auf alle anderen, verbirgt die letzten Hoffnungen bei sich selbst und erwartet gar nichts mehr, weil man eigentlich nur noch enttäuscht wird.
Es macht keinen Spaß mehr, die Schein-Demokratie in seiner jetzigen Form weiter erhalten zu wollen. Und trotzdem werde ich zur Urne schreiten und meinen Zettel einwerfen. Ich sehe das nicht als Bürgerpflicht als Teil eines Ganzen mehr an, sondern lediglich als eine Selbstreinwaschung. Mein Kreuz ist dann mehr oder weniger die Läuterung von Schuld, die uns bald wieder auflasten könnte. Und ich bei Bedarf sagen kann: „Ich habe die nicht gewählt.“. Zu mehr sehe ich mich nicht fähig, noch etwas für meine und die Freiheit aller beisteuern zu können. Vor allem, wenn sich Menschen dieser Freiheit selbst berauben und sie anderen auch noch wegnehmen wollen. Die sind dann nicht mehr demokratiemüde, sondern demokratieunwillig, auch wenn sie etwas anderes behaupten.
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epikur (ZG Blog) (Sonntag, 23 Februar 2025 22:00)
Die AfD hat wohl rund 2 Millionen Nichtwähler mobilisiert, also Menschen für die Demokratie begeistert, weil "wählen gehen" ist doch Demokratie? Oder nur dann, wenn man auch die "Richtigen wählt"?
Laut dem Institut infratest dimap lag die Wahlbeteiligung bei 84 Prozent und wäre damit die höchste seit 1987. Auch das könnte man als das Gegenteil von Politikverdrossenheit und als aktive Demokratie-Beteiligung werten, oder?
Oder ist "Demokratie" eben nur dann, wenn die Mitte-Mainstream-Soße bestätigt wird?
Mutant77 (Montag, 24 Februar 2025 12:34)
Ich hab gestern schön ein paar Technik YT-Videos geguckt und dann auf Dmax und HipTrips ein nette Dokus.
Heute morgen kamen auf ZDF-Info Reportagen über die Rüstung der Russen. Habe dann kurz mit einem Kumpel telefoniert. Der mir ein paar Eckdaten genannt hat, aber ich wollte nicht weiter über die Wahl reden, weil ich außer der ersten Prognose nichts weiß.
Ich kenne bis jetzt noch nicht das Ergebnis. Interessiert mich nicht (auch wenn ich brav meine Stimme abgegeben habe, aber in meiner langjährigen Wahlkarriere hat meine Wahl noch niemals irgendetwas bewirkt und ich war froh, wenn die Partei über 5% kam, was sie diesmal anscheinend nicht geglückt ist. Schade, aber das Merz Kanzler wird war eh vorher klar)