Es wäre noch weit hergeholt, die aktuelle Protestlust als nachhaltigen Widerstand zu feiern. Wir sind – überraschenderweise – in ein neues Jahr gegangen, in dem der allgemeine „Pöbel“ und der hinterhergeschleifte Mittelstand noch sehr viel ertragen hatte, mehr oder weniger mürrisch, und außer irgendwelchen Flur- und Vieraugengesprächen weniger Gleichgesinnter war kaum etwas von Widerspenstigkeit inmitten des Kollektivs zu erfahren gewesen. Mitunter auch dem Umstand geschuldet, dass dem bisher legitime, tolerierte, öffentlich formulierte Protest wie Streiks und Demonstrationen etwas Schmuddeliges und Schädliches für die Gemeinschaft angeklebt wurde.
Dazu gesellte sich eine Art Gesinnungsbewertung im Vorfeld solcher Unmutsankündigungen. Letztlich entschieden immer noch die Behörden, sei es weisungsgebunden oder sonst wie präventiv einordnend, welche Versammlungen genehmigbar sind und welche nicht. Bis kurz vor der Corona-Episode hatte dies fast schon einen selbstreinigenden Effekt beinhaltet, der keine staatliche Gewalt benötigte - etwa wenn man in seinem Drang, zu funktionieren, empfindlich eingeschränkt würde. So hatte zum Beispiel der GDL-Streik im Jahre 2013 eine Brisanz inne, die unerwartete Reaktionen hervorrief. Man muss nur daran erinnern, welches Entsetzen sich „Bahn“ brach, als sich Medien gar dazu veranlasst sahen, Privatadressen von Streikführern zu veröffentlichen. Es entwickelte sich eine Dynamik, die Claus Weselsky zum ultimativen Sündenbock machte, nur weil man nicht wie gewohnt und sorglos in die tägliche S-Bahn steigen konnte.
Dass man im Establishment Streiks nicht gerne sieht, ist nichts Neues. Dass aber selbst die eigene Klientel wie das allgemeine Handwerk zu dieser Zeit die GDL für ihre Anliegen verfluchte, war hingegen eine überraschende Erfahrung gewesen. Man zeigte man sich wenig solidarisch mit den Lokführern, warf ihnen gar noch schädigende Auswirkungen auf die Wirtschaft vor. Selbst Handwerker und Geringverdiener schlossen sich diesem Empörungsorchester an, obwohl davon auszugehen war, dass bei ihnen eher die Angst vor unsachgemäßen Sanktionen im eigenen Betrieb eine Rolle gespielt haben dürfte und nicht irgendein Ehrgefühl, der Staat oder die Gemeinschaft mit einer federführenden Wirtschaftselite müsse reibungslos funktionieren.
Bei letzterem, der Elite, hatte sich schon lange eine Aufblähung des Verwaltungsapparates vollzogen, was auch ein wenig den Vorwurf nährte, sich eine Kaste von potentiellen Nachzüglern und Karrieregladiatoren anzuzüchten. Man konnte das Gerangel unter sich amüsiert verfolgen, bis sich ein Sieger herauskristallisierte, dem man mehr Aufmerksamkeit schenkt. Entsprechend pflichtversessen und fehlervermeidend stürzen sie sich in ihren beruflichen Alltag, immer mit der geheimen Hoffnung ausgestattet, bald die nächste Stufe zu erreichen. Streiks sind somit eines der Hemmnisse, die den Karrieristen in diesem Antrieb im Wege stehen.
Auch der Mittelstand war von diesem Denken befallen, so dass etwa Elektrobetriebe freigiebig ihre bisherige Stammeszugehörigkeit zu den einstmals mächtigen Gewerkschaften aufgab, sich der neoliberalen Agenda anbiederten und somit eine Unterkaste für Fachpersonal konstruierten. Die arbeiteten dann auf Helferlohnniveau gleichbedeutend mit anderen Fachkräften zusammen; so kam es nicht selten vor, dass auch ohne Zeitarbeit Elektriker mit einem Basislohn im einstelligen Bereich gleichbedeutend wie ein Gleichgestellter arbeitete, der in einem anderen Betrieb mindestens fünf Euro mehr in der Stunde verdiente. Das hielt lange so vor, dass die heutigen Bemühungen um Personal, gerade in den produktiven Branchen, zu wenig auf Wiederhall treffen.
Das und noch viel mehr Verwerfliches konnte sich nur durchsetzen, weil der Widerstand lange stillgelegt bzw. marginalisiert worden war. Die Dämonisierung des legitimen Protestes und die erpresserisch-freiwirtschaftliche Drohgebärde, zum Beispiel von vermindertem Kündigungsschutz, lähmte lange Zeit den aufkommenden Drang des Aufbegehrens. In diese Lücke stieß die beschriebene, akademisierte Kaste, die ganz andere Motivationen hegte. Die setzten den Fokus auf viel Abstrakteres als die finanziellen, existenziellen Nöte, sah eher in Identitätspolitischem ein Problem und konstruierte sich zuweilen auch selbst Theorien herbei, die man als bedrohlich interpretierte. Das mag erklären, warum wir heute von einem drohenden Hitler-Deutschland 2.0 oder einem Klimakollaps fabulieren, während sie absolute Gleichstellung (-schaltung?) und Vermögensverteilung als das einzig Gute für die Zukunft betrachten. Allerdings ist der Grat vom Guten und Fairen zum Totalitarismus äußerst schmal, solch "progressive" Agenden über alles stellen zu wollen.
Es ist eine Art Simulation des Arbeiteranliegens entstanden, der aber nur - wenn überhaupt - ein grober Umriss dessen ist, was den allgemeinen Arbeiter so umtreibt. Vergisst man aber den Kampf zur Verbesserung des finanziellen Rahmens, der auch noch davon abhängt, den Eliten im Bedarfsfall auf die Füße zu treten, ist es eben keine Überzeugungstat, eine Gnadengabe wie eine Mindestlohnerhöhung zu feiern und somit alles als abgegolten sieht. Im selben Atemzug Gesinnungsebenen und somit Hemmschwellen darüber zu legen, um Branchen für den Moment unzufriedenen Raunens ruhigzustellen, lässt sich durchaus mit modernen Erziehungsmethoden und deren schädlichen Auswirkungen vergleichen. Oftmals zeigt sich diese Doppelmoral letztlich darin, wie man mit Protesten umgeht – sich zwar für einen guten Weiterbetrieb von Masthöfen auszusprechen, aber den Unmut von Bauern als ungerechtfertigt anzusehen, weil es etwa die eigene, eingefahrene Bequemlichkeit durchkreuzt.
Dabei scheint niemand von ihnen überhaupt eine Ahnung davon zu haben, unter welchen Umständen Bauern und einige, andere Branchen heute arbeiten müssen. Immer stärker sind Unternehmen von überbordernder Bürokratie belastet, was wiederum ihren Ursprung im Großkonzern im Verbund mit Lobbyismus und Politik haben dürfte. Da spielen immer mehr Aspekte mit hinein, die Sicherheits- oder Finanzaspekte aufblasen, irgendwas zwischen Compliance, Controlling und Corporate Identity stehen als zusätzliche Hürden der eigentlichen, produktiven Arbeit im Wege. Trotzdem werden sie als Wertekompass gesetzt und zu einer Grundvoraussetzung gemacht wie ein Eintrag im Handelsregister. Weiter kann der Urbanisierungs- und Gentrifizierungseffekt als Grund für dieses Missempfinden angeführt werden; dort, wo sich das Establishment etwa alleine durch die Wahl des Standortes Präsentationsvorteile verschafft. Soll heißen, dass man eher etwas auf sich halten kann, wenn man im Gewerbepark in Mega-Citys Gäste begrüßt denn neben einem „stinkigen“ Bauernhof.
Die Bauernproteste stehen deswegen nur stellvertretend dafür, wie sich nun das produktive Gewerbe zunehmend vom immer monströser anwachsenden Verwaltungsapparat erdrosselt fühlt. Bisher konnte sich diese Umgestaltung ungehindert durchsetzen, aber ist offenbar das Maß voll, mit dem zusätzlichen Brocken von Transformationspolitik auf den Schultern noch einen Betrieb betreiben zu können. Solche Modelle, die eine unausgewogene Angleichung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und Produktion zur Folge hatte, kann höchstens noch von Multis getragen werden, der Mittelstand ächzt dagegen unter diesem Missverhältnis, unproduktive Arbeiten immer kostenintensiver mit den produktiven finanzieren zu können. Wer dem entgehen will, dem bleibt letztlich nichts anderes übrig, als sich selbst diese zusätzliche Arbeit aufzubürden, 14-Stunden-Tage und Wochenendarbeit inklusive. Selbst die grundversorgenden Hausärzte gehen nun gegen diese Überbürokratisierung vor. Alle anderen, die sich dem Aufwand nicht mehr gewachsen sehen, schmeißen hin oder planen schon ihre Zukunft im Ausland.
Natürlich berührt das auch das Arbeitermilieu, das bis vor einigen Jahren noch relativ unbehelligt in ihrem Rahmen für Erhalt und leichte Verbesserungen streiten konnte. Doch haben auch Handwerker und Co. verstanden, dass ein starker Mittelstand eine wichtige Säule im Wirtschaftsgefüge eines Staates darstellt. Daher ist es erstaunlich, wie sich gerade in Bezug auf die Bauernproteste eine nicht zu ignorierende Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Allianz gebildet hat. Hier stimmen noch viele, weitere Branchen in das Hupkonzert ein, die sich bisher haben einschüchtern lassen oder keinen Anlass zum Meckern sahen – da lag lange Zeit eine Konfliktscheu vor, die von Staats- und Medienseiten erfolgreich eingepflanzt wurde. Corona ist auch hier wieder als Stichwort zu nennen, denn fand in dieser Phase die wesentlichste ideologische Einordnung von Protest statt.
Nun scheint es zur Routine geworden zu sein, Unmutsbekundungen und die Absicht, dies öffentlich zu machen, eine gesinnungsethische Vorprüfung erfährt. Nun geht es nur lange schon nicht mehr um die Entscheidung und Verpflichtungspläne einer Spritzensetzung, um die selbstlähmende Lockdownpolitik einem Ende herbeizuführen. In diesem komplexen Themengebilde von Politikgestaltung und die Belastung für Bürger wie Unternehmen ist innerhalb von gerade mal zwei Jahren Ampelpolitik ein Missverhältnis entstanden, das man kaum noch mit Nazi-Vergleichen stummstellen kann. Dass Politik und Medien da nun die Drohkulisse von „schlechten“ Demos vorhält und man offensichtlich nur noch für die Regierungsagenda unsanktioniert auf die Straße gehen darf, ist schon höchst absurd. So wird letztlich die grundlegendste, demokratische Bedeutung vom Versammlungsrecht ideologisch überlagert und konterkariert. Streikrecht ist ja dazu da, den Unmut über die Herrschenden legitim zu äußern, doch heute scheint man nur noch davon Gebrauch machen zu dürfen, wenn die Herrschenden den Anlass auch noch absegnen. Der Grat von Absurdität wird dann noch weit überschritten, wenn man im Sinne des Regierungswillens auf die Straße geht, um einem Staatsbürger – so völkisch er auch denken mag – Grundrechte eigenmächtig zu entziehen.
Es würde jetzt zu weit führen, die real- und finanzpolitischen Aspekte noch auf ideologische Grundsatzdebatten auszubreiten. Diese Debatte ist schon lange am Laufen, und auch die Bauernproteste wurden schon wieder damit belegt, obwohl es prinzipiell um einen unideologischen Anlass handelt, doch erst durch den getätigten Entschluss wie der Reaktion darauf einen politischen Einschlag erhielt. Fakt ist, dass der „Pöbel“ lange geschwiegen und Verzicht über sich ergehen lassen hat. Diesen Durchbruch endlich gewagt zu haben, gleicht einem Befreiungsschlag, das Schweigen endlich zu gebrochen zu haben, ist unterstützenswert – und doch bleibt die Skepsis, dass es sich letztlich nur um einen Strohfeuereffekt handeln könnte, danach wieder die gewohnt stoische Ruhe einkehrt und somit „denen da oben“ ein Signal aussendet, so weiterzumachen wie bisher.
Doch nährt sich die Hoffnung, dass es nicht dabei bleibt, alleine dadurch, dass gerade der Mittelstand sich nun konkret im Weiterbetrieb bedroht fühlt. Dass Bauern empfindliche Mehrbelastungen zu tragen haben, während der Bundeswirtschaftsminister gleichzeitig das durch den Agrardiesel eingesparte Geld umgehend für eine neue Batteriefabrik weiterverplant, ist schon ein besonderes Schmankerl von Doppelmoral. Natürlich beeilten sich die Medien wieder, den Bauernprotest, die Ampelpolitik und somit vorrangig ihr Liebchen Habeck zu verteidigen, mit einem Schmuddelimage zu belegen.
Es ist aber nicht mehr als die Interventions- und Einhegungsstrategie aus den Verwaltungsetagen heraus, aus den unproduktiven Ecken der Gesellschaft. Die nur durch zwei linke Hände und klimatisierte Verkopftarbeit ihre Existenzberechtigung hochhalten können. Da wäre es doch angebrachter, lieber mal den Ball flach zu halten, bevor die Bauern keine Lebensmittel mehr anpflanzen und im Stall halten oder der Monteur die ausgefallene Wärmepumpe mehr repariert oder der Bäcker keinen Weizen mehr zu Brot und Brötchen weiterverarbeitet oder die Feuerwehr keine Brände mehr löscht oder die Pflegekräfte keine Bedürftigen mehr pflegt, oder, oder, oder...
Das wäre, würden all jene Branchen ihr Werkzeug und ihre Motivation fallen lassen, der dümmste anzunehmende Fall in der schon aufgeheizten Debatte um den Fachkräftemangel und der effektivste Ausdruck von Protest, zu dem es nicht mal angemeldete Demonstrationen bräuchte. Und den formulieren manche schon dadurch, dass sie enttäuscht wie ausgebrannt die Branche wechseln oder gleich auswandern geschweige denn ihre Standorte ins Ausland verlagern. Die Tendenzen sind schon spürbar, was sicher ihren Ursprung nicht ausschließlich in der Ampelpolitik hat, aber von ihr sprunghaft auf die Spitze getrieben wurde, dass nun der Kipppunkt erreicht ist, die eigene Frustrationstoleranz nicht noch weiter ausreizen zu wollen, nur um den Willen des federführenden Regierungsnarrativs zu erfüllen. Genau deswegen muss man sich weniger Sorgen um Strohfeuereffekte machen, der Protest wirkt auch ohne Aufmarsch still und doch gewaltig auf uns ein.
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