Sie kennen folgende Situationen sicher auch. Jemand meint, Sie richtig einschätzen zu können und greift dabei zu küchenpsychologischen Erkenntnissen, die gerade mal die Oberfläche ankratzen. Da gibt es kein Wenn und Aber, selbst wenn es in eine völlig falsche Richtung weist. Das produziert nur weiter Ärger, vor allem, wenn diese Besserwisserei einseitig zu einer Gesetzmäßigkeit erhoben wird.
Aktuell sind die Ossis Gegenstand solcher Parawissenschaften. Gerade bei der älteren Generation wird das zum Problem, weil einige Wessis immer noch nicht verstanden haben, diese übergriffige Einordnung mal sein zu lassen. Und so kommt es nun, wie ich schon seit der Europawahl vermutet hatte. Man psychologisiert und pathologisiert den Osten, dass die Schwarte kracht - versteht aber bis heute nicht, warum fast die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Ablehnung nun gegen ihre einstigen "Befreier" zum Ausdruck bringen.
Man muss auch diese heikle Gesamtsituation vom Anfang her denken, und nicht, indem man das Pferd von hinten aufzäumt. So wird den Ostdeutschen nun unterstellt, sie wollten ihre alten Führungsstrukturen zurück. Jetzt müsse man ihm das noch besser erklären. Half auch nicht. Und weil der Rechtsruck von einst auch eine ostdeutsche Schuld sein soll, nach NSU jetzt auch noch die AfD derart stark zu machen, ist schon vereinzelt vom Mauerbau 2.0 die Rede. Man hätte es versucht, wäre gescheitert, jetzt soll die Scheidung her. Wie passend, dass heute lange Ehen nicht mehr so gefragt sind, geschweige denn mehrjährige Beziehungen, dass der geringste Anlass zum Knatsch zur Trennung führt.
Das bringt dann Leute wie mich auf den Plan, die nach dem vielsagenden Ausgang der Europawahl auch eine These in den Raum warfen, wie denn die Reaktionen der "Demokratieverteidiger" aussehen, wie es wiederholt scheitert sowie wirkungslos verpuffen würde. Und es kam so wie angenommen. Ich hatte ja vermutet, dass sie eben keine kleineren Brötchen backen würden und eher noch lauter ihre Demokratie verteidigen wollen, weil nach diesem Verlust des Stimmenpuffers gegenüber neo-oppositioneller Politikströmungen der eigene Allmachtsanspruch nun in bedenklichem Maße dahingeschmolzen ist.
Ihr eigenes Versagen haben sie dabei immer noch nicht verstanden. Ihre Erklärungsansätze und seichte Winde einer nötigen Einsicht streifen dabei nur die bequemen Aspekte, die günstigstenfalls auch nicht von ihnen ausgingen. Würden sie es denn tun, wären sie bei einer echten Aufarbeitung nach dem Mauerfall beim Ausverkauf durch die Treuhand gelandet, was sicherlich nicht dazu beigetragen hat, den Westen längere Zeit als Befreier wahrzunehmen. Und da hat die ältere Generation bestimmt ein Elefantengedächtnis über die westliche Selbstbedienungsmentalität. Die war nicht nur ein Pappenstiel, den man heute ignorieren könnte. Es war nur ein krachender Beginn von Enttäuschungen über "westliche Werte", die sich einerseits allem bemächtigen und gleichzeitig oberlehrerhafte Tiraden schwingen. Dass das so sein müsse, um frei zu sein. Und dass die aus einem autoritärem Staat herausgetretenen Ostdeutschen erst mal verstehen lernen müssten.
Doch ist es der Wertewesten, der sich weit trotziger wie unbelehrbarer gibt als er es dem Osten unterstellt. Und ihn dann wie ein missgeleitetes Pflegekind vor die finale Wahl schwarzpädagogischer Mittel stellt: sofortiger Gehorsam oder vor die Tür setzen. So als würde man erwarten, dass solche Druckmittel automatisch zur Einsicht führen. Das Blöde dabei: Nicht jedes Pflegekind bettelt mit gesenktem Kopf nach Einlass. Nicht wenige treffen dann für sich die endgültige Entscheidung, dieser Familie den Rücken zu kehren. Man provoziert den Rausschmiss und bekommt ihn dummerweise auch.
Erst dann geraten Pflegeeltern in Erklärungsnot und denken eventuell mal darüber nach, Schuldanteile bei sich selbst zu suchen. Doch dort ist der Wertewesten noch nicht angekommen, also wird aktuell noch keine Erkenntnis in diesem Rattenschwanz der Eskalation zu erwarten sein. Unbeirrt geht er weiter seinen Weg, wähnt er sich doch mit allem Recht der Welt beschlagen zu sein, etwas zu tun und es so lange zu tun, bis das gewünschte Ergebnis rauskommt.
Tut es aber nicht, und so lässt sich schon seit einiger Zeit beobachten, wie die Verzweiflung ins Unermessliche wächst. Wechselweise ersetzt mit Phasen neuer Ignoranz- und Arroganzschübe, die Ideen im Kampf werden parallel immer restriktiver wie absurder. Die Reaktanz beider Lager stößt sich dadurch bei immer höherer Aufladung immer heftiger voneinander ab. Wobei der Osten immer noch in einer Defensivposition ist, mal bitte etwas freundlicher (gehorsamer) gegenüber den Befreiern zu sein, von der er sich jedoch unter dem Hintergrund schädlicher Politik allmählich emanzipiert. Und das bedeutet auch, dass er das westliche Treiben noch lange mit einem Gefühlswirrwarr aus Hoffnung, Enttäuschung und Wut begleitet wie geduldet hat. Nun hat ein großer Anteil in "Dunkeldeutschland" die Geduld verloren (erstaunlich nach über 30 Jahren), und deswegen scheint das in seiner Stringenz weit wirkungsvoller als umgekehrt.
Diese Situation ist gleichzeitig ein deutsches Phänomen, mit seiner Geschichte beschlagen sicherlich ein besonderes. Und doch reiht es sich nur in viele Enttäuschungszyklen ein, mit dem westliche Nationen zu kämpfen haben. Großbritannien oder die USA waren nie mehr als eine Monarchie, keine sozialistische Diktatur links wie rechts. Doch statt die zeitweise echte, freiheitliche Demokratie der Mitte zu erhalten, ist seit 9/11 nichts mehr so, wie es sein sollte. Die Mitte hat sich seitdem derart radikalisiert, dass sie in ihrer paranoiden Psychose immer mehr Feinde erschafft und auch bekämpft. Und da bekommt jede Person diese Westprügel ab wie ein unbeteiligter Zeuge eines Verbrechens, das er nie begangen hat.
Die sind heute nicht nur bestimmten Ideologien zugeordnet. Sie sind fast schon allen Ideologien außer der eigenen Rradikalmitte zugeordnet. Und so isoliert man sich ins eigene Verderben. Wenn Sie sich selbst in dieser Bubble befinden, werden Sie mir höchstwahrscheinlich widersprechen. Doch verteidigen Sie somit nur Ihr wohliges Gedankengefängnis, in der nur die Illusion von Freiheit besteht. Das ist keine Küchenpsychologie, denn versuchen Sie nur einmal, etwas fundamental Kritisches gegen Ihr eigenes System anzustimmen - dann sind Sie ganz schnell bei uns gelandet. Ob Sie wollen oder nicht. Und so ergeht es gerade dem Osten, dem es mittlerweile egal ist, als was er betitelt wird. Erst dann werden auch Sie verstanden haben, wer in diesem Wertewesten der bessere Besserwisser ist.
Im Wesentlichen werden die Landtagswahlen nur eines aussagen: das Sagen hat letztlich nur eine Fraktion in diesem Land, nämlich das Volk. Der Osten weiß das selbst am besten, wie das funktioniert. Der Westen muss das endlich verstehen lernen, bevor er selbst unter die Räder kommt. Und danach sieht es kurz vor den Wahlen im Osten aus. Dann wird es aber immer noch kein Verstummen geben - mark my words: die Bundestagswahl wird dann zum Kreischfestival sondergleichen werden, wenn auch die Umfragen entsprechend ausfallen.
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