Neues von der Radio-Front bei hr1. Bei aktuellen Themen könnte die Orientierungslosigkeit kaum größer sein. Zwar wird immer noch gegen den Russen getrommelt, als wäre es kurz vor Stalingrad, aber das ist auch das einzige Thema, bei dem die große Mobilmachung fast schon langweiligen Schachtelsätzen folgt. Russland wird auch weiter das große Ding bleiben, da bin ich mir sicher. Und Russland bedeutet mal wieder sehr viel im westlichen Selbstbeömmelungsmodus, wie stark, vereint und (…einen Räusper- und Hustenanfall später...) frei wir doch sind. Und doch blitzt immer mal wieder durch, dass man ja doch nicht so erfolgreich ist wie erhofft. Von „die Sanktionen wirken“ ist der Mainstream, so weit ich informiert bin, mittlerweile genauso weit entfernt, das zu behaupten, wie diese träge Erkenntnis, dass man auch mit der Schlumpfung niemanden so mal gar nicht vollumfänglich schützt.
Nun stellt sich das im Israel-Gaza-Konflikt schon ganz anders dar. Da versucht der Westen tatsächlich, zur Mäßigung aufzurufen, übernimmt die Rolle des resthumanitären Vermittlers. Auch wenn man immer noch die Legitimation der Selbstverteidigung um sich wirft, werden die Bedenken, den Judenstaat mal machen zu lassen, so langsam immer größer. Es muss schon als Fortschritt gewertet werden, dass ab und zu im Radio-Nachrichtenteil Todeszahlen im Gaza-Gebiet genannt werden und die UN und involvierte Organisationen darin relativ informativ neutral bleibt. Offenbar ein Thema und eine Konstellation, die der Politik in ihrer mometanen Aufstellung zu heikel wird, wie rachsüchtig der israelische Gegenschlag den Nachbarstaat mal so richtig plattmachen will. So bleibt es bei ein paar Worthülsen und das einzige Themengebiet, in dem sich Konservative mal zur Abwechslung geschlossen frontal gegen den politischen Gegner positionieren.
Die Lage ist derart konfus, dass man den rechtskampagnisierten „Antisemitismus“-Vorwürfen nicht zu viel Relevanz geben kann. Gleichzeitig wird dann noch hierzulande schon zum Kalifat ausgerufen, was man sicherlich nicht mal schnell mit „Demokratie verteidigen“ wieder überstreichen kann. Und schon befindet man sich – gerade „links“ und das linksliberal tendierende Mainstream-Spektrum – mittendrin, wo die Schwerter sich kreuzen. Sicher nicht die angenehmste Positionierung; das mag auch das Schweigen erklären, sich selbst in den Öffentlich-Rechtlichen nicht allzu weit aus dem Fenster zu lehnen. Da schwelt gerade ein Kernthema, das man heute als Kulturkampf kennt.
Apropos Kulturkampf. Mittlerweile ist das Wort auch mit Wokismus besetzt, und da hat das Radio mich letztens in positives Entsetzen versetzt. Ich habe Bauklötze gestaunt. Konkret wird in der hr1-Mittagssendung über die Weltlage und das Zeitgeschehen geredet, und je nach Tageslaune und meinen persönlichen Überzeugungen geschuldet empfinde ich die mal gut, mal schlecht. Klar, Blaseneffekt. Viel erwarte ich da nie, weil man ja die Mainstream-Narrative kennt und eine abweichende Meinung nicht allzu oft Platz findet. Und das ist noch je nach Thema schon sehr diplomatisch ausgedrückt, siehe oben. Doch scheint sich bezüglich des Wokismus ein Umdenken eingeschlichen zu haben, denn am Dienstag präsentierte man – man glaubt es kaum! - Esther Bockwyts Buch „Woke – Psychologie eines Kulturkampfes“. Die Autorin hat man dazu noch interviewt. Kein Witz. Und der Oberhammer vom Moderator Klaus Reichert: er empfahl das Buch auch noch! „Sehr interessant“, he said so ungefähr. Ja, ich bin immer noch von den Socken. Kurz darauf spült mir Facebook noch die algorithmische Empfehlung eines Sternartikels zu, in der Frau Bockwyt ebenfalls interviewt wird (Streitgespräch). Jetzt tritt mich auch noch ein Pferd.
Andererseits lache ich laut auf, weil der Verlag, der einen Rückzieher machte und sie cancelte, sich wahrscheinlich jetzt in den Arsch beißen dürfte. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, erwähnte Frau Bockwyt einen „evangelischen“ Verlag, den sie namentlich jedoch nicht nennen wollte. Das reicht mir aber auch aus, den Zustand der christlichen Kirchen hierzulande ziemlich zu verdeutlichen. Gerade die protestantischen lehnen sich in letzter Zeit gerne dem Mainstream an, und damit tun sie sich in der Kulturkampf-Konstellation keinen Gefallen. Weder das „Gott ist queer“-Gesabbel noch der Cancelwahn, wenn es um die AfD geht, ist ein Positionierungsfuror, mit dem die einst so gemäßigte Kirchenorganisation nicht nur Zuspruch ernten dürfte. Aber auch in ihr ist seit dem C-Thema nichts mehr so, wie es mal war, Kirchenaustritte sprechen hier, nicht nur im Katholizismus, eine deutliche Sprache.
So führt der rote Faden wieder von einem Thema zum anderen, und das finde ich nicht unbedingt schlecht. Es sind auch die kleinen Erfolge für das kritische Lager, die man honorieren sollte, und „nur“ bei der Russland-Thematik muss man sich immer noch anstrengen, die westliche Propaganda auf Fehler abzuklappern. Alles andere weht fast schon von selbst in alle Winde und bildet nun keine Einheitsfront mehr, in die sich vor allem die „Linken“ bequem verkrümeln könnten. Es gibt höchstens noch die sogenannten „Realos“ von links, die aber mal so gar nicht realo sind, sondern auch nur die Arschkriecher der öffentlichen Relevanz. Wenn Antifa-“Links“ sich auch weiter so scheuklappenmäßig auf die Seite Palästinas stellt und keine kritischen Worte für die Hamas findet, wird sie schon automatisch nicht mehr beim Mainstream geduldet werden. Die „Realos“ hingegen geben immer noch ihre Restwürde an der High-Society-Garderobe ab und schmeißen gerne mal der opportunistischen Gefallsucht wegen inflationär mit „Antisemismus“-Vorwürfen um sich.
Mittlerweile finde ich es sogar wieder sehr unterhaltsam, dies zu verfolgen. Hier und da gibt es immer wieder Anlass, sich aufzuregen, aber wenn dann wie diese faustdicke Überraschung im hr-Radio und themenübergreifend wieder zu mehr Differenzierung führt, darf man das ruhig auch mal positiv erwähnen. Manche werden mir wahrscheinlich die C-Debatte wieder zuspielen und wie sie immer noch als Gefahr in den Startlöchern steht. Ja, das ist richtig, und ich bleibe diesbezüglich auch weiter wachsam. Auch empfinde ich die Russland-Verteufelung höchst verwerflich, und auch da muss man weiter am Ball bleiben, den sabbernden Kriegstüchtigen weiter auf die Finger zu klopfen. Aber gibt es durchaus Nebenschauplätze, in der die Situation so gar nicht eindeutig ist und der Mainstream gar keine Möglichkeit hat, das allzu versessen in eine Deutungsrichtung zu lenken. Und das lässt aufhorchen, wenn man über Bande auch an die Kernkrisen herantreten kann, so dass auch die „linken“ „Realos“ wie Ulrike Herrmann ihrer Anbiederungsstrategie, gleich Atombomben horten zu wollen, die Leviten zu lesen.
Es ist zwar auch die deutsche Trägheit, dass sich Debatten nicht gleich in Urvernunft verschieben, aber es bewegt sich noch. Jedes Gegensteuern für die Beibehaltung der Deutungshoheit bringt nur weiteren Unmut herbei, und das ist das, was ich gerne als Karma bezeichne. Man muss nicht immer Gleiches mit Gleichem vergelten – man muss nur geduldig sein, wenn man einigermaßen alle Tassen im Schrank hat. Die Natur gewinnt ja auch immer; sie braucht halt nur ihre Zeit.
Nachtrag: Wie auf´s Stichwort werden nun zum Europa-Wahlkampf Politiker angegriffen. Natürlich muss man das nach dem Gut/Böse-Prinzip betrachten, und so allmählich glaubt man gleich alles oder am besten gar nichts mehr. Abgesehen von der Erkältung, die mich im Moment etwas plättet, ermüded mich die aktuelle Entwicklung. Egal, wie gefährlich sie anmuten mag.
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