Immer wieder suchte ich den Anlass, aber auch die Umsetzung. Immer, wenn ich ins Grübeln geriet. Immer, wenn mir diese Zeiten zu anstrengend werden, sitze ich da, versuche Momente der Ruhe in mich einzusaugen wie ein erfrischendes Getränk. Und manchmal, aber nur manchmal, koste ich es in seiner Fülle aus.
Der Anlass dieser Kolumne ist die Flucht. Nein, nicht ein Davonrennen, der Hetze gehetzt entfliehen zu müssen. Es bringt so keine Ruhe vor dem Sturm. So würde ich vor einem Sturm davonlaufen und nur in einen anderen geraten. Diese Stürme müssen mich nicht erfassen, wenn ich nicht konkret in sie hinein laufe. Und doch – mir passiert dies dann und wann, und ich bemerke es oft zu spät. Es sind weniger die lauten, die mich quälen, es sind die leisen. Die, die innerlich an dir nagen, die man ignorieren will, dir aber schleichend bleiben. Die, die ihre Wirkung still entfalten.
Die Flucht, die ich antreten will, ist eine andere. Eine, die mich nicht einholt und überrollt; eine, bei der ich Gewissheit habe, die richtige zu sein. Und die kann nur im Kopf passieren, wie auch die falsche Flucht. Mit dem Unterschied, dass sie mich nicht noch mehr belastet. Eine befreiende. Eine, die Ketten sprengt. Ketten der Belastung. Ketten eines Dilemmas, die die physische Welt mir anlegt. Es wäre grundfalsch, diese Ketten als etwas Gutes zu betrachten.
Man betrachtet sich und andere, sieht Unglück, scheinbares, verlogenes Glück und selbst verschuldetes Unglück. Man beginnt zu vergleichen: In welchem Glückszustand befinde ich mich? Echtes Glück kann es nicht sein. Die falsche Flucht hat mich dort hingeführt, blendet mich mit falschem, kurzzeitigem Glück. Ein kurzes Durchatmen, doch dann zerren wieder die Ketten an mir, schneiden sich in die Brust und halten meine Arme zurück. Es sind die Ketten der gesellschaftlichen Konventionen, die der Moral – oder sagen wir einer Moral. Nicht meiner Moral. Was heute als moralisch definiert ist, bremst mich häufig aus. Kettet mich an, schließt meinen Mund, lässt mich nicht machen.
Die Moral dieser Tage ist eine widersprüchliche. Sie ist ein Bastard der alten Moral mit der neuen. Der kämpft einen Kampf mit sich selbst, weiß nicht, ob er die alten oder die neuen Werte in sich tragen will. Und doch muss sie ständig ihre Funktion eines Leitbildes erfüllen. Dabei ist sie keine Schrift, keine starre Anzahl an Geboten, die eine höhere Macht in Stein gemeißelt hätte. Sie verschwimmt ständig, ändert sich, passt sich an. Und sie ist in Teilen subjektiv, individuell. Es gilt zu unterscheiden: Welche moralischen Grundsätze sollten für alle gelten? Und welche kann man sich aussuchen?
Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass Moral keine Gesetze sind. Gesetze sind schlicht. Sie besagen Pflichten, feste Rahmenbedingungen, auch wenn sie durch Moral erst zustande gekommen sind. Doch ist Moral oftmals kein guter Ratgeber für starre Gesetze. Sie sind gar ein Hemmnis für bestimmte, legitime Moralvorstellungen. Und wie das aussehen mag, erfahren wir die Tage besonders häufig. Sie sind die erwähnten Ketten, wenn wir ihnen nicht gehorsam sein wollen.
Man kann in diesen Ketten ruhen. Aber das wäre nicht ich. Ich lebe und liebe den Widerspruch und sehe ihn vor mir, wo er auch auftaucht. Und in ihm wird die Moral zur Gewissensfrage, zumindest in den individuell akzeptierten Widersprüchen. Alles andere haben wir schon längst in Gesetze gegossen. Nicht morden, nicht stehlen, niemanden körperlich missbrauchen oder misshandeln, das sind die grundsätzlichen Dinge, bei denen wir uns prinzipiell alle einig sind. Das sind Grundsätze, die der Mensch schon sehr lange für sich und alle anderen definiert, sei es durch moderne Grundgesetze wie schon in der Legende von Moses auf dem Berg Sinai.
Mehr verlange ich auch erst mal nicht. Natürlich regt man sich über Moral auf, wenn sie nicht der eigenen entspricht. Die Reaktionen darauf bestimmen dann das Gesellschaftsklima, und wie man weiß, ist das gerade ziemlich unangenehm. Hier wird die Moral zum Zankapfel, zum Anlass für Sanktionen, die vom Shitstorm zur existenziellen Vernichtung anwachsen kann. Es ist also nicht verwunderlich, dass man sich zuweilen nicht mehr traut, etwas offen zu sagen. Man wägt lieber zweimal ab, hört sich um, in Gespräche hinein, überlässt es anderen, sich selbst zur Aufsagung der eigenen Meinung zu bringen. Hat man dieses aufwändige Austarieren irgendwann abgeschlossen, sind plötzlich wieder andere moralische Grundsätze en vogue geworden und das Spiel geht von vorne los.
Schlussendlich ist es egal, wie Moral aussieht. Ihre politische, subjektive Färbung darf nur nicht zur absoluten Deutungsmacht werden, sie sollte nicht zur Allmachtsleitlinie anwachsen dürfen. Doch haben wir mit unseren Machtspielchen als Gewinner immer die Chance, Moral mehr oder weniger als ungeschriebenes Gesetz zu etablieren - gar bis zum wirklich niedergeschriebenen Gesetz. Spätestens dann wird man sich teilweise daran stoßen, weil sie aus den Gefilden der Freiwilligkeit in die Pflicht übergeht. So weit, so offiziell. Doch dann gibt es noch die gruppendynamischen Prozesse, die zwischen den Gesetzeszeilen funktionieren. Die können gesetzeskonform sein oder auch nicht – es regelt sich so auch von selbst. Wie das aussieht, bemerkt man später, wenn man etwa versucht, in der Gruppe sein Standing zu bestimmen, weil man vielleicht nicht weiß, wo man steht.
In dieser Standortbestimmung sehe ich mich recht oft daneben. Entweder wollen die anderen nicht, oder ich will es nicht. Eine schwierige Sache, das noch auf der sachlich-nüchternen Ebene aufrecht erhalten zu wollen und zu können, weil sie beiderseitig als Belastung und nicht als Bereicherung aufgefasst wird. Man will nicht, aber muss manchmal. Etwa im Beruf, in einer vertraglich festgelegten Zusammengehörigkeit. Da spielt alles Genannte zusammen, man sondiert, man bevorzugt oder grenzt aus, man fördert oder man fordert, und wer nicht liefert, ist geliefert.
In diesen Situationen Ruhe zu finden, Selbstwertschätzung oder mal ein Lob anderer, wird in heutigen Zeiten immer schwieriger. Ich erinnere mich an eine Aussage, die eine Chefin vor Jahren mal mir gegenüber traf: „Wenn wir nichts sagen, dann ist alles in Ordnung.“. Auch das hat sich teils gewandelt – heute kommt es noch häufiger vor, dass Nichtssagen die nicht ausgesprochene Kritikäußerung bedeuten kann. Weil auch die, die sie gerne aussprechen würden, sich in der gesellschaftlichen Moral verstummen lassen. Und das ist in dieser gesellschaftlichen Ausprägung ein immenses Problem geworden – sich anzuschweigen, weil über jedem Satz das Damoklesschwert der Sanktionierung schwebt, ist etwas, das die freie Gesellschaft kaputtmachen kann.
Dann kann man nur noch mit sich selbst ins Reine kommen, man verwehrt sich so der menschlichen Natur der notwendigen, sozialen Interaktivität. Ich lebe schon lange damit und bin nur noch nicht völlig vereinsamt, weil ich sie einerseits zeitweise nicht brauche, andererseits mir in Häppchen zurückhole, aber wirkliches Glück oder die innere Ruhe beschert mir das letztendlich nicht. Nein, die Interaktion ist mir manchmal gar zu anstrengend. Vielleicht mache ich mir damit viel vor, vielleicht schubse ich mich da selbst hinein. Aber ich muss auch mit dieser Situation leben, aus ihr lernen, vielleicht sogar über meinen eingebrannten Schatten springen. Doch wenn sich der Kopf etwas angewöhnt hat, kann sich das Herz nur schwer durchsetzen.
Oder, abschließend: Vielleicht ist es die Zeilen gar nicht wert, weil man ihnen und dem Inhalt zu viel Bedeutung beimisst. Vielleicht macht man sich dadurch relevanter, als es einem zusteht. Vielleicht sollte man sich sein eigenes Reich dort erschaffen, wo man steht. Und es ist irrelevant, ob man sich selbst dort hingestellt hat oder man von anderen dorthin platziert wurde. Vielleicht ist das Glück nicht dort, wo man hin will, sondern dort, wo man ist. Vielleicht...
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