Wäre das Grundgesetz eine 75-jährige Person, die kürzlich zur großen Feier geladen hätte, wäre ich höchstwahrscheinlich nicht hingegangen. Es mag respektlos klingen, aber wenn das Geburtstagskind gnadenlos alle einlädt, die man nicht sehen will oder auf die man einen Hass entwickelt hat, hat man der Person - auch wenn sie das anders sehen mag - einen großen Gefallen getan.
Ich stelle mir den runden Jahrestag wie eben die groß angelegte wie durchexerzierte Feierlichkeit vor. Schön säuberlich vorbereitet, Essen bestellt, Alleinunterhalter oder Stripper(in) gebucht, und wegen des Anlasses ist das Event nicht nur durch durch die Einladenden, sondern auch durch die Eingeladenen, zum wechselseitig motivierten Erfolg verdammt. Ein derart hoher Anspruch an einen Tag des Feierns kann allerdings auch nach hinten losgehen, und da reden wir nicht durch den Einfluss höherer Mächte. Stromausfall, Erdbeben oder sonstige, natürliche Gründe werden keine grenzwertig negativen Gefühle generieren. Wenn aber Menschen eine Party crashen, wird da kein Bedauern hinten rauskommen, sondern ein nachhaltiger Hass und wahrscheinlich noch Schlimmeres.
Um das zu vermeiden, bleibt man vernunftshalber weg. Findet eine Ausrede oder benennt gleich ehrlich, warum, sollte nachgefragt werden. Man mag der Person ja wirklich Respekt zollen, dass sie so lange lebt und dass man sie für sympathisch und aufrichtig hält, aber tun das auch jene, von denen ich das nicht denke. Und so laufen auch Leute auf, die sich nicht nur respektlos mir gegenüber verhalten haben, sondern mich aktiv und machtbesoffen heruntergemacht haben. Denen bin ich deswegen aus dem Weg gegangen, habe den Kontakt eingestellt, will sie nie wieder sehen. Und das nicht, weil sie mal einen Aussetzer gehabt hätten und danach wieder friedlich waren. Nein, sie lassen heute noch keine Gelegenheit aus, auf alle einzudreschen, die anders sind, anderes sagen, anderes meinen. Da ist nicht davon auszugehen, dass sie zur Feier des Tages ihre Repressalien mal sein lassen würden und vereinnahmen dazu das Geburtstagskind für sich, damit du als Persona Non Grata, wie sie das definieren, ihm keine Würdigung aussprechen kannst. Also drängen sie in den Vordergrund, weil sie wissen, wie sie sich öffentlich inszenieren müssen und fühlen sich dazu ermächtigt, ihre Laudatio loszuwerden.
So ähnlich verzog ich die Tage die Miene, als in den Nachrichten über die Laudatio des Bundespräsidenten berichtet wurde. Klar wollte er feierlich-ernst seine eigene Beziehung zum Grundgesetz zum Ausdruck bringen, aber so weich und alle inkludierend seine Worte auch klingen mögen, um die gemeinsame Basis wertebasierter Demokratie zu betonen, so wenig hat er das auch zeitweise vorgelebt. Momentan wedelt er mit dem Gesetzesbuch herum, als müsste er es wie ein schmieriger Vertreter in der Fußgängerzone allen an die Backe drücken, so sehr hatte er es, in höchster Not und bei größter Notwendigkeit, mit Füßen getreten, als ihm eine Causa Kurnaz oder regierungskritische Spaziergänger, wie ich einer war, nicht so ganz in den Kram passten. „Nicht in den Kram passen“ - das klingt noch viel zu harmlos. Wäre er kein Amtsträger, hätte er nicht mit neutral gespielter Miene Amtswürde simuliert, sondern gar nur eine seiner mehreren Wutreden für die Nachwelt erhalten. So redete er scheinneutral vom Verlust der Unschuld von Spaziergängen. Auch den Rattenvergleich scheut er nicht, wenn er etwas nicht tolerabel findet und bewegt sich so in Sphären, in denen das Grundgesetz in seiner universalistischen Auslegung irgendwie lästig erscheint.
Statt Amtswürde und kognitive Offenheit verkörpert er für mich mit am schlimmsten die Hybris von Machtopportunismus. Nichts an seinen Aussagen empfinde ich als aufrichtig, und nicht erst seit der Corona-Zeit. Er war eben auch einer der Architekten im Hintergrund, mit der Agenda 2010 kaltblütig den Sozialstaat auszuhöhlen. Wenn so jemand in Amt und Würden des Bundespräsidenten steht, bemisst man ihn nicht am zukünftigen Wirken, sondern am vergangenen. Und ja – er machte seinem zweifelhaften Ruf auch später alle Ehre.
Und wäre es nur er gewesen. Eine Ausfallfigur, das verkraftet Deutschland mit links (oder auch mit rechts). Nur zu viel links und zu viel kakistokratischer Offenbarungseid ist für Deutschland und das Grundgesetz zu viel Last auf einer Seite der Waagschale. Wenn das der Fall ist, reden wir nicht mehr von Ausgleich, Balance, Fairness oder von verträglichem Maß. Und mal Butter bei die Fische: gnadenlos ausgewogen ging es hierzulande noch nie zu. Weil politische Schlagseite immer und naturgemäß in einer Machtstellung gleichzeitig gönnerhaft für die einen und belastend für die anderen ist. Aber, wie gesagt, geht es um Maß und Mitte, das man gefälligst zu berücksichtigen hat. Und da definiert das Grundgesetz einen Werterahmen, den man nicht nur für sich selbst definieren kann, sondern andere grundsätzlich immer mit einbezieht. Wir als Individuen sind also dazu angehalten, dies immer mitzudenken, auch wenn das Grundgesetz selbst nicht bis ins Detail vordringt.
Wird man etwa straffällig, werden Grundrechte beschnitten. Nun könnten sich Inhaftierte, würden andere Gesetze nicht geschrieben sein, sich auf ihre Basisrechte berufen, jedoch haben Straffällige ja in irgendeiner Form Gesetze verletzt, und mit jeder konkreten Gesetzesübertretung schwingt immer einer der Grundgesetzartikel mit, von „Bagattel“delikten wie Nötigung bis zu weitreichenden Straftaten. Das ist aufwändig und vielleicht auch lähmend auszulegen, und deswegen braucht ein demokratischen System und die Bürger darin ein Mindestmaß an Geduld, jeden Einzelfall zu bewerten und über es zu urteilen. Dies, wie heute die Tendenz dazu überwiegt, mit Sensengesetzen zu stutzen, ist gefährlich.
Zurück zu Amt und Würden. In diesem System steht niemand über dem Gesetz, und niemand kann sich nur die guten Seiten des Grundgesetzes für sich abgreifen und es anderen entziehen, wie es ihm beliebt. Zumindest im Prinzip. Die größtmögliche Einhaltung des Grundgesetzes basiert also auch auf einer Vertrauensbasis. Doch wurde vor allem mit der Notstandslage der Corona-Jahre dieses Grundvertrauen massiv erschüttert. Der Rechtsrahmen wurde via Infektionsschutzgesetz extrem verschoben; es wurden Bedingungen formuliert und gestellt, die nicht alle und alles mit einbezogen, sondern fast maßlos zu einer Schwarz/Weiß-Bedingung verengt. Impfen zur Rückerlangung von grundgesetzlichen wie grundsätzlichen Freiheiten – das war nicht alternativlos, sondern beispiellos, autoritär und einer Demokratie nicht würdig. Auch weil man die Bedingungen falsch einordnete und darauf basierend dieses repressive Regelwerk in Rekordzeit durchbrachte und nicht wie sonst eingehend beraten und abgewogen.
Und muss in diesem Zusammenhang erwähnt sein, dass es egal war, wer von den „etablierten“ Parteien die Zügel an der Hand hatte. Die federführende CDU und danach die Ampel hatten diesen Rechts- und Rechtsentzugsrahmen gleichermaßen ein- und fortgeführt – zumindest bis sich diese Bedingungsschranken als nutzlos erwiesen. Was jedoch bleibt, ist ein eigenmächtiger Grundrechtsentzug, wie er noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vonstatten gegangen war. Und so ist ein eruptiver Missbrauch eines Regelwerks passiert, der eben jedes sich selbst überwachende Gewaltenprinzip ad absurdum führte. Und da sich die Gewalten eher die Bälle zuschoben statt sich interdisziplinär kritisch zu beäugen, lebten wir in der Zeit sogar offiziell nach Maximen wie Gruppendruck und der Bedeutungsaufblähung von teils wachsweichen Hausrechten.
Dass nicht mehr die alten Verhältnisse via Reset-Knopf zurückgeführt wurden, sondern dass etwas von dieser autoritären Schlagseite erhalten bliebt, ist tragisch, entsetzlich wie leider auch zwangsläufig. Es sollte nicht sein dürfen, wird aber so teils erhalten. Da der Anlass eines scheinbar gefährlichen Virus´ nun nicht mehr gilt, sucht und findet man andere Anlässe. Mittlerweile muss man sogar annehmen, dass jeder Anlass im Prinzip dazu taugt, den Rechts- und Verpflichtungsrahmen eigenmächtig zu bestimmen. Doch läuft man in dieser Beliebigkeit Gefahr, immer mehr Menschen unter Bedingungen zu zwängen, die sie qua Gesetz nicht erfüllen müssten.
Es gibt genügend Beispiele, die das dokumentieren. Wie Doppelmoral zutage tritt, wenn sich Ideologen Grundrechte exklusiv zusichern und sie anderen willkürlich absprechen. Wäre Deutschland jetzt eine astreine Diktatur, wäre es Staatsräson, so vorzugehen. Da wir das aber formell nicht sind und die moralisch aufgeladene Debattenkultur den Hang zur Anwendung von Autoritarismus befeuert, versucht man – vor allem, wenn die eigene Argumentation an Grenzen stößt - in rechtliche Lücken vorzustoßen und betreibt gar eine Politik der Schlupflöcher für eine ausgewählte Klientel. Und die sind immer zugunsten von Minderheiten ausgelegt – das war schon immer so und wird auch aktuell so betrieben. Das können Vergünstigungen für Unternehmen und Unternehmer sein, das können aber auch gesetzlich verankerte Quoten von einzelnen, marginalisierten Gruppierungen sein. Dies ist aber noch nicht allgemein maßgebend, denn wird damit auch der Gesetzesrahmen vorgelegt, der beschreibt, was für alle Nichtbetroffenen zu gelten hat und was passiert, wenn man sich dem nicht fügt. So kann das Gesetz auch konkretisieren, ob und wie jemand sanktioniert wird, verweigert er sich einer strikten Einhaltung.
Und hierin liegt die Krux der Geschichte um unser Grundgesetz. Alle anderen Gesetzesbücher definieren Strafmaße und Bedingungen, die Grundrechte entziehen können. Und so ist nun in dieser komplexen, kaum zu durchdringenden Allgemeinentwicklung ablesbar, wie diesen Minderheiten ein gesetzlicher Sonderstatus zugesprochen und gleichzeitig der Mehrheit als Drohgebärde vorgesetzt wird. Dabei ist die Erfüllung eines Strafmaßes schon im Voraus belegt. Sie dürfen also noch staatskritisch oder abwertend anderen gegenüber denken, aber es gar nicht mehr aussprechen – sonst hätten Sie einen Straftatbestand der „Delegitimierung des Staates“ oder „Hasskriminalität“ erfüllt. Früher, in Zeiten von Sonnenkönigen, hätte man es allerdings „Majestätsbeleidigung“ genannt. Einzelpersonen bringen gar ihre fragile Gefühlslage ins Spiel, um dem Rechtsstaat ihre maßlosen Konfliktdefizite abzudrücken.
Nur weil es anders heißt, muss es nichts anderes sein. Und so wird in dieser formellen Demokratie nicht die Tat, sondern die Sprache zur alles bestimmenden Maßeinheit. Und der Sprechakt ist in Zeiten von Framing und propagandistischen Informationskriegen mehr Gesetz als die Gesetze selbst. Dabei ist das Grundgesetz der Willkür der Mächtigen ausgesetzt. Doch wer so grundsätzlich willkürlich agiert und definiert, wer sich auf die Grundgesetze berufen darf und wer nicht, hat das Grundgesetz nicht verstanden oder instrumentalisiert es in zweifelhaftem Maße. Deswegen bin ich teils fassungslos, wenn sich etwa Grüne zur Feier des Tages dazu ermutigt fühlen, öffentlich aus dem Grundgesetz lesen zu wollen und noch vor drei Jahren jenen Pfefferspray und Schlagstöcke und die Faust auf´s Maul wünschten, die es zu Corona-Zeiten ebenso taten. Egal, ob da Notstandslage drauf stand oder nicht.
Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie sie in letzter Zeit vermehrt an Bedeutung gewinnen. Die selektive Auslegung des Grundgesetzes gleicht dieser Tage einem Dammbruch. Wäre Corona nie passiert, würden wir heute wohl nicht so grundsätzlich debattieren oder es an uns reißen, während wir Andersmeinenden am liebsten Grundrechte absprechen wollen. Corona hatte aus Gerede, das man vorher noch abwinken konnte, Taten gemacht; es ist beschämend zu wissen, dass selbst in einer Demokratie das Grundgesetz in Teilen der Bevölkerung Auslegungssache ist. Wer sich für „gut“ hält, darf es haben, alle anderen sollten nach allen diktatorischen Regeln der Kunst entrechtet werden.
Wenn ausgerechnet die Gatekeeper der Demokratie dieser Tage dem fundierten Grundrechtsverständnis diesen Bärendienst erweisen, ist der Werteverlust im System, mit all seinen Begleiterscheinungen, nicht mehr zu leugnen. Und so muss sich das Geburtstagskind nun mit einer heillos zerstrittenen Gästeschaft herumschlagen. Es war fast abzusehen, dass die Feier zum Jubiläum unserer Fundamentalrechte ein unwürdiges Spektakel mit zwangsläufigen Grabenkämpfen werden würde. Irgendwie fehlte die feierliche Würde, das Gute hervorzuheben, ohne anmerken zu müssen, wie gefährdet das Grundgesetz heutzutage sei, nur weil die „Falschen“ sich auf es berufen. In diesem selektiven Rechtsverständnis konnte die Geburtstagsfeier nur scheitern – zum Glück lud ich mich davon aus und war wenigstens in Gedanken bei dieser Schrift der guten Absichten, die man nicht nur zu runden Geburtstagen mal wieder hervorkramen und selbstzweckhaft präsentieren kann. Es ist ein Band der Werte, das man tagtäglich beherzigen müsste, nähme man es auch ausreichend ernst.
Auch deswegen habe ich mich selbst ausgeladen – nicht, weil ich etwas gegen den Anlass oder das Geburtstagskind etwas hätte (ganz im Gegenteil), sondern weil ein Teil der Gäste aller Vorraussicht nach die Party zum Scheitern bringen würden. Dazu brauche ich nicht den Anlass geben, indem ich meine Ablehnung gegen sie persönlich überbringen müsste - das schaffen sie schon aus eigenem Antrieb. Wie man aktuell in vielerlei Ausprägung bezeugen kann.
Das arme Geburtstagskind. Das hat es nicht verdient.
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