Deutschland funktioniert noch. Unabhängig davon, ob man nur in die eigene Tasche wirtschaftet oder doch sich doch als wertschöpfender Teil einer Gemeinschaft sieht, begeht man den Alltag noch mit einem gewissen Stoizismus, und lässt das politische wie gesellschaftliche Geschehen mal außen vor, hält man unbewusst den Laden weiter am Laufen. Sei es für das eigene Unternehmen, sei es als Erfüllungsgehilfe des Bildungsauftrages oder nur zum Zweck der Selbsterhaltung. Kaum etwas in dieser Alltagsrealität lässt erahnen, was seit geraumer Zeit an politischen Verwerfungen und gesellschaftlichen Spaltungseffekten die Bevölkerung ergriffen hat.
Es ist jedoch unruhig geworden, im Betrieb und den Büros, im Straßenverkehr, oder wenn man abends auf dem Balkon nur die Ohren spitzt und sozusagen zum Lauschangriff auf die Nachbarschaft ansetzt. Das Zwischenmenschliche in den eigenen vier Wänden kann unter Umständen immer unangenehmer werden, und da ich die Stimmungen in den Balkon-Momenten nun schon mehrere Jahre von derselben Stelle aus mitbekomme, kann ich nur feststellen, dass sich etwas im Umfeld der Nachbarschaft schwer zum Nachteil entwickelt hat. Ja, auch hier ist Corona zu nennen, denn seit Lockdown Eins hat sich spür- und hörbar etwas verändert. Nicht schleichend. Es ist auch kein Trugschluss, dem man da erlegen wäre.
Die Streits aus den Fenstern nebenan werden lauter, heftiger. In den Gassen wird etwa abends oder früh morgens wie von Sinnen herumgeschrien. Etwas scheppert, Blaulicht und Sirenen rücken immer häufiger aus. Manchmal kann man diese Wesensveränderungen schlecht beschreiben. Man erahnt es zeitweilen nur, zumeist nur, wenn sich Gewohnheiten in eine andere Richtung entwickeln als noch vor der Virenkrise. Oft redet man sich dann etwas ein – man sei selbst zu empfindsam geworden, und alles wäre so geblieben, wie es war. Oft sind es dieselben Floskeln, die man zu hören bekommt. „Selbst schuld“ oder „Stell dich nicht so an“ wischen sie dann das eigene Gefühl weg und wähnt sich im Irrglauben, die Dinge doch unter Kontrolle zu haben. Nichts, was man laut als das aussprechen müsste, wie es sich erahnen lässt. Wenn das Bauchgefühl vom Kopf betrogen wird.
Es gab eine Phase in meinem Leben, da hätte ich das eigene Unvermögen oder meine eigenen Ängste noch bei mir selbst ergründen können. Dass die eigene Einstellung zur prekären Gesamtsituation geführt hätte, ständig in die Enge getrieben zu sein. Dass ich zu sehr darauf gebaut hatte, mich irgendwo hin treiben zu lassen, damit es mir besser ginge und eigentlich ich selbst dafür verantwortlich sein musste. In bessere Zeiten etwa, in eine bessere Ausgangssituation. Dass der eigene Kontrollverlust keinen oder nur wenigen Einflüssen von außen zugrunde lagen und ich mich nur mal am Riemen reißen musste, mich am eigenen Schopfe aus der Jauchegrube zu ziehen.
Heute denke ich das nicht mehr. Ich kann den kollektiven Moralismus nicht mehr eigenverantwortlich so einhegen oder lenken, dass er mir etwas Gutes täte. Ich fühle mich machtlos gegenüber dem eingeschlagenen Weg von Politik, Medien und allen ihren Fürsprechern, die bestimmte Vorstellungen vom Zusammenleben haben. Ich sehe es nicht ein, mein Denken in ihrem Sinne und in der aktuellen Form zu assimilieren, weil ich es nicht als den richtigen Weg betrachte. Und ich spüre, dass das viele auch so sehen. Viele sehen ihre eigene Sicherheit bedroht, die innere Ruhe durchkreuzt und werden selbst völlig unruhig wie jene, die den nahenden Untergang heraufbeschwören. Und daran ist – sinngemäß - Mr. Pappschild schuld...
Früher kannte man solche, als Metapher und auch real, mitten auf dem Time Square stehen und ein Pappschild vor sich haltend. „The end ist near!“, stand da häufig drauf oder sonstige apokalyptischen Vorhersagen, auf die wir bis heute noch warten, dass sie eintreten. Doch schien es im Subtext wie das letzte Aufbäumen urbaner Verlierer zu klingen, die sich ihre Scheibe eines erfüllten Geltungsbedürfnisses abschneiden wollten. Wie sonst üblich, grunzte man vergnügt über solche Leute – wenn überhaupt. Niemand versammelte sich um sie und lauschte ihren Predigten, sie galten als „Spinner“ und man ließ sie einfach unbeachtet an Ort und Stelle stehen.
Das Gleichnis hat wohl heutzutage keinen Bestand mehr. Heute kannst du zu jedem Thema die Welt untergehen sehen, ein Pappschild hochhalten und bekommst auch noch die Aufmerksamkeit, die dir vorschwebt. Der Time Square würde bersten vor Menschen, die diesem „Spinner“ ihr Ohr leihen. Doch diesmal hat er seine Annahme nicht aus Klatschblättern - „die“ Wissenschaft hat das gesagt. Und „die“ Politik. Wichtige Prominente. „Die“ können nicht falsch liegen, denn „die“ müssen sich doch um uns kümmern geschweige vor Gefahren retten. Sie haben die Verantwortung. Sie haben die Kontrolle.
Kommen wir zur Henne-Ei-Frage: konnte sich dies jetzt durchsetzen, weil der Pappschildmensch sich nun anderweitig informiert wie bestätigt sieht oder liegt es schlicht an allen anderen, die auch noch stehenbleiben und zuhören? Reicht deren Skepsis nur bis zur Frage, woher Mr. Pappschild das denn hätte und der das einzig dadurch begründen muss, dass „die“ Wissenschaft das behauptet?
Untermalt wird das nicht mal durch Studien oder Anzeichen, die so krass wären, dass man dies nicht mehr ignorieren könne. Heute sitzen genau jene in Talkshows und werden in Nachrichtensendungen interviewt, machen gar Karriere damit. Werden hofiert, erhalten ihre „15 minutes“, die schon lange überzogen werden wie einst „Wetten, dass...?“. Tingeln durch die Sendeanstalten, bis sie endlich auf dem Stuhl Platz nehmen können, von dem aus man schließlich noch Fördergelder erhält und sich für den Rest seines Lebens glücklich schätzen kann. Vielleicht ist es sogar eine lange ignorierte Marktlücke, die man in kapitalistischen System noch nicht zum Goldesel gemacht hatte. Sie sind kein Ladenhüter mehr, sie verkaufen sich hervorragend. Es treibt Menschen auf die Straße, um zu demonstrieren. Mr. Pappschild geht plötzlich in der Masse von Pappschildern unter und wird sogar angemessen bis fürstlich dafür entlohnt. Der Weg zum Ruhm wurde somit freigeräumt.
Vieles in den VIP-Etagen medialer Aufmerksamkeit scheint unter diesen Regeln zu funktionieren. Wir kennen die Mechaniken und Verbreitungsmuster von Klatschblättern wohl ziemlich genau, wissen, dass man oft mit Wahrheitsbruchstücken, Übertreibungen oder sonstigen perfiden Mitteln nur darauf hinarbeitet, Klicktraffic, Leserschaften und Einschaltquoten zu erreichen. Dann haben auch schon mal Außerirdische die eigene Ehefrau vergewaltigt oder wurde ein dubioses Monster in den Wäldern entdeckt. Das streift wiederum das Faszinierende an Ängsten aktivierender Fiktion, von der Mythologie gefallener Engel bis hin zu Gleichnissen einer Zombieapokalypse ist alles wiederkehrend vertreten.
Würde man dies nur rein als Fiktion und mit Unterhaltungswert betrachten, wäre ja alles halb so schlimm. Doch verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit immer mehr, wird quasi zu einer Verschwörungsideologie, der sich gar Militärs mit Abwehrplänen ernsthaft widmen. Man sucht darüber hinaus Anzeichen und Aspekte, die sich mit diesen Fiktionen übereinander legen lassen, und schon haben wir schlimmste Pandemien ins Angstzentrum gepflanzt wie seit AIDS und Ebola nicht mehr geschehen. Zombies sind darin nur ein Befürchtungsabgleich in unseren Köpfen, leblos wirkende und bedauernswerte, vielleicht mit Pusteln übersäte Menschengesichter wie einst Leprakranke, die unsere Gesundheit bedrohen und Ekelgefühle herauskitzeln. Und bitte immer vom Schlimmsten ausgehen, bevor man reale Gefahren nicht mehr ernst nimmt.
Die Mythologie von Zombies hat sowieso momentan Hochkunjunktur. Dabei geht es nicht nur um deren Wirken als Einzelwesen, die totenblass, blutunterlaufen und willenlos wie fremdgesteuert nach Menschenfleisch jagen, sondern auch gerade Leuten wie Mr. Pappschild den Stoff liefern, aus dem die Albträume sind. Es braucht nur noch eine Grundlage, dies als real zu verkaufen, und da helfen militärische Planspiele wie auch „die“ Wissenschaft gerne aus. Letztlich ist es auch unwichtig, dass Wissenschaft und Fiktion sich als Gedankenspiel wechselseitig befruchten – dann sind gar Außerirdische schon längst auf der Erde gelandet und dazu auch noch auf unsere Ehefrauen scharf. Zombies dienen demnach in der Masse und ihrem zerstörerischen Potential als Vergleich einer Menschheitsausrottung und den Befürchtungen vor der Einsamkeit des Seins in einer bis dato übervölkerten Welt.
Vielleicht ist das mit ein Grund, dass allumfassende, postapokalyptische Fiktion momentan so gefragt ist. So trendet die Thematik nicht nur in der Kunst gerade so stark, sondern nun auch im realpolitischen Kosmos bei Menschen, die irgendwelche Probleme und Ängste brauchen, die ihnen ein allzu hoher Lebensstandard gar nicht liefert. Für sie gelten andere Realitäten, die da nicht heißen, uns unterm Strich in einen täglichen Kampf um Kost und Logis zu treiben. Sie betrifft das nicht, also fabulieren sie über Abstraktes, Größeres. Und setzen dort an, wo sie sich wirklich bedroht fühlen können – und das muss schon den planetar bis kosmisch sein, um ihr Interesse zu wecken.
Mr. Pappschild dürfte dort auch hinein gehören, ist aber schon ein paar Schritte weiter. Er hat sich derart in seiner Furcht verrannt, dass er sich im Eigenverzicht verloren hat, alles aufgab, was ihm Sicherheit bot. Vielleicht war er mal ein Professor oder Fachkundiger höheren Grades gewesen, hakte sich jedoch einer Theorie oder einem Indiz unter, was einen Realbezug aufwies und rannte in seinem Enthüllungseifer allen anderen davon. Dass sich dies heute durch Mithilfe von Medien und Politik nun verselbstständigte und gar zum Marketingprodukt taugt, lässt viele fassungslos dreinblicken.
Was das auslösen und noch weiter verschärfen mag, kann man nun allerorts beobachten. Die Prinzipien vom Raserarschloch und leicht reizbaren Supermarktkunden sind kein plötzlich aufkommendes Phänomen. Die gab es schon immer. Wenn sich die Vorfälle jedoch auffällig häufen, weiß man auch, dass Angstrhetorik und Mr. Pappschilds Erben genau das erreicht haben, was ihnen vorschwebte. Eine Masse an Menschen, die wie Zombies/Smombies willenlos wirken und gleichzeitig kosequenterweise mit einem Moralvirus infiziert zu einem Mob mutieren, die allen, die auf dem Boden der Tatsachen geblieben sind, nach ihrem Fleisch trachten und somit die Funktionstüchtigkeit eines Staates immer weiter beeinträchtigen. Dann funktioniert bald gar nichts mehr, die Mythologie des Niedergangs hat sich anderweitig erfüllt.
Die klassischen Mr. Pappschilds sind auch kein anekdotisches Phänomen mehr. Oder lesen Sie noch etwas über sie? Die wurden wahrlich geschluckt von der Masse der Pappschilds, die für oder gegen etwas oder jemanden auf die Straße gehen – auf den „Demos gegen rechts“ gab es fast so viele Pappschilder wie Menschen. Man kann also in Lakonie behaupten, da rottete sich gerade die gesamte Population der apokalyptischen Propheten zusammen und bekommt auch noch institutionelle Rückendeckung. Dass deren Themenbereiche aber – wie schon damals – nichts mit den Realitäten aller zu tun haben, bleibt im Grundsatz unverändert. Weder werden uns Echsenmenschen versklaven noch eine plötzlich aufkommende Brut von Nachkriegsnazis in ein neues, dunkles Zeitalter führen; weder sind wir akut von Krankheiten bedroht noch werden wir schon übermorgen im Kohleofen der Klimaerwärmung verbrennen.
Eher werden wir bald Probleme bekommen, wenn wir nicht aufhören, auf diesen Apokalypsensprech etwas zu geben. Es gibt weitaus Realistischeres, das uns auf die Straße treiben sollte, aber dafür ist es wohl zu unextrem und unattraktiv, dafür Schilder zu basteln. Wen kümmert dann die alleinerziehende Frau, die zwei Jobs und genau so viele Kinder managen muss? Wen kümmert von ihnen die Existenz- und Preisschockangst, die weitaus präsenter bei Teilen der Bevölkerung ist statt LGBTQIA+ und politisch korrekte Sprache? Wen kümmern die Auswirkungen der häuslichen Gewalt, die man auch noch mit befeuert hatte, weil Home-Office doch so ein tolles Konzept wäre? Wen kümmern die Impfgeschädigten, die sich entweder freiwillig oder nur dem Anpassungsdruck nachzugeben spritzen ließen?
Eines ist jedenfalls klar: die Mehrheit kümmert sich einen Dreck um „gegen rechts“. Die machen sich eher Sorgen, dass die Leute immer unfreundlicher, lauter oder unruhiger werden. Dass die innere Ruhe bedroht ist, weil man sich lieber den Pappschildträgern zuwendet und jeden quasi zum Nazi stempelt, der bisher immer an solchen „Spinnern“ vorbeigegangen ist. Spaßeshalber könnte man behaupten, dass dies auch ein Akt von Minderheitenschutz ist, denen man nun die Deutungshoheit zuschanzt. Nur leider mit real üblen Auswirkungen.
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