Der Niedergang - er wird schon durch die Straßen gebrüllt. Kürzlich begab ich mich nach draußen, zum Bäcker um die Ecke. Es war noch dunkel, was mir den Beweis lieferte: Dunkeldeutschland gibt es auch im Westen. Verdammte Natur, verdammter Kosmos. Nichts machen die so, wie wir das wollen. Heile Welten sind doch hell. Es war schon halb acht, und wegen Dunkelheit mussten auch noch die Straßen hell erleuchtet werden. Blöd, echt, verzichten is hier nich´, sonst kommen sexistische, alte, weiße Männer noch auf günstige Gedanken.
„Sehr Ihr sie denn nicht, wie sie geifernd und sabbernd in der Düsternis stehen und wie die Geier allem Weiblichen hinterhergaffen??“
Keine Ahnung, ob jemand auf den Gedanken käme, so etwas zu behaupten. Ausgerechnet im Zentrum eines Stadtteils, das nicht dafür berüchtigt war, dass dort ständig Frauen vergewaltigt oder belästigt würden.
„Nein, ich sehe nur Menschen, die müde ihren Kaffee trinken, zu ihren Autos und somit zur Arbeit schlurfen.“, hätte ich ihnen entgegnet.
Und ich sah, jetzt wirklich, eine alte Frau. Als ich zur Hauptstraße gelang, schlappte sie gerade mit ihrem Einkaufsrolli etwas weiter weg an mir vorbei. Sah erst mal unauffällig aus, auf den zweiten Blick auffällig aufgebretzelt. Breites Stirnband, helle Wolljacke, gebügelte Leggings. Und dann diese glitzernden Ballerinas in Modegold. Blingbling. Strahlten im Dunklen wie Knäuel von Glühwürmchen. Sah erst mal so gar nicht nach prekär aus, aber auch unpassend für solch einen Morgen, als hätte sie vergessen, in ihren dicken BMW zu steigen und die Straßenköterei bloß nicht selbst durchschreiten zu müssen. Solche dieser Societydamen, die sich ihre finanzielle Sicherheit schon lange erfolgreich unter die zu langen Beautyfarm-Nägel gerissen haben.
Doch sie schlappte hier über den Bürgersteig. Kein BMW, überhaupt kein Gefährt in ihrer Nähe außer für das, was sie irgendwo einkaufen würde. Sie wäre wohl eher neidisch auf ihre Einkäufe gewesen, müssten die doch nicht laufen und werden auch noch kutschiert. High-Society-Lebensmittel mit Chaffeurin. Teuer genug sind sie ja geworden, dass man sie beinahe wie zerbrechliche Kostbarkeiten hinter sich her kutschiert. Sie selbst schleppte sich die Straße entlang. Sie war alt, das war deutlich zu sehen, aber sie tat offensichtlich viel dafür, nicht alt auszusehen. Gesträhntes, dunkelblondes Haar, das im Knäuel über dem Stirnband hervorquoll. Dazu das wärmlich-bemühte Outfit in beige und Blutorangenfarben, und die Schuhe als aggressivster Trugschluss, nach Geld auszusehen. Doch mit ihrem Rolli, den sie wie ein Schoßhündchen hinter sich her zog, passte sie eben nicht in das Klischee der High-Society-Muttis, eher das der graumäusigen Damen im Rentenalter, die auf ihre alten Tage jeden Tag als müßig-angestrengtes Erlebnis rumbringen müssen, um sich endlich wieder ächzend in den Sessel fallen zu lassen.
Ein wenig hinkte sie, jeder Schritt eine mit Bedacht ausgeführte Aktion. Vielleicht war´s die Hüfte, vielleicht erste Anzeichen sonstigen Altersverschleißes in den Beinen. Und grummelte vor sich hin. Nicht in einer Lautstärke, die man auch mit hingerecktem Ohr nicht verstehen würde. Ich verstand sie nur nicht, weil sie von mir abgewandt, einige Meter entfernt, gedämpft etwas gegen die Hauswand redete. Ein „Herrrrrgott.“ konnte ich noch entziffern. Dann erst mal Undefinierbares. Offensichtlich hatte sie Bedarf, der Welt um sie herum etwas mitzuteilen. Sich auszukotzen. Ihr Leid zu klagen.
Man beobachtet das in letzter Zeit häufiger, wie Menschen in ihrer Einsamkeit die Wand anschreien oder nur mit sich selbst reden. Einfach Leute anquatschen, ohne zu fragen. Alter fast egal. Alte wie junge. Solche, die ihren Unnutz nach längerer Zeit mit sich selbst bereden, und es kümmerte sie nicht mehr, ob das alle anderen um sie herum mitbekommen und ihnen hinterhergaffen. Schon länger hatten sie sich in ihre Kopfwelt zurückgezogen. Die alte Dame vor mir auch. Sie starrte nur stur auf die Gehwegplatten vor ihr, Richtung Hausfassaden und ließ „es“ raus.
In solchen Momenten werde ich neugierig. Nicht, dass man nur die Fassade eines Menschen erblickt und ob der optischen Auffälligkeit die Stirn runzelt. Oder damit ein Problem hätte. Mittlerweile erblickt man die komischsten Gestalten da draußen, auf der Straße, aber auch in den Läden, wie aufmerksamkeitsheischend sie nur vor Regalen stehen und so tun, als wären sie wichtig. Fingieren mitunter Telefonate mit ihrem Handy und reden so, als hätten sie gerade die „Best Buddys“ an der Strippe, die sie gar nicht haben. Das ist noch die letzten Versuche einer Relevanzlüge, eine Finte, zu der sich Leute wie die alte Dame gar nicht mehr selbst erniedrigen. Die tangieren eher in die andere Richtung, wo etwa Säufer ihre Welt haben, betäubt vom Alkohol reden sie schon mit ihren weißen Mäusen und nehmen die echte Welt gar nicht mehr richtig wahr. Nur, dass die Dame nicht besoffen wirkt, nur grantig und zurückgezogen in ihrer Wutrede gegenüber sich selbst.
Dann fiel endlich einer der Sätze, auf welche ich in meiner Neugier warte. Etwas Kurzes, Knappes, etwas Vielsagendes. Etwas Selbstentlarvendes. Da ließ sie es raus, und ich verstand jedes Wort davon:
„Mit der Rente, da begann der Abstieg!“, knurrte sie.
Mit diesem „Outing“ schlurfte sie weiter und blieb vor einem Schaufenster stehen, starrte gierig hinein. Ein Bekleidungsgeschäft. Die Ausleuchtung tauchte ihr Gesicht in Verlockung. Sie reckte den Hals nach einem Artikel hinter dem Glas. Keine Ahnung, was genau, vielleicht Schuhe, etwas, was glitzert. Darüber war ein Mannequin in einen hellgrauen Hosenanzug gesteckt worden. Sah höchstens adrett, seriös aus, aber auch stillos, unstylish. Die Szene mit ihr, wie sie vor Unerreichtem steht und begierig ihre unerfüllbaren Wünsche in das Schaufenster warf – das hatte Symbolwert.
Ich war schon auf der anderen Straßenseite und beobachtete sie noch ein wenig. Die ganze Szene dauerte nur einige Sekunden, aber sie „verriet“ mir recht viel. Über sie selbst, über die Gesamtsituation, und wie so häufig in solchen Momenten gerät man selbst ins Denken. Ich nahm die Dame jetzt nicht abwertend wahr, nichts, worüber ich mich lustig gemacht hätte. Ich hatte gar Mitleid, zumindest ein wenig, aber auch so etwas wie die gedankliche Maßregelung, dass sie sicher auch selbst ein wenig schuld an ihrer Ist-Situation sein dürfte.
„Mit der Rente, da begann der Abstieg!“
Es klingelte immer noch in meinen Ohren. Nicht, dass ich die Dame und ihren Lebensweg innerhalb dieses einen Satzes erkannt und sie vollständig blankgezogen hätte. Das ist schlicht nicht möglich, und ich vermeide tunlichst, Wahrheiten erschaffen zu wollen, die es gar nicht gibt. Das überlasse ich lieber anderen, die gleich an jeder Ecke geifernde Männer wittern, die ihnen nur ans Leder wollten. Wenn man schon „typisch“ sagt, muss man auch wissen, was „typisch“ wirklich bedeutet.
Nein, es war für mich mehr der kurz-knackige Ausdruck eines miesen Zeitgeistgefühls. Wer weiß, was die Dame in ihren jungen Jahren gemacht hatte. Ihren Klamotten nach zu urteilen hätte sie vielleicht eine dieser Unternehmergattinnen sein können, die sich auf dem hohen Verdienst ihrer Göttergatten einen faulen Lenz machen konnten. Zumindest, bis der verstorben wäre und sie enterbt hätte, das Vermögen verzockt oder sie sonst wie gar nichts davon hatte und nur Mindestrente erhielt, weil sie offiziell nur als „Hausfrau“ geführt wurde. Oder sie war eine dieser sich durchs Leben schleichenden Verkäuferinnenfiguren, die irgendwie arrogant und unzufrieden wirken und jeden Cent in Kleidung und Beauty steckten, um irgendwie gehobener auszusehen und sich vielleicht, irgendwo in dieser scheinreichen Stadt, den zukünftigen Göttergatten zu angeln. Und dann, später, nachdem der jahrelange Versuch scheiterte, in eine Identitätskrise geraten, weil der Modeklunker solche nicht täuschen konnte. Die sich lieber die Busenwunder angelten, die aufwändig modellierten It-Girls, die sich nicht zu schade sind, für den Fuß in der Tür des Geldtresors quasi das Escort-Mädchen zu spielen, damit die alternden Herrschaften ihre Restlibido austesten könnten. Statt gleich Viagra zu schlucken, reichen ihnen noch 90-60-90 aus, damit es im Schritt aufwärts geht.
Nun das Rentenalter, ein Übergang in spätes Leben, und damit sind nach einem selbstbetrügerischen Hoffen und Bangen alle Züge abgefahren. Und wenn jemand wie sie, in ihrer bemüht gehobeneren Ausstattung daherlief wie jede ärmlich wirkende Arbeiterehefrau, sich selbst bemitleidet, weiß man, dass die alten, einsamen Menschen da draußen nicht nur selbst schuld an ihrer Situation sind. Das hätte man früher mal etwas fundierter behaupten können, als es uns noch viel besser ging, als Lebensmittel noch im Einkaufswagen gestapelt werden konnten, und man heute für dasselbe Geld gerade noch den Einkauf für die nächsten paar Tage zusammen bekommt.
Ja, es sind Ausrisse, Annahmen, nichts wirklich Greifbares, was man in dieser Szene herauslesen könnte. Aber es gibt Indizien preis, darüber, wie nicht nur der Eintritt ins Rentenalter der Dame den Wohlstandsboden unter den Füßen wegzog, sondern wohin wir gerade alle drohen hineinzuschlittern. Ich denke schon an meine Rente, an unserer beiden Renten. An die Zeit in ca. 20 Jahren, an Vergleiche früher wie heute, an morgen, wenn es bei mir/uns so weit sein wird, an andere Staaten, die noch weiter sind als wir, denen wir aber so blindlings oder vielleicht sogar gewollt nacheifern. Blickt man in die USA, nur so als Extrembeispiel systemisch bedingter, sozialer Niedergänge und Abstiege.
Da sieht man etwa schon Leute, obdachlos gewordene Leute, wie sie am Rand des Bürgersteigs am Sunset Strip schlafen oder dahinvegetieren. Sich an etwas klammern, an den Symbolismus der Stars und Sternchen und Glitzerwelten, an Sicherheit und Wohlstand, an Reichtum, der alle Sorgen vergessen ließe. Und sie daneben, so nah und doch so weit entfernt, offenbaren sie neben den Symbolen von Glamour und Lifestyle eine Sehnsucht nach einer Sicherheit, von der sie kaum weiter entfernt sein könnten.
Die alte Dame trug ihren Restglamour, eventuell sich mühsam abgesparter Glitzer, die letzten Reste ihrer Selbstachtung, noch auf dem Leib. Doch war das nur ein sehr bemühter Selbstbeschiss, im prekären Rentnerinnendasein Würde zu bewahren. So trat ich in den Bäckerladen und kaufte, ohne mir weiter Gedanken an einen etwaigen Wohlstandsabstieg aufzuzwingen, ein Flute. Wer weiß, wie oft und wie lange ich das noch sorglos tun kann. Meine eigene heile Welt erhalten. Bevor es auch für mich dunkel werden könnte.
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