Geschmacksalgorithmus
Über der gesamten Thematik steht – und das will ich nicht unter den Teppich kehren – immer noch der Geschmack. Geschmäcker sind immer verschieden - so viel Bauernregel muss schon sein, die immer als höchster Richtwert in der Kunst gilt und gelten soll und sicherlich nicht nach starren Kriterien funktioniert.
Das Problem heute ist demnach nicht, dass man sich über Geschmäcker groß streiten müsste. Eher muss man sich darauf einschießen, dass die Popkultur und die Industrie dahinter die Auswahlmöglichkeiten beschränkt – eben durch Hypes, gezielte Werbung oder das heutige Risikomanagement im künstlerisch-industriellen Komplex. Die Industrialisierung der Kunst, sie mit gewissen Regeln zu überdecken und die Vielfalt so einzuschränken, ist zwar kein neues Phänomen, aber können die Kunstprodukte auch für sich stehend und stellvertretend dafür sein, dass beim Konsumenten ein Missempfinden durch Unkenntnis im Gesamtangebot einsetzt.
Mich beschleicht sich nämlich schon der Eindruck, dass gerade im digitalen Zeitalter und in der exzessiven Nutzung von Smartphones die Bewerbung und die Algorithmen dafür verantwortlich sind. Denn: Wer nimmt sich denn noch groß die Zeit, auf Plattformen wie Bandcamp zu stöbern wie man das einst im Plattenladen getan hatte? Wer schaut sich gerne Filme an, die bei Amazon Prime erst ganz hinten in der Empfehlungsliste auftauchen? Und das ganz unabhängig vom Werbungsritus, der dazu drängt, ein „Must-have“ vorzuziehen?
Man muss schon geschmacklich gefestigt oder eine überzeugte Sammlerseele sein, um dieser Psychofalle zu entgehen. Auch zeitliche Gründe spielen dabei eine Rolle, dass wir mit der schieren Masse an Mainstreamprodukten bepflastert werden, die man natürlich vorrangig konsumiert – da folgt schon zeitnahe die nächste Welle „Must-haves“. Und so fallen alle Kleinkünste wie Nischenprodukte durch das Raster, die vielleicht mehr inhaltliche Wirkung erzielen oder nur die Tugenden der Kunst bedienen, die das Gesamtkonzept Kunst heute eigentlich (wieder) bräuchte.
Wahrer Kult
Kommen wir noch mal auf das handwerkliche Geschick zurück. Die vier Akkorde in „Für immer Frühling“ sind nur stellvertretend für popkulturelle Minimalisierung und die Submessage, die da besagt, Kunst sollte doch etwas von allen für alle sein. Nicht nur als Abnehmer, sondern auch als gestaltende Kraft, und wir werden in schnelllebigen Zeiten keine neuen Mozarts mehr hypen können, in denen komplexe Werke noch nachhaltig populär würden. Jedoch kann man es nicht dadurch abtun, ein paar schlichte Leitlinien zu vermitteln und die Standards derart herabzusetzen, dass jedes Hip-Hop-Gewummer, ohne ein Instrument zu beherrschen oder wenigstens Gesangstalent zu haben, gleich die Charts stürmen darf. Bei Bedarf kann man ja jede schiefe Note mit teurer Software „verbessern“ oder zur Sicherheit die Stimme gleich ganz verändern. Im Film ist das ähnlich – so obliegt es meist nur der Postproduction, wie stilbildend die Kunstprodukte sein werden, und das ist wieder mit Reglementierungen verbunden. Die eigene Handschrift eines Regisseurs wird zum Beispiel immer unwichtiger, und so unterscheidet man etwa nur noch zwischen großen Studios, die nach der Drehphase Greenscreens überdecken müssen.
Nur sehr selten ist heute noch ein Trendsetting zu beobachten, das durch einzelne Kunstschaffende autark für Aufsehen sorgt. Selbst in einem einst subversiven Genre wie Heavy Metal fehlt es heute an Charakteristika wie ich es in meiner Jugend noch erfahren durfte. Die Experimentierfreude und was hinten raus kommt fehlt mir zusehend, das Verschrobene, Sympathische, vielleicht auch mehr schlecht als recht Produzierte ist auch in meinem Lieblingsgenre abhanden gekommen. Dieses Verlangen scheint nicht nur bei mir wieder hochzukochen, und dann freut man sich wie Bolle, wenn etwa alte Helden alte Lieder spielen, die Jahrzehnte später immer noch Kultcharakter haben. Und gleichzeitig darüber lacht, was man heute teils als „Kult“ bezeichnet.
Ich kenne etwa niemanden, der Bands wie Queen wirklich hasst – ist per Definition also kein „Kult“, wie es ein Moderator im Radio schon bezeichnete. Queen hatte wohl eher das Kunststück vollbracht, von jeder Geschmacksseite aus Respektsbekundungen zu empfangen. Sicher trägt auch das Handwerkliche, Experimentierfreudige und dadurch Abwechslungsreiche dazu bei, während es heute beinahe ausreicht, sich Auszüge aus Einzelsongs anzutun, um das klangliche Spektrum eines Albums oder gleich eines Kunstschaffenden zu beschreiben. Deswegen irritiert mich etwa Taylor Swifts Megastarstatus doch sehr stark, die mittlerweile zur Lionel Messi der Musikindustrie geworden ist und sich heute zur Abonnentin von Music Awards küren darf. An der Musik selbst ist jedenfalls nicht herausdeutbar, warum man ausgerechnet sie mit Preisen überhäuft. Man ist sogar geneigt zu mutmaßen, dass reiner Personenkult über dem des Produkts steht, und wenn die Masse das Interesse an ihr verliert, steht schon die nächste in der Warteschlange oder wird gerade dafür vorbereitet.
Inkludiert und abgehängt
Um nicht gleich als ausgrenzender Elitarist der Künste gescholten zu werden (was ich letztlich doch ignorieren würde), halte ich es zumeist so, dass alles als gute Kunst bezeichnet werden kann, was individuell Gemüter berührt. Das können minimalistisch-elektronische Soundbänke sein wie auch frickelige Elfminüter im Jazz-Keller. Und doch verlange ich eine gewisse Kunstfertigkeit und Aussagekraft in den Produktionen. Die reine Trittbrettfahrerei gehört weniger dazu, doch darauf begründet sich nun mal zum Großteil der Erfolg des Mainstreams, ergo der Popkultur, die – wenn man es genau nimmt – schon in den frühen Nachkriegsjahren einen rein kapitalistischen Anstrich erfahren hat und sich dem Prinzip unterwirft, mit so viel so schnell wie möglich den Markt zu überschwemmen.
Dass sich das über die Jahre und Jahrzehnte nur verfeinert geschweige denn intensiviert hat, ist selbstredend, und je weiter dies gedeiht, um so öder werden auch die Releases. Der Elitarismus von heute tut sein Übriges darin, die Bandbreite immer weiter zu verringern, sei es durch die Bequemlichkeit, mit wenigen Noten Hör- und Sehberieselungsgewohnheiten zu befriedigen, oder indem man sich in einer Blase niederlässt, die nur das thematisiert, was sie abgeschottet so umtreibt.
Soffies Kurzzeiterfolg ist darin nur die Speerspitze eines seltsam anmutenden Verständnisses von Kunst. Die Debatte um Vielfältigkeit hat sich heute gar auf Struktur und Personal verlagert, die Diversität der Produkte hingegen wird völlig vernachlässigt. Parallel dazu senkt man auch noch das Niveau ab, ähnlich wie es in Schulen zu beobachten ist, um die Schwachen nach eigenen Angaben nicht abzuhängen. Doch dass man dadurch weniger Lehrstoff vermittelt und sich zu sehr mit Befindlichkeiten der Schülerpsychen auseinandersetzt, dürfte im Schulbetrieb wie auch in der Kunst dazu führen, kaum noch Genies und Talentierte explizit zu fördern. Das passt auch zu Hip-Hop und Rap, was man sozusagen inkludiert hat, um dem ärmlichen Proletariat ein Stück vom großen Kuchen abzugeben. Alle anderen, die in den Branchen Fuß fassen wollen, assimilieren sich dem, versuchen sich risikoreich selbst daran oder lassen ihre Fähigkeiten desillusioniert verkümmern.
Wagnisse vor und hinter den Kulissen
Wenn wir uns also mehr auf die Aufstellung des Personals fokussieren denn auf die Qualität der Produktionen, brauchen wir auch keinen Gedanken um unsere Wettbewerbsfähigkeit mehr zu verschwenden. Wir haben jüngst im Sport schon genügend Erfahrungen darüber gesammelt, dass wir gar nicht erst anfangen sollten zu lamentieren, warum wir unsere einstigen Trademarks, die uns ziemlich viel Respekt eingebracht hatten, heute kaum noch wiederfinden. Wenn wir im Sport mehr auf unsere politischen Statements, die individuelle Selbstvermarktung und Trikotfarben geben denn auf die Leistung im Spiel, brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn wir in allen möglichen Ranglisten nach hinten durchgereicht werden.
Wir sorgen sogar selbst dafür, unsere Exportschlager irgendwie moralisieren und somit willens beschädigen zu wollen. Die Debatte um die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Till Lindemann sind nur ein Beispiel. Das Groupieprinzip hat sich eben mal in der Nische durchgesetzt und ist sicher keine reine Täter-Opfer-Sache. Wer Groupie sein will, setzt eventuell bewusst auf sehr unasketisches Treiben. Deswegen wäre es sinnvoller, Kinder und junge Menschen auf solche Eventualitäten vorzubereiten anstatt gleich die gesamte Musik mit Moralismus zu überziehen, weil manche in ihrer Naivität in etwas hineingeraten, was sicher anstößig bis strafrelevant sein kann, aber bei entsprechender Vorkenntnis wie Durchsetzungsfähigkeit so nicht hätte passieren müssen. Noch schlimmer, wenn man Rammstein einen latenten Rassismus mit vorwirft, aber die Ironie dahinter nicht versteht.
Nun wirkt dies wie aufgewärmte, längst verstummte MeToo-Debatten, die wie so vieles ihre Ursprünge in den USA hat. Auch dort dominiert eine wirtschaftlich aufgestellte Struktur künstlerischer Institutionen (etwa Hollywood, das nicht umsonst „TraumFABRIK“ genannt wird), die viel Hierarchie und Machtgefüge in sich tragen. Mit Harvey Weinstein und den Vorwürfen setzen sich Gerichte bis heute auseinander, was bei einem erfüllten Straftatsbestand richtigerweise aufgearbeitet wie sanktioniert werden muss. Doch läuft man mit der Verbreitung solcher Skandale auch Gefahr, der Trittbrettfahrerei Tür und Tor zu öffnen und somit die gesamte Handlungsfähigkeit des Films zu beschädigen. Das zeigt sich dann in den Auswüchsen auf Streaming-Portalen, die sich nun in Eigenproduktionen plötzlich allzu häufig mit Minderheitenproblemen befassen, die für viele langweilig und uninteressant sind.
Etwas konkreter durfte etwa Oliver Stones Politthriller „JFK“ erfahren, was passieren kann, wenn man zu sehr an der Heroisierung einer Staatsmacht oder Ideologie kratzen will. Hier wurde der umgekehrte Weg gegangen, denn hatte bis dato kaum jemand auf dem Schirm, dass die offizielle Version des Einzeltäters eventuell nicht haltbar ist. Dass der Film nun mutmaßte und die offizielle Version auf Fehler abklopfte, brachte sogar die Realpolitik auf den Plan, sich dem Attentat auf John F. Kennedy doch noch mal widmen zu müssen. Mit der erstaunlichen Konsequenz, dass nun eine Art Vorprüfung aller politischen Filme stattfindet – so viel zur Freiheit der Kunst, wenn sie sich mal an heiklen Realereignissen vergreift oder der patriotisch-verklärten Selbstbeschau der USA allzu kritisch gegenüber aufstellt.
Nicht nachhaltig
Nachdem solche Eklats wie viele andere an den Grundfesten der Kunst rüttelten, machen sich nun Selbstzensur und Gesinnungsvorprüfungen breit. Irrigerweise gibt es tatsächlich etwas Politisches im Unpolitischen, das sagbar ist – nein, gar noch mehr: es wird zur schlagseitigen Grundvoraussetzung erkoren, so dass die Kunst selbst völlig ihre Relevanz verliert, indem sie sich selbst die Krallen abfeilt. Also wirkt die Schere im Kopf sehr effektiv, bevor man nicht nur nicht mehr finanzkräftig unterstützt wird, sondern auch noch aktiv denunziert und via (Online-)Kampagne boykottiert. Es hätte auch anders laufen können, indem man – gerade in den Führungsetagen, die Ausgrenzung einfach ignorieren würde, doch ist man wohl auch in dieser Hinsicht nicht bereit, zum Äußersten zu gehen und verkrümelt sich lieber in der wohligen Finanzdecke wie vor der eigenen Courage. Noch schlimmer wird es, wenn Schweigen, also eine neutrale Grundhaltung, schon als boykottierungswürdig angesehen wird und weiter vor den Shitstorms einknickt.
Dies soll kein pauschaler Vorwurf sein, denn ist mir bewusst, was man dabei auf´s Spiel setzt. Doch dass gerade diejenigen für Repressionen trommeln, die wohlgebettet unter dem Schirm der Obrigkeiten stehen, stellvertretend für das Missverhältnis stehen, Unbedarfte öfter in eine Konformität des Narrativs zu zwängen. Und: wer tatsächlich denkt, man müsse in einer Akademie eingeschrieben sein, um Vier-Akkorde-Popmusik machen zu können, hat wohl die Karrieren vieler Selfmade-Stars nicht kennengelernt. Und dazu gehört ein Maß an Hemdsärmeligkeit statt im Konsensbällebad gratis(mutig) Lorbeeren einzuheimsen geschweige denn nur das zu liefern, was Autoritäten vorgeben.
So lässt sich wiederum eine Brücke zu unseren Jahrhundertkunstschaffenden schlagen. Entweder waren die völlig un- oder nur sehr unterschwellig politisch, oder sie trauten sich zu, Dinge kontrovers wie tiefgründig anzusprechen und somit nicht nur auf schnellen Erfolg zu schielen. Das ist so ein Unding der Neuzeit, auch strukturell bedingt, was heute sogar ganze Plattformen oder Branchen betrifft. Letztlich geht es zu Lasten von Nachhaltigkeit, Diskussionsstoff und den Geist der Neugier – vielleicht sogar des gesellschaftlichen Gefüges, Interesse an Kontroversen, Tiefsinnigkeit und dem „Dreck“ zu wecken, der zwar ekelhaft und abstoßend sein mag, aber auch mehr bildet als durch Abschottung, Ausgrenzung und Schönrederei, die man nur noch umgangssprachlich, marginalisiert, fragmentarisch, ich-emotionalisiert wie scheinakademisch organisiert und bereitstellt. Damit wird jenes, was hinten rauskommt, für den Moment Hochgefühle wecken, langfristig allerdings kaum. Goethe, Schiller und Co. lachen sich auch heute noch ins Fäustchen. Oder rotieren angewidert im Grab, was aus der Kunst in ihrer Heimat geworden ist.
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