Wann war eigentlich der Zeitpunkt, an dem ich jeweils mit dem Deutschtum brechen wollte? Da gäbe es sicherlich einige zu verschiedenen Anlässen. Nennen Sie mich ruhig rückständig und unnahbar gegenüber Neuem – aber wenn das Neue im Vorfeld schon keine Bezugspunkte liefert geschweige denn nur nervig, übertrieben und im Zeitgeist völlig ausgeufert wirkt, muss man sich bestimmt nichts aus einer Entwicklung herauswürgen, um dem noch etwas Gutes abzugewinnen.
Da ist es mir auch egal, wem ich auf die Füße trete. Normalerweise betrachte ich etwas Aufkommendes zuerst einmal neutral, bevor ich mich zu einer persönlichen Einschätzung bewege - selbst diese Herangehensweise scheint manche schon zu irritieren und mich selbst ins gruppendynamische Abseits zu manövrieren. Sofort für oder gegen etwas zu sein, scheint die einzig legitime Gangart zu sein, völlig ignorierend, dass dieses Schnellschussdenken oftmals negativ auf einen selbst zurückfallen dürfte. Ich fühle mich eigentlich sehr wohl dabei, zuerst nichts zu sagen und Einschätzungen nach dem Gedankenfiltern abzugeben. Dann weiß ich aber auch, dass ich auch später weit seltener in die Zwickmühle gerate, mich für frühere Aussagen auch noch rechtfertigen zu müssen. Man kann es auch anders ausdrücken: Meine Fehlerkultur ist im Großen und Ganzen darauf basierend, dass ich meine Fehler im Vorfeld schon mit mir selbst ausmache, bevor ich etwas nach außen öffentlich vortrage.
Ich mag das mal an verschiedenen Beispielen etwas verdeutlichen. Nehmen wir nur politische Zugehörigkeit als Stichpunkt, habe ich schon öfter dazu Stellung bezogen, zumindest wie mich das über Jahrzehnte beschäftigt hat und welche Fehler im System wie auch in meiner Wahrnehmung noch heute an mir knabbern. In meinem Elternhaus war nämlich der Geist der alten SPD immer dominant gewesen. Als Kind saugt man das wie die Muttermilch in sich auf und behält es auch in sich. Tja, dann kam Schröder auf, gewann die Wahl. Man war völlig aus dem Häuschen und wurde danach bitter enttäuscht.
Was heute noch von der Partei übrigbleibt, betrachte ich abwechselnd verabscheut bis zum Brechreiz und gleichzeitig fasziniert wie eine zerfetzte Leiche. Die wurde von allen Seiten zerrupft, fast schon ohne Gegenwehr, die sich nach dem Irak-Nein schnell hat zerreißen lassen. Danach kam noch eine lange Phase eines Dahinvegetierens dazu, mit abgerissenen Gliedmaßen mehr untot als handlungsfähig mit Schläuchen einer Merkel-Blutkonserve künstlich am Leben erhalten. Warum das bei mir mit der schockierenden Allegorie aus dem Roman/Film „Johnny gets his gun“ zusammenläuft, könnte man bösartigerweise mit deren heutiger Kriegshysterie in Verbindung bringen.
Um beim Thema zu bleiben, habe ich damals genau diese Beobachtung als böses Erwachen in meinem Leben auserkoren. Es ging über in eine Ära der Heuchelei, all die Versprechungen stellten sich als Luftnummern heraus, und das ausgerechnet in einer rotgrünen Regierung, die man wertebasiert mal als DIE Alternative zum schwarzen Filz angesehen hatte. Das mag naiv klingen, vielleicht aber auch eine bittere Erkenntnis sein, die man unweigerlich im Erwachsenwerden macht. Trotzdem hätte man sich selbst im fortgeschrittenen Alter nicht träumen lassen, die Partei in ihrer heutigen Aufstellung derart verkommen vorfinden zu müssen. Die nur noch von ihrer Beflaggung und dem historischen Leitbild lebt – man fragt sich, wer hier das Naivchen ist, wenn heute noch Menschen der Partei ihre Stimmen rein nach dem Etikett „Arbeiterpartei“ geben.
Es gibt auch andere Bereiche, die mich in diese Desillusionierung trieben. Die Popkultur wäre da ein weiteres Beispiel, die ihren bisherigen Freiheitsanspruch selbst an der Kasse zum großen Trogfressen abgegeben hat. Mir will etwa gar nicht mehr in den Kopf, wie widersprüchlich sich ganze Kunstbranchen geschweige denn alte Helden heute aufgestellt haben und warum man sich dazu noch – und hier ist die Brücke leicht geschlagen – politisch eben nur nach Etikett orientiert. Alte Helden – damit meine ich konkret Die Ärzte oder Die Toten Hosen. Lange habe ich für erste noch eine Lanze gebrochen, weil es sicherlich einem Selbstzweck geschuldet war, zum Impfen aufzurufen, nur um einen Dauerlockdown zu beenden, der ihnen ihre Grundlage entzog. Doch heute und im Zuge ihrer wahltaktischen Veröffentlichung ihres „Demokratie“-Videos kann ich auszugsweise nur noch die Textstellen bestätigen, die Farin Urlaub solo im Song „Fan“ anspricht. Keine Ironie darin. Ich war mal ihr Fan, doch das ist lange her. Campino kann derweil gerne seinen Wehrdienst nachholen. „Thomas gets his gun“. Veränderung gut und schön, aber einen derartig krassen Gesinnungswandel hat wohl niemand erwartet.
Man liest zuweilen, dass die eh nie wirklich Punk gewesen waren, was bis zu einem gewissen Grad stimmt, aber selbst die „echten“ Punks von einst sind mir fremd geworden. Und die tun als neue Generation einer Neo-Antifa das, was die Ärzte damals als „Schrei nach Liebe“ in Richtung des ideologischen Feindes krischen: Gewalt (NSU, Lübke) mit Gegengewalt (Hammerbande, Messerattacke) beantworten. Und beklatscht heute mehr oder weniger heimlich, dass AfD-Politiker und Nazis nicht mehr demokratisch, sondern unzivilisiert nach Gesetzen des Dschungels traktiert werden. „Mit allen demokratischen Mitteln bekämpfen“ hat so keinen Stellenwert mehr, wenn man für das „Gute“ alle Werte- und Rechtsgrenzen ignorieren kann und von Teilen des Volkes auch noch dazu angestachelt wird.
Notwehr ist eine Sache, aber Präventivgewalt zum „Erhalt“ der Demokratie ist keine Demokratie mehr. Wenn Kunst und Kultur dafür in erster Instanz und mit dem Segen der Macht jede Hemmung verlieren darf, ist auch die Demokratie im Kern nichts mehr wert. Dass es so weit kommen konnte, ist nicht nur ein Problem bei uns, sondern auch im globalisierten Westen, der einen Kreuzzug des Wokismus zu beklagen hat. Das Phänomen kennt nur die Grenzen von Staatsformen wie eben der Formaldemokratie, und wir als 40-plus-Generation haben den alten Filz zwar abgetragen, aber kein Machtwort mehr gegen die Nachfolgegeneration gesprochen, die unser Wertebild ein bisschen zu wörtlich genommen und zu idealistisch aufgefasst hat. Vielleicht war dies auch nur eine Konsequenz aus unserer neu gewonnenen Offenheit und dem natürlichen Jugendrebellismus unserer Nachfahren, der uns zu früh und zu schnell entglitten ist.
Man ging damals mit einer Hoffnung ins Leben, was nichts mehr mit alten Rollenbildern gemein hatte. Irgendwann setzte sich auch der Feminismus durch, der weit andere Vorstellungen von Geschlechterzuteilungen hatte als noch das alte Gewäsch von „Der Mann verdient das Geld“ oder „Frauen gehören an den Herd“. Was sich allerdings heute als „Feminismus“ definiert, ersetzt nur das Patriarchat gegen ein Matriarchat. Heute können wir uns genügend Argumentation in Form von weiblich besetzter Stümperhaftigkeit, Kaltherzigkeit oder Selbstbedienungsmentalität herausziehen, um das eindeutig zu belegen: von Kleopatra über Margret Thatcher bis zu Patricia Schlesinger und Annalena Baerbock ist alles dabei, zu denen es auch ein männliches Pendant von Machtmissbrauch gibt.
Es obliegt also nicht den geschlechterspezifischen wie biologischen Eigenschaften, sondern den systemischen wie auch dem gesellschaftlichem Zeitgeist. Mir fällt es schwer, diese Systemauswüchse adäquat zu beschreiben, irgendwas zwischen neoliberal, kommunistisch-verklärt, kakisto- oder neuerdings technokratisch. Die, die jetzt die Hosen(anzüge) anhaben, schauspielern uns ihr Guttum vor und ziehen uns die Halskrause immer mehr zu. Immer häufiger unkt man damit, das Land zu verlassen, aber da mag kein Kandidat wirklich attraktiv und unabhängig genug sein. Ja, auch Russland oder China nicht. Wir sollten nur aufhören, uns als alternativlos und ach so frei hinzustellen, wir haben in Sachen Unfreiheit ordentlich aufgeholt.
Ich könnte, hätte ich im Moment Lust und Kraft dazu, weitere Beispiele aufzählen. Aber wechseln die Themen oft untereinander und sind auch immer Stoff für eine Debatte, die ich auch entsprechend kommentiere. Das was so als Gesamtpaket heutige Zeiten bestimmt, dreht sich sowieso kurz- bis mittelfristig im Kreis, und wer jetzt etwa Flüchtlingspolitik so handhabt, als wäre es etwas nie Dagewesenes, hat entweder was verpasst oder ein ziemlich schlechtes Gedächtnis bezüglich des Kritikwürdigen. Ich kann mich auch nicht an alles erinnern, was mir und uns so widerfahren ist, aber Wichtiges bleibt, alles andere war (mir) schlicht nie wichtig genug. Manchmal überrascht es dann, was anderen wichtig erscheint, da tut sich dann eine weitere Ebene in Kontroversen auf. Man könnte sich ja ehrlich machen und abwägen, ob man zum Beispiel so viel Energie auf Genderdebatten verschwenden muss, wenn das Glucksen, Schlucken und die schiere Plapperitis im Inklusionsmonolog ohne Zutun reine Realsatire wird. Da muss man sich nicht künstlich aufregen, das sollte sich in diesem Problematisierungseifer bald von selbst auflösen. Dabei ist nicht das Gendern selbst ein ernstes Ding, sondern wie man auf beiden Seiten der Fronten damit umgeht. Ein schmaler Grat, auf dem man da wandelt, würde man auch nur annähernd mit Fingerspitzengefühl an jedes Thema herangehen.
Neue Ideen halte ich also nicht per se für schlecht, aber ich nehme schon mal voraus, dass nichts davon wirklich neu ist. Es ist zumeist nur altes Zeug mit neuem Überzug. Das mag den Blogtitel dieser Woche Lügen strafen, hat aber in aktuellen Debatten durchaus Bestand, wenn die neue Agenda von „Transformation“ von „Progressiven“ schon daran scheitert, dass man das deutsche Muffel-Gen und das Pedantische in uns nicht mit überdrehter Freundlichkeit und aufgedrückten Smalltalks á la USA abstellen kann. Das wird niemals einen Mentalitätswandel in uns auslösen, und das sieht man an jenen, die noch ein wenig selbstverwirklichende Energie in ihr Leben stecken statt sich in prokrastinatorischer Opferhaltung zu verdrücken.
Die, die noch etwas voranbringen möchten, mögen in ihrer jugendlichen Unbedarftheit situativ häufig Schiffbruch erleiden, ständig Dinge an sich zu reißen und Leuten damit vor den Kopf zu stoßen. Dabei würde niemand etwas dagegen haben, wenn man vorher fragt und freundlich bleibt. Aber einfach alles an sich zu nehmen und den Besserwisser heraushängen zu lassen, war damals schon Mist und wird es momentan auch wieder sein. Das einzig Beständige tief in uns verleugnen wir momentan derart, dass es automatisch herausplatzt, wenn es zu lange unterdrückt wird. Und das währt ewig, anders als dieser innere Geltungszwang, damit nicht mehr leben zu wollen. Es wird uns also nichts anderen übrig bleiben, diese Trademarks endlich zu akzeptieren. Das trifft auch auf die Post-68er zu, die vielleicht im zivilisatorischen Sinne etwas verändert hatten, aber alleine durch kaum definierbare Naturgesetze anteilhaft oder gar ganz so waren/sind wie alle Deutschen, die mal gelebt und vorgelebt haben.
Und ja: den Schuh muss ich mir auch anziehen. Man kann sich ja schlecht selbst entkommen, wenn man sein erwachsenes Selbst in eine andere Gegend bringt. Entweder hat man es oder man hat es nicht, und eine späte Umformung der Persönlichkeit ist für meine Begriffe nicht mehr drin. Deswegen bin ich diesen Schritt des Auswanderns nie gegangen. Das ändert aber nichts daran, dass ich das Deutschsein trotzdem nicht leiden kann. Auch an mir selbst.
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