Die Welt ist manchmal anstrengend. Na ja, was heißt „die Welt“? Man muss schon konkreter werden, weil sie für sich genommen, landschaftsmäßig oder kulturell, bereichernd ist. Nur wenn man sich ins Denkgetümmel der heutigen Zivilisation wagt, wird es zuweilen tatsächlich anstrengend. Es ist der menschgemachte Mentalitätsklimawandel, der geschehen ist, demografisch, gelebter Wohlstandsverlust, alten Zeiten hinterher zu jammern oder sich über schlimmer gewordene Ellenbogenraser im Straßenverkehr zu beschweren.
Gefühlt ist alles schlimmer geworden – oder ist es wirklich so schlimm? In Zahlen, Daten, Fakten gegossen lässt es nur einen Schluss zu: Ja, es geht abwärts. Das geht schon viel länger vonstatten, aber war es eine geflattende Curve gewesen, die uns noch lange nicht dazu brachte, auf die Barrikaden zu gehen. War da noch was mit Euroumstellung? Finanz-/Immobilienkrise? Atomkraft? Flüchtlinge? Rechtsruck? Alles so halb und hintereinander geschehen, und viele (oder nur die Lauten, die wie Viele wirkten?) sahen darin noch kein Problem. Viel Puffer, viel Zustimmung, viel „das werden wir schon deichseln“.
Immer wichtiger schien auch die Gefühligkeit geworden. Zu viele Emotionen, die uns leiteten; ein Wertegeschrei, das uns irgendwann entweder auf die Nerven ging oder in seiner Bedeutung beliebig und effektlos wurde. Sie dachten, man müsse es nur oft genug wiederholen, dann würde es auch glaubwürdiger werden. Nur haben sie übersehen, dass eine ständige Wiederholung eher das Gegenteil erreicht. Wenn die zu Erreichenden im Geschrei keinen Wert (mehr) sehen, geht Aktionismus mit der Wiederholung in repressives Verhalten über. Oft mutmaßte man, ob die, die sich dem verweigerten, die Dummen wären. Nur stur und sehr schlicht auf kindisches „Anti“ setzten – nur irgendwann erkennt man, dass eben ZDF (Zahlen-Daten-Fakten) die Aufsässigkeit mehr als rechtfertigen. Gefühle haben dagegen einfach keine nachhaltige Chance, außer vielleicht via Verschleierung die Bedeutung von Unfaktischem künstlich zu erhöhen und zu strecken.
Und bis grob 2020 dachten wir noch, dass jedes Einzelthema, das es zu beackern galt, etwas Gefühligkeit gebrauchen könnte. Und neben weniger Geld im Säckel oder völlig unwirksamen Realo-Thematisierungen ging es ja in der Flüchtlingskrise derart emotional drunter und drüber, dass es fast unerträglich wurde. Die Wohlstandsstaaten hatten nicht nur in Wellen angeschwemmter Leiber viel zu schlucken, sondern auch eine mannigfaltige Ausbreitung pseudohumanistischer, selektiver Pro- und Contra-Schlachten zu erdulden. Die Flüchtlingskrise war in naher Vergangenheit der größte GAU politischen Streitens. Die AfD kam dann als viel zu großer Klumpen aus der Abfallrhetorik unten raus, wurde zum 10%-Phänomen auf Dauer, und so standen alle da wie Ochs vorm Berg. Wie kriegt man das jetzt weg?
Kaum etwas half. Okay, man hätte ja auch mal auf andere hören können, die meinten, sich die realpolitische Ausschussware endlich wieder ins Programm zu nehmen. Taten sie aber nicht, bauten sich dagegen eine Brandmauer und dachten, wenn man sie nicht sieht und draußen stehen lässt, würde sie auch irgendwann von selbst verschwinden. Passierte aber nicht. Die hatten Geduld. Und Geduld zahlt sich oft mehr aus als Gekreische und Übers-Knie-brechen.
Dieser Brandmauerkram jährt sich jetzt zum zehnten (manche meinen seit 2013) Mal. Und immer noch campiert die AfD hinter der Brandmauer, profitiert vom Unwillen der Realpolitikgestaltung. Fast so, als würde man alles, was sie in ihrem Festungsalltag als unnötig erachten, über die Mauer werfen. Nicht nur Fäkalien und Müll, sondern echte Themenschätze, die in der Wegwerfgesellschaft nur nutzlos wurden, weil die kleinen Festungskinder schnell gelangweilt sind oder sich daran ekeln oder was auch immer, um einen Mehrwert darin zu erkennen. Entweder Schmuddelkram oder die Fidget Spinner unter den „Progressiv“politikthemen.
Den größten Wurf über die Brandmauer haben sie sich dann mit Corona erlaubt. Den Kleinkram haben sie schon genügend entrümpelt, und mit Corona stand danach plötzlich etwas Größeres im Festungshof. Also eine Art Lackmustest für die schon angekratzte Stabilität der Demokratie, und vielleicht auch ein Testobjekt, ob man pfleglich damit umginge. Es ist nicht so, dass vorherige Themen eine fundamentale Bedrohung für das Staatssystem bedeutete. Es wurde zwar kontroverser gestritten, weil es zuweilen grundsätzlicher wurde, doch sind das auch reale Auswirkungen sozialmedialer Verbreitungsmöglichkeiten. Den Stresstest hatten wir noch bis 2020 ausgehalten – doch dann zog ein Virus umher, das in seinem (herbeikonstruierten) Bedrohungspotenzial quasiapokalyptische Befürchtungen nährte. Ergo weit mehr bedeutete als Flüchtlingswellen und auch nicht ausreichend global-bedeutend aufgebauschte Kontroversen. Das Coronavirus und Zombiefilme oder irgendwas mit Menschheitsausrottung als Allegorie – da ging plötzlich was. All-In.
Und plötzlich hatte man dazu etwas, in der die Simplifizierung von Kontroversen nicht nur im Linksaktivismus sehr viel mehr an Relevanz gewann. Damit aber auch die eigene Paranoia, wahlweise vor dem Virus wie auch Nazi-Revival-Gedanken. Irgendwie bezeichnend, wie Corona und Nazis als diffuse Bedrohung gleichgemacht wurden. Viren sieht man sowieso mit bloßem Auge nicht, und Nazis sind auch seit der NSU-Geschichte plötzlich nicht mehr greif- wie auf den ersten Blick sichtbar gewesen. Und mit dieser Phase des Gesundheitsnotstandes hielt auch die Behauptungsökonomie Einzug in die demokratischen Strukturen.
Und so wirkte Corona nach. Nicht in nachweisbaren Sterbezahlen oder was das Virus sonst anrichten würde, wäre es so gefährlich gewesen wie behauptet. Die Coronisten müssen sich heute mit der Aussage begnügen, dass es „vor schweren Verläufen“ helfen soll, sich impfen zu lassen, ignorieren aber auch gleichzeitig bis heute die Nebenwirkungen in diesem ignoranten Unwillen, die Kosten-Nutzen-Rechnung zu einem Ergebnis zu führen. Eher wirken die Maßnahmen gegen diesen apokalyptischen Fiebertraum nach, haben die Wirtschaft beschädigt, die Staatsverschuldung wie auch die Inflation massiv und sprunghaft erhöht oder im gesellschaftlichen Ausmaß wie auch immer geartete Angstpsychosen verstärkt. Und (um das wieder ins Gedächtnis zu rufen): die AfD hat seitdem ihre Umfragewerte verdoppeln können.
Seit Corona sind nicht nur Tendenzen weitergelaufen. Alles Bedenkliche, Schlechte, Schlimme im realen Kosmos hat einen riesen Satz gemacht. Man könnte das schon verstehen, wenn man wollte, die richtigen Schlüsse daraus ziehen, aber hat sich nun einiges völlig von der Vernunft entfernt. Es wird nur noch modelliert, gemutmaßt, gefühlig gedacht, und das alles auch noch gerechtfertigt, schöngeredet und verteidigt. Da dazu alles im Leben durchpolitisiert werden soll, ist plötzlich auch alles gleich weltbedeutend, vielleicht ähnlich des Gleichnisses des Sack Reis, der in China umfällt. Modelle und Behauptungen würden nun anbringen, dass das keine Lapalie mehr sei, sondern um den halben Erdball wandert und wie Lawinen zum Erdbeben bei uns wie allen demokratischen Staaten anwachsen. Es gäbe dazu Studien. Und wenn etwas überhaupt anlaufen kann, würde es automatisch gemäß Schneeballsystem anschwellen und Täler unter sich begraben.
Wäre es eindeutig als gelebter Glaubensgrundsatz identifizierbar, würde man es vernunftkritisch greifen und einhegen können. Doch stehen dem andere Verhaltenskodize dazwischen, ein narzisstischer Selbstbestätigungseifer offensichtlich labiler Persönlichkeiten. Oder sie sind einfach nur Profiteure des Mitte-Links-Populismus, denen auch keine Doppelmoral zu dumm ist, es trotzdem durchzuziehen. Man kann eigentlich alles schnell dahersagen, vor allem wenn es der eigene Profilierung nutzt. Noch schlimmer, wenn man mächtige Unterstützung erhält.
Aber – und das wird jetzt mordsspannend werden – dreht sich alles zu ihren Ungunsten. Sie hatten wahrlich den Mindestanspruch der Weltenrettung an sich gerissen, und darin konnte man eigentlich nur scheitern. Gute Absicht hin oder her. Alles, was sie minder in den 2010ern und danach seit Corona angerichtet hatten und haben, muss ja jetzt wieder irgendwie rückgängig und in Wertschöpfendes geführt werden. Zwar mag ich das Radikalcons auch nicht zutrauen, weil sie nach neuer Zeitrechnung dann doch zu reichtumsgesteuert für sich selbst sind, aber auch das wird in Zukunft eingehegt werden, wenn nötig.
Dafür hat eine schlagkräftige Minderheit vom Exil aus gesorgt – oder warum greifen jetzt die zu Wählenden plötzlich nach jedem Themenstrohhalm, der ein AfD-Monster bequem aufsammelte und dadurch groß wurde? Es ist die pure Verzweiflung, weil auch die (westliche) Welt diesen Meltdown durchmacht. Kurz vor der Wahl wird noch schnell die große Verspreche um Corona-Aufarbeitung und Migrationspolitikanpassung („Egal, woher die Zustimmung kommt“ ist schon ein Brandmauerhammer) herausposaunt. Alles wirkt oberflächlich berechenbar, könnte allerdings – und das Bisschen Hoffnung will ich mir nicht nehmen lassen – nur ein Startschuss zu handfester Politik werden, eine Rückführung einleitet. Geht ja nicht anders, die westliche Welt macht es uns mal wieder vor, und da will man im Hochnasendeutschland nicht hintenanstehen. Dann könnte es ja auch mal wieder aufwärts gehen.
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epikur (ZG Blog) (Sonntag, 26 Januar 2025 13:26)
Gunner Kaiser (er ruhe in Frieden!) hat das Ganze schon vor vier Jahren sehr exakt beschrieben: "Es ist ein Kult!"
https://www.youtube.com/watch?v=9dAob0UBihg
Das ist zeitlos aktuell.
Holger (Sonntag, 26 Januar 2025 14:01)
Man hat sich vermutlich ein wenig verspekuliert.
Die Sanktionen gegen Russland sind nicht nur ins Leere gelaufen, sondern haben bei uns sogar mehr Schaden angerichtet als politischen Nutzen gebracht. Die Russen werden nämlich nicht von Vollidioten geführt, sondern von einem Realpolitiker, der Schwierigkeiten vorausgesehen und rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet hat, seine Wirtschaft unabhängiger zu machen.
Und durch die zusätzliche Enteignung russischer Vermögenswerte haben wir der restlichen Welt obendrein gezeigt, dass WIR, der "Wertewesten", ziemlich vertrauensunwürdige Hurensöhne sind, die sich gerne mal fremder Leute Investitionen unter den Nagel reissen, wenn es nicht so läuft wie der "Wertewesten" will. Was wiederum dazu führt, dass ausländische Investitionen in Deutschland zehnmal mehr überlegt sein wollen. Wenn man überhaupt noch darüber nachdenkt.
Sollte die möglicherweise begrenzte Abwendung in Europa von dem bisherigen wirtschaftlichen Kurs ("Klima, Klima über alles, über alles in der Welt") tatsächlich stattfinden, dann würde ich das auf einen "Sputnikschock" zurückführen, und nicht auf plötzlich einkehrende Vernunft. Russland hat mit der Hyperschallrakete ziemlich klar gemacht, dass es eben nicht das rückständige Land ist, wie man den einfältigen Idioten hier in Europa so erzählt, sondern dass es in manchen nicht unwichtigen Bereichen eben doch die Nase vorn hat. Und zusätzlich ein paar Verbündete hat, denen ganz klar ist, dass sie auf der Liste der Amerikaner die nächsten abzuräumenden "Schurkenstaaten" sind. Ja, und die deshalb Russland aus Eigeninteresse beiseite stehen.
Um aber eine wirkliche Änderung in unserer Wirtschaftspolitik herbeiführen zu können, müssten wir zuerst einmal die ganzen Ideologieschwachköpfe aus den Parlamenten und die ganzen Ideologieschwachköpfe aus den Massenmedien loswerden. Sonst wird das nichts.
Eine Buchempfehlung: "Der Westen im Niedergang" von Emmanuel Todd.
Der hat das Problem mit unseren Politikern ganz gut analysiert. Manche seiner geäußerten Hoffnungen sind ein wenig naiv, aber das ist in Ordnung.