Kaum sind die Schulferien rum, nimmt der Verkehrswahnsinn wieder seinen Lauf. Es ist gerade mal Montag Morgen, und ich gerate in einen Mordsstau – komplette Fahrbahn gesperrt, Wegleitung über eine Ausfahrt. Wenn man mittendrin steht und nur eine von vielen Radiomeldungen mitbekommt, denkt man sich sonst was aus: Sind mal wieder Deppen auf der Linksspur in ihrer drängelnden Ungeduld ineinandergefahren? Hat jemand Scheiße bei der Autobahnauffahrt gebaut? Man rechnet mit vielem, irgendwas zwischen Leichtsinn, Spontanaktionen, Ellenbogenidiotie oder Dummgelaufe. Aber dass der Grund ein reifenwechselnder Kleintransporterfahrer auf dem Seitenstreifen war, der dann vom Sattelschlepper erfasst wurde und... boah, nee, da ist man froh, das nicht mit angesehen haben zu müssen. Armer Kerl.
Automatisch dachte ich auch an früher, als ich selbst mal einen Platten hatte und auf dem Seitenstreifen meinen Reifen tauschte. Ja, da war auch dieses extrem mulmige Gefühl dabei, wenn der Fahrtwind von LKW-Kolossen deine Standfestigkeit testet. Echt nicht zu unterschätzen, und wenn dann noch ein wahlweise übernächtigter, besoffener oder einfach nur abgelenkter Brummifahrer zu nahe kommt, stehen die Chancen auf unbeschadete Pannenaktionen nicht besonders gut.
So etwas hebt ein sicher geglaubtes Leben aus den Angeln. Natürlich zuerst die direkt Beteiligten, in Ausübung ihrer Pflichten oder auf dem Weg dorthin, aber wer damit weiterleben muss, hat den nachhaltigeren Schaden. Man hofft nie, in solche Situationen zu geraten, aber wenn doch, steht man am Scheideweg zwischen Schuld und Sühne, muss das Unweigerliche irgendwie verarbeiten. Manche können das nicht (gut) verkraften, und das ist eine Tragödie sondergleichen. Opfer, „Täter“, Angehörige, alle darin Involvierten.
Bei solchen Sachen komme ich ins Grübeln. Wie geht man mit diesem Bewusstsein um, es könnte ohne Vorankündigung zu Ende gehen? Vom LKW erfasst zu werden oder – wie mir in der Vergangenheit mal untergekommen – ein Herz hat einfach keine Lust mehr zu schlagen. Da spielt man mit Freude Fußball, und ein Mitspieler bricht einfach so vor deiner Nase zusammen. Steht nicht mehr auf. Rührt sich nicht mehr. Fällt einfach wie ein nasser Sack um. Reanimation erfolglos. So eine Sache aus dem Fundus „Plötzlich und unerwartet“, lange bevor sie trendete. Wobei der damalige Vorfall kaum oder gar nicht nachvollziehbar war – die heutige Umfallerei jedoch schon.
Ist man davon nicht betroffen, sind einem die Entwicklungen schon etwas suspekt. Es gibt momentan nichts Handfestes zu berichten, aber man orientiert sich dabei an Tendenzen und fängt an zu theoretisieren geschweige denn sein Vorwissen als Indiz anzubringen. Das Kollektivproblem entsteht erst, wenn eine lautstarke Gruppe von Menschen das als nicht überlegenswert abtut. Auch beim Thema Straßenverkehr sehe ich Tendenzen, und auch darin sehe ich eine Entwicklung, die man sich mal zu Herzen nehmen könnte.
Im Kundendienst ist man natürlich mehr unterwegs als nur ins Büro zu pendeln. Wer also werktags zu seinem örtlich gebundenen Arbeitsplatz fährt und privat nicht allzu oft ins Auto steigt, könnte das als nicht auffällig beschreiben. Ich nehme das als Vielfahrer dagegen ganz anders wahr. Und auch im Straßenverkehr werden Auffälligkeiten deutlich, die fast schon bedenklich normal wird.
Dazu ein Gesamtbild, das schon ein wenig politisch unterfüttert ist, obwohl Autofahren per se kein Thema von Parteipolitik oder Ideologie wäre. Von mir aus sind Grüne und Naturburschen und -burschinnen selbstredend mehr Auto-kritisch eingestellt, wobei das nach heutigem Stand so auch wieder nicht stimmt. Das Bildungsbürgertum von heute hat gerne große Klopper in der Garage stehen, und nicht selten muss auch jedes Familienmitglied individuell mobil sein. Zumindest dort, wo nicht alle fünf Minuten 24/7 eine Straßenbahn hält. Dass die auch dem Volkswillen familiärer Verpflichtungen nachkommen, Kinder in die Welt zu setzen und diese auch zu hegen und zu pflegen, wird dann auch zum Widerspruch, schaut man nur in die eigene Kindheit lange vor der Jahrtausendwende, als man sich noch alleine oder mit Freunden auf den Schulweg machte. Ein Konzept, das man heute gar nicht mehr vermitteln kann, da ja angeblich da draußen alle so böse sind und man die Kontrolle über Nachwuchs und Umwelt und etwaige Gefahren ja nicht verlieren will.
Also brauche ich nicht mal einen Kalender, um herauszufinden, wann Ferien sind. Ich muss nur die veränderte Verkehrsdichte erfassen und weiß, wann die Schulen geschlossen haben. Kaum vorbei, muss ich das in meine Fahrtzeit mit einrechnen, vielleicht sogar einige Minuten früher aus dem Haus, um nicht unpünktlich zu sein. Doch ist die Wahrscheinlichkeit größer, in Staus zu geraten, die nicht nur durch die erhöhte Anzahl von Autos auf den Straßen zustande kommen, sondern eben durch solche eingangs erwähnte Vorfälle wie auch vielfältige Unfallsituationen. Fahrbahn blockiert, weil immer mehr sture Linksfahrer immer dichter aufeinander drängen, Bremswegberechnungen aus der Fahrschule schon lange vergessen sind oder noch nie ernst genommen wurden.
Heute kommt zu dieser Abwertung durchaus sinnvoller Abstandsregeln noch die Wahrnehmungsverengung hinzu. „Vorausschauendes Fahren“ war auch so ein Stichpunkt, den ich mal eingetrichtert bekommen hatte, also dass man nicht nur auf das Heck des Vordermanns schauen sollte. Es ist sehr sinnvoll, die Gesamtsituation im Blick zu haben. Was passiert also im überblickbaren Bereich vor, seitlich und hinter einem? Denke ich lieber nur in meiner Spur und schaue nicht lieber mal nach, was auf den anderen passiert, damit ich frühzeitig reagieren kann?
Einen letzten Punkt, den ich noch hervorheben will, ist der des eigenen Bedarfsverhaltens. Das streift durchaus die anderen Aspekte, häufig allerdings auch nur daran auszumachen, wenn plötzliche Manöver mit Gefährungspotenzial entstehen. Spurwechsel aus dem Nichts und ohne das vorher anzukündigen etwa, von der Fahrbahn abkommen, Schlangenlinienfahren (die nicht nur mit Alkoholkonsum erklärbar sind) – all so etwas sind Vorkommnisse, die ich vermehrt bezeuge. Vor allem in den letzten Jahren hat sich dies augenscheinlich vermehrt, irrationales Fahrverhalten intensiviert. Da ist durchaus Ablenkung durch Smartphonenutzung am Steuer ein Punkt, andere sind einfach nur nicht aufmerksam bzw. in Gedanken versunken.
Belastbare Zahlen werden wir wahrscheinlich erst demnächst oder gar erst nächstes Jahr zu sehen bekommen. Und selbst dann werden statistische Erfassung von Unfällen und Todeszahlen nicht einwandfrei situativ erfasst sein. Das war noch nie der Fall gewesen und ist wahrscheinlich auch ein Ding der Unmöglichkeit, doch wäre ich schon daran interessiert, was wann zu welchem Unfall geführt hat. Denn so würde sich ableiten können, inwiefern sich die Gesamtsituation verändert hat wie ich das im Moment so wahrnehme und könnte sogar Rückschlüsse darauf ziehen, warum Unsitten Einzug gehalten haben.
Und da bin ich der Meinung, dass sich das ernsthaft zum Negativen entwickelt hat. Man muss ständig auf der Hut sein, für andere mitdenken und gerät trotzdem in Situationen von Beinahe-Unfällen oder schlimmer. Da könnte auch ein Mentalitätswandel stattgefunden haben, der wiederum politische und gesamtgesellschaftliche Ausmaße annimmt, weil auch im Straßenverkehr Besonnenheit abnimmt, ein erhöhter Stressfaktor eingekehrt ist, Unaufmerksamkeit zu mehr gefährlichen Vorfällen führt und dazu noch das Ellenbogen- wie auch das Gesamtregelwerk ignorierende Verhalten immer häufiger passiert.
Nach Corona und Lockdowns ist das noch schlimmer geworden als davor. Und wenn die (welt)wirtschaftliche Entwicklung immer mehr Sorgen nährt, fährt man auch nicht mehr sorglos zur Arbeit, sich da selbst einzuhegen, wird immer schwieriger. Je mehr Krisenmodus, um so ängstlicher wird die Bevölkerung, um so häufiger tut sie irrationale Dinge. Vielleicht mag man meine Straßenverkehrsbeschreibungen nicht damit in Verbindung bringen, aber manche dachten ja auch, dass Kinder wie Eltern auch mit Masken und Schulschließungen locker zurecht kommen würden, was sich dann als fatale Fehleinschätzung der „Nicht-Schwurbler“ herausgestellt hat.
Da ist der Gedankengang nicht fern, dass das auch bei den Erwachsenen der Fall ist. Und ob das nun eine primäre oder sekundäre Konsequenz daraus ist, muss man nicht unterschiedlich gewichten – es ist ein nachhaltigerer Schaden, der da entstanden ist. Natürlich beruft man sich dabei viel mehr auf die Auffälligkeiten und benennt den Rest erst gar nicht; Fakt ist aber, dass es nicht nur bei mir so ankommt wie beschrieben. Die Anekdoten, die mir zu Ohren kommen, dürften mir recht geben. Manche wirken bei ihren Erzählungen wahrlich etwas ratlos, würden schon gerne wissen, warum „die Leute immer bekloppter“ würden.
Vielleicht so viel: Krisen sind keine Erfindung der 2000er Jahre. Wir hatten schon eine Öl-Krise, einen Kalten Krieg, bedient man sich nur kurz den Ereignissen nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie war da die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung? Sicher nicht so affektiv und alles in Weltuntergangsszenarien vorzeichnend wie das heute der Fall ist. Rechnet man noch Anzahl der Autos, Verbote, Gebote und andere Aspekte hinzu, sieht die Statistik im Gegensatz zu früher sogar ziemlich gut aus. Deswegen macht es wenig Sinn, von einer Alternativlosigkeit eines Tempolimits zu sprechen, wenn die Deutschen trotz immer mehr PS unter dem Hintern weniger Personenschäden zu beklagen haben als noch in den 60ern und 70ern. Das Klimagerede wird sowieso gerne auf den Verkehr fehlfokussiert, lieber sollte man Kriege verhindern statt die Chimäre vom Klimakillerbolliden als höchsten Umweltverpester zu propagieren.
Die wahren Gefahren sehe ich eher im Ungefähren. Stressfaktoren, Verkehrserziehung, die heute bilateral Schiffbruch erleidet, etwa durch zeitlich gepresste Schnellkurse (Ähnlichkeiten zu teleskopierten Studien in Corona-Zeiten sind rein zufällig), im Gegenzug zu viele Gescheiterte, und immer wieder muss das Smartphone als Sündenbock herhalten, weil es schlicht die schlimmste, mobile Ablenkungsmaschine ist, wo es keinen Unterschied zwischen echter Konversation, Fußgängern oder eben Autofahrern macht. Alles lenkt ab und schadet dem realen Leben und Erleben. Dazu waren die Lockdowns übrigens ausnahmsweise mal nützlich, siehe Statistik aufgrund von Verkehrsausdünnung. Doch wird sich noch zeigen, wie das in weiterer Konsequenz neuer Krisen die Unruhe bei den Menschen noch verschärfen könnte, grundsätzlich wird uns wohl nie erspart bleiben, in Situationen zu geraten, die (lebens)gefährlich sein können.
Doch war für mich abzusehen, in welche Richtung das tendieren würde. Man mag das nicht an einem gequälten Gesichtsausdruck hinter dem Steuer erkennen, viele wirken auf den ersten Blick emotionslos oder cool. Anders müsste man von Apathie ausgehen, Gedankenverlorenheit. Dann wären eben noch diese Handlungsticks. Etwa beinahe die Ausfahrt verpassen und spontane Manöver ausführen. Oder langsam von der Spur abkommen, da man unbedingt etwas swipen und wischen muss. Nun – dann braucht es keinen LKW, um reifenwechselnden Verkehrsteilnehmern nach dem Leben zu trachten.
Kommentar schreiben