Bis heute habe ich nicht verstanden, warum so viele Menschen auf IKEA abfahren. Dass man Möbelstücken schwedentypische Eigennamen gab? Dass man in den Möbelhäusern mehr Zeit mit Frühstück und Mittagessen statt mit Möbelkauf verbringen kann? Dass es ein besonderes Konzept der Selbstversorgung bedient, im Showroom aussuchen und sich kurz vor der Kasse alles selbst aus dem Hochregallager ziehen soll?
Am Charakter der nordischen Innenausstattung kann es fast nicht liegen, weil IKEA heute nicht wirklich für rote oder gelbe "Hults" mit landhaustypischer Nostalgie steht, wie man sie überall im Land wiederfindet. Diesen Charme erhält sich der Global Player höchstens noch im Bestellkatalog als Dekoilussion, der imageträchtig in alle Welt exportiert wurde, aber sitzt man wie meine Partnerin und ich ca. 300 km südwestlich inmitten der Märchenwaldromantik eines typisch nordischen Bauernhofes, hat IKEA damit ungefähr so viel damit gemein wie ein Neandertaler im Industriegebiet. Kennt man den Film "Fight Club", weiß man, dass die Marke eher dafür taugt, schizophrenen Globalisten Kurzzeitbefriedigung zu verkaufen, die die andere Persönlichkeit direkt wieder verbrennt.
Ich will Ihnen jetzt auch keine "hyggeligen" Möbelstücke aufzählen, weil Namen nun mal Schall und Rauch sind. Wenn schon Einrichtungsgegenstände so heißen wie schwedische Omas in einer Bretterbude, will man ja eigentlich keine Selbstbaukits mit dem ikonischen Imbusschlüssel und keine Borgwürfelbewohner ("Borg. Klingt schwedisch.", Star Trek - Der erste Kontakt) mit zwei linken Händen am Zusammenbauen eines simplen Couchtisches (Tischplatte, vier Standfüße) verzweifeln sehen. Schon hierin hält das großmundige Versprechen der Simplifizierung der Möbelkultur nicht stand - weil sie schon an der handwerklichen Unfähigkeit von Teilen der Kundschaft scheitert. Die erleiden ja schon einen Ästhetikschock, wenn Opas Tischbeinen Muster und Ornamente einritzen. Heute fast undenkbar im IKEA-Universum globalen Möbelminimalismus'.
Immer bin ich auf der Suche nach etwas Kulturprägendem, deswegen hätte IKEA in seinem heutigen Status gar kein Thema sein dürfen. Es ist auch zu kurz gedacht, Schweden nur auf seine Möbel zu reduzieren, aber kommt man irgendwie auch nicht daran vorbei. Und so gerieten wir in widersprüchliche Welten - einerseits mitten rein ins Bauernhofklischee und danach in eine Hauptstadt wie ein Flickenteppich aus Versatzstücken alter Kultur und eben jener IKEA-Moderne.
Natürlich übernimmt eine Moderne, gerade im Schmelztiegel einer Nation, irgendwann die Optik im Gesamten. So muss es nicht verwundern, dass das "Hulthafte" in Stockholm wohl nur noch in Schottergassen oder via Touristenrundfahrt auf abschüssigen Schäreninseln zu finden ist. Bei ersterem zumindest dort, wohin wir uns eines Abends verirrten, um in der Nähe einer Aussichtsplattform zu parken, versteckten sich solche "Hults" hinter Stein- und Glasklötzen wie Aussiedler im felsigen Gestrüpp. Abgesehen von den Wahrzeichen wie etwa das Stadshus gab es von dort oben im Grunde nur das zu sehen, was man in anderen Metropolen auch zu sehen kriegt: Glas, Stahl und Beton. Auf dem Felsen, von dem man vieles überblicken kann, versammelten sich dann auch die üblichen Verdächtigen des Globaltourismus oder Studenten, wie man sie in jeder Universitätsstadt wiederfindet.
Auch unser Hotel hatte nur noch etwas Restcharakteristisches übrig gelassen, was nur erahnen ließ, wie die alte Tapetenfabrik mal ausgesehen haben mag. Die untere Hälfte war noch Klinkerstyle eines alten Produktionsgebäudes - das hatte man quasi geköpft und mit Trapezblech und Alurahmenfenstern neu überstülpt. Es wurde also ein kybernetisches Bauwerk, ein Borgwürfel mit Aufenthaltszellen darin. Der untere, organische Teil, wollte Wohnlichkeit signalisieren. Ein riesig wirkender Eingangs- und Loungebereich, in der es keine räumliche Trennung von Rezeption, Bar, Lounge und Frühstücksecke gab. Es präsentierte sich eher modern-mondän, vielleicht sogar innen mit IKEA vollgestopft - und wenn nicht, dann galt die Möbelrieseninspiration im Design, das sich die Konkurrenz abgeguckt haben dürfte.
Ich will nicht behaupten, dass ich dies nicht schön fand. Sicher wäre es auch nicht schöner gewesen, von dunkeldeutscher Eiche rustikal erschlagen zu werden, mit dem ich mal aufgewachsen war. Nach dem Ferienhaus nahe Kisa jedoch war ich über den großstädischen Hang zum businessträchtigen Funktionsmöbelminimalismus ein wenig ernüchtert. Das aber nur zum unteren Teil. Oben, im kybernetischen Teil der Drohnenzellen, wird es schnell gruselig. Dunkelblaue Wände erdrückten mich schon in den verwinkelten Fluren, die Zimmer versuchen erst gar nicht, gemütlich auszusehen. Alles nur noch zweckhaft eingerichtet: Bett, Klo, Dusche, eingequetschte Garderobe und Minischreibtisch, an denen ich mir mangels Platzangebot nicht nur einmal den Fuß stieß. Alles, was man als Teil des Ameisenbusinessstaates zu brauchen hat. Man soll sich scheinbar nicht wohlfühlen, wie das Konzept zur Innenausstattung hier angewandt worden ist; man soll dort nur schlafen, sich waschen und funktionieren. Mir behagte es nicht, dass es in real so pragmatischer daherkam als es einem die Fotos auf Booking.com suggerierten. Man erinnert sich: die Macht der Manipulation durch Bilder...
Ähnlich erging es mir auch in der Stadt selbst. Das einzige, was man als ungefiltertes Erlebnis mitnehmen konnte, war die hoch angepriesene U-Bahn-Tour mit seinen außergewöhnlichen Einzelstationen. Einige davon sehenswert, weil verschiedenfarbig ausstaffiert, wie etwa die "Centralen" oder der Favorit vieler Knipswütiger, die "Radshuset"-Station, die in Terrakottarot gehalten und so gestaltet war, als hätte man ein Stück altrömischer Ruinen freigelegt. Gut, einen Spaziergang durch die Altstadt würde ich noch empfehlen, wenn es darum ginge, eine Metropole als etwas Besonderes, nostalgisch Verwertbares auszuzeichnen, aber sobald man Gamla Stan verlässt, wird auch Stockholm zu einem Borgwürfelgeflecht, wo Fleisch und Maschine zum hybriden Organismus verschmilzt. Immer mal wieder ragen Gerippe analoger, verschnörkelter Menschlichkeit heraus, dazwischen jedoch sehr viel kühle Logik, 90-Grad-Legosteinbauten, die nur glitzern statt atmen.
Ja, es gibt ein ernüchterndes Bild ab, das ich hier zeichne. Vielleicht wird es dem auch nicht gerecht, vor allem, wenn man nur zwei volle Tage Zeit hatte, grob alles abzulaufen, was die Stadt zu bieten hat. Aber fehlte mir die Bestätigung, was viele in ihren Blogs und Reiseberichten so begeistert hervorhoben, und die fabulierten auch nur von den Spots, an denen wir uns dann bei unserer Entdeckungstour orientierten. Mir fehlte dieser Spirit, das Alte zu hegen und zu pflegen, und wie einfach es schien, alte Bauten gegen Stahlkolosse zu ersetzen. Da gibt es andere, denen keine Mühe zu viel ist, ihre Traditionen und Eyecatcher zu erhalten - Vergleiche zog ich sogleich mit Rom, Edinburgh, Malaga oder einigen Städten in Süd-Frankreich. Dort fühlte es sich irgendwie ganzheitlicher und stolzer an, das Alte zu feiern und zu präsentieren.
Beweiskräftig wurde es in der Gegend des Hotels, wenn man nur aus der Eingangstür ins Freie trat. Man blickte unweigerlich auf eine Großbaustelle, wo gerade ein weiterer Stahlturm hochgezogen wird. Der untere Teil ist schon komplett mit Wänden und Fenstern eingekleidet, oben werden schon die nächsten Stockwerke aufgeflanscht, wo ungehindert die Winde hindurchblasen können. Sie jaulen bei jeder Böe durch die Etagen, wie Geister eines zeugenden, kalten Zeitalters, das uns bevorsteht. Blöd, wenn man mit solchen Eindrücken eine Stadt verlässt, die sich wie jede Hauptstadt mit Prestige bepinselt, um dann eher davon zu zehrt, nur eine Station globalistischer Uniformität zu sein.
Prominente haben das auch schon moniert. Zum Beispiel hatte Richard David Precht bei Tilo Jung angedeutet, dass viele Metropolen ähnlich gestaltet sind, dass man oft dieselben Läden vorfindet. Das ist kein Ausdruck von Diversität oder Pluralismus mehr, es ist weltweiter Einheitsbrei, der innerhalb der Mauern auch noch von IKEA selbst oder plagiiertem Möbelstil unterstützt wird. Aber - und das will ich bei aller Kritik nicht unterschlagen - gibt es auch in Stockholm charmante Wohlfühlinseln. Grüne Parks und Hafenkais, Wahrzeichen, die man Gott sei Dank (noch) nicht dem Pragmatismus geopfert hat.
Etwas war schließlich bezeichnend wie ermutigend. Direkt neben dem Hotel befindet sich ein Haus in ähnlicher Optik, der aber ein paar Schätze birgt. Hinter der Glasfront schaut man auf Möbel und Einrichtungsgegenstände vergangener Zeiten. Aufwändig zusammengesetzte Kronleuchter, Stühle und Tische alter, analoger Bauart. Schränke, die schon in Gedanken knarren, wenn man die Tür öffnet, in gemasertem Echtholz gehalten. "Stockholms Auktionsverk" nennt sich das Haus, "est. 1674". Es ist ein Hoffnungsschimmer, dass etwas erhalten bleibt und bitte nicht völlig in Vergessenheit gerät - nur dass es nicht hinter kaltes Glas, sondern ein Stadtbild mit solchen Alleinstellungsmerkmalen prägen sollte.
Stockholm - das ist für mich so wie Checklistentourismus. Das, was ich mir dann auf Google Maps markiere oder auf der Europakarte auf meinem Schreibtisch mit einem Pin aufstecke. Okay, da war ich dann auch mal, sieht imposant aus, wo ich schon überall war, wenn man die Pins auf der Karte im Ganzen überblickt. Man kann nun auch den Nordosten noch ein bisschen vollpinnen, wo noch nix bzw. kaum etwas eingesteckt ist. Mehr ist es letztlich aber auch nicht geworden. Ein Pin unter vielen. Mal schön, dort gewesen zu sein. Mal wieder vorbeischauen, wenn nichts dazwischen kommt.
Und überall findet man IKEA wieder, in genau derselben Form, wie sie wahrscheinlich auch in Übersee aussehen und wo dieselben Konzepte greifen, samt Kantinenköttbullar und Teelichtbatterien. In Stockholm ist die geistige Heimat dieses Weltphänomens, das gleichermaßen geliebt wie verhasst ist. Ich würde es, jetzt, wo ich es mal real erahnen kann, nicht ganz so destruktiv betrachten. Aber eben auch nicht so begeisterungswürdig wie jene Selfietouristen, die sowieso alles gut finden, was ihnen Prestige beschert. So lange sie auf großen Felsformationen sich selbst abbilden können, um ihren Instagram-Account und deren Follower zu füttern. Die gab es dort zuhauf, wie an jedem Hotspot der Erde.
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Mutant77 (Dienstag, 17 September 2024 10:02)
Gibt es echt Menschen die bei IKEA essen? Ich hab's einmal gemacht und es war nicht gut.
Da fahr ich lieber zum XXL bzw. Mömax dort ist das Essen und das Frühstück wirklich gut - zumindest in Wiesbaden und man hat die Auswahl zwischen unten (Mömax) und oben (XXL) mit Blick auf den Lenneberg. Aber das gibt's alles nicht in Stockholm :-)
https://maps.app.goo.gl/bU1EYV4zk8FBgXP69
Polemicer (Mittwoch, 18 September 2024 05:49)
@Mutant77
Es gibt viele, die bei IKEA essen, und nur deswegen bei IKEA sind. Und da bin ich bei dir - gut ist er überhaupt nicht. Ansonsten kann man in Stockholm aber gut essen gehen, auch sehr gute Cafés mit lecker Süßteilchen.