Jahreswechsel sind wie Blicke in den Spiegel. Man sieht sich selbst an und gerät in den Sog der Gedanken, die man eigentlich nicht denken will. Die man monatelang erfolgreich verdrängt hat, meidet Blicke in Richtung von Spiegelschränken – da ist nur man selbst, das eigene Aussehen oder die Ausstrahlung, die man nur ins Innere stülpen will, weil es das einzige ist, dem man nicht entkommen kann. Man gerät in einen inneren Zwiespalt, das Denken kreist ständig um die Dinge, die man selbst getan hat, um die eigene Einstellung, aber auch um Dinge, die einem von außen widerfahren. Was war und ist davon richtig? Schädlich? Beherrschbar? Worin kann man etwas ändern? Wann fühlt man sich ohnmächtig und warum?
Da die richtigen Worte zu finden, hat kaum allgemeingültigen Charakter. Die Denkstrukturen selbst sind zu individuell, um das in kurzen Bildern oder in wenigen Worten für alle begreiflich zu machen. Es soll dabei einerseits nicht übergriffig wirken, wenn man nicht so gestrickt ist wie jene, die in dogmatischem Eifer handeln, andererseits will man ja schon etwas bei sich selbst und anderen verändern. Schaden abzuwenden ist eine hehre Sache, doch wann ist die Linie überschritten, dass Absicht und Folge kein guter Weg mehr sind?
Das im individuellen Rahmen darzustellen scheint genauso schwierig wie es im kollektiven Ausmaß funktioniert. Die Absichten scheitern allzu oft an der inneren oder des Abnehmers Abwehrhaltung. Richtig und falsch sind keine neutralen Kriterien, die in einer aufgeklärten Gesellschaft Maßstab sein können – ab und zu ist das Richtige für eine Person schädlich für andere. Den Spiegelblick betrifft das zuerst gar nicht, weil es sich immer für die einzelne Person unterschiedlich zeigt. Daher ist es kaum möglich, das Innere während dieses Blickes pauschal zu beschreiben. Soll heißen: den Spiegelblick selbst kann durchaus kollektiv eingefordert werden; die Erkenntnis, die sich daraus ergibt, hat überhaupt nichts Allgemeines mehr an sich.
Dieser Spiegelblick ist ein oft genutztes Stilmittel in fiktiven Erzählungen. Sie ist oft der Wendepunkt für eine Figur, wenn die Persönlichkeit in eine Situation gerät, der sie nicht entfliehen kann und handeln muss. Instinktiv weiß der Zuschauer oder Leser, dass die Figur hier einen inneren Konflikt austrägt, mag vielleicht den Helden dazu anstoßen, endlich Verantwortung zu übernehmen. Das Narrativ ist jeweils federführend, der Protagonist reagiert dabei nur. Tut er das dann endlich, kann der gewählte Weg der richtige oder der falsche sein. Tut er das falsche und stirbt etwa gen Ende, muss es nicht falsch gewesen sein, es wenigstens versucht zu haben.
Klar – so betrachtet sind das Gedanken eines Filmnerds, einer Couchpotatoe, die im fiktiven Kosmos leicht daherreden kann. Zwei Stunden Filmunterhaltung können akut viel bewirken, doch verblassen die Eindrücke schnell wieder, wenn das nächste Werk folgt. Nur wenige Erzählungen sind so durchdacht oder eindringlich, für lange Zeit Wirkung zu entfalten, und manchmal sind sie eher nur ein Teil eines großen Ganzen, was zur höheren Einschätzung taugt. Wenn die ARD zum Beispiel ihre Tatort-Folgen mit einem Thema umkleidet, interessiert das Thematisierte die Zuschauer am folgenden Sonntag schon gar nicht mehr. Würde der Tatort ständig dasselbe Thema wiederkäuen, würden Vorwürfe laut, sich nur zu wiederholen oder unterschwellig Propaganda zu betreiben. Da interessiert die hehre Absicht niemanden, auch wenn es den Autoren unheimlich wichtig erscheinen mag. Noch schlimmer wird es, wenn es marken- und gar senderübergreifend durchsickert, dass man gerade versucht, direkten Einfluss auf das Reale zu nehmen.
Stutzig wird man dann, wenn diese Absicht verdeckt untergejubelt wird. Dieses Indiz erkennt man erst spät, gerade wenn es nicht eindeutig kommuniziert wird. Wenn die Moral der Geschichte also mehr plakativ und billig verbreitet wird, wird sie vielleicht sogar empörte Reaktionen hervorrufen, die Machart eines Drehbuches kann eher den gegenseitigen Effekt nach sich ziehen als es beabsichtig war. Manche Macher wissen das, deswegen wird mit subtileren Mitteln versucht, die Absicht unterzubringen, und das kann bei einem Teil der Zuschauer- und Leserschaft durchaus gut funktionieren. Dabei ist niemand gleich empfänglich, und so spalten sich die unterschiedlichen Interessen schnell auf. Manche wollen gar nichts davon erfahren, vielleicht aus reinem Desinteresse. Andere lassen sich anfänglich davon berieseln, sehen aber keinen tieferen Sinn darin, es noch weiter zu thematisieren. Und das ist immer eine separate Sache bezüglich der inhaltlichen Affinität verschiedener Persönlichkeiten. Aus solchen Gründen bin ich schlecht empfänglich für Tatort-Moral und wie ideologisch die angestrichen ist.
Wichtig ist jedoch, dass dies immer das Externe betrifft. Der innere Konflikt der Autoren wird nach außen getragen, auch mit der Absicht verbunden, auf etwas aufmerksam zu machen. Die Moral ist darüber hinaus auch eine präventive Vorsicht, dass bei den Konsumenten auch ein äquivalentes Denken einsetzt. Sehr selten zeichnet man die Hölle so positiv wie den Himmel oder macht sie gleichwertig voneinander abhängig, deswegen ist es auch sehr dienlich für das Harmoniebedürfnis der Abnehmer, Gut und Böse in die klassische Relation zu bringen. Doch sobald die Themen kleinteiliger und provinzieller werden statt sich auf das Absolute zu beschränken, werden Möglichkeit wie Notwendigkeit zur Differenzierung leichter verfügbar. Man kann immer mit holzschnittartigen Endzeitgeschichten Moral über Inhaltliches und Tiefsinniges stellen, doch wenn der Mensch als Einzelwesen mehr Raum erhält, wird von ihm mehr verlangt als nur in den Kategorien „gut“ und „böse“ zu denken und zu agieren, sonst sind Vorwürfe von „eindimensionalen Figuren“ schnell ausgesprochen. Und doch greift man gerne zu Superlativen, ergo zur Effekthascherei.
Und wenn die Gedankengänge letztlich bei den Individuen selbst gelandet sind, erwartet man fast schon den obligatorischen Spiegelblick, der im schlechtesten Fall von der Differenzierung in die Schwarz/Weiß-Färbung führt. „Hör endlich auf zu denken und handle.“, möchte man der Figur als Leser und Zuschauer zurufen, was auf den Ebenen des Realen und Fiktiven gleichzeitig unmöglich erscheint, aber immer wieder Anwendung findet. Protagonisten werden wie Puppen in die Moral der Erzählung gezwängt, das Handeln wird alternativlos. Worte und bewegte Bilder sind dabei maßgebend, es gibt nur einen Inhalt, den sie transportieren. Einzig in Videospielen stellt man uns sogar vor moralische Entscheidungsfreiheiten, mal der Gute und mal der Böse sein zu dürfen. In Filmen jedoch hat man sich von solchen Experimenten schnell wieder entfernt, weil es den Fluss des Konsums unterbricht.
Wer real in solchen Dimensionen denkt, macht sich nicht nur lächerlich, sondern auch gefährlich. Das Spiel Gut gegen Böse in der Realität zu spielen hat in der Vergangenheit zu vielen Traumata in der Menschheitsgeschichte geführt, die wir heute nur in einer Schuldkultur bewusst machen wollen. Es verzwergt die Individualität, nährt die Orientierungslosigkeit und macht uns angreifbar für Einflüsse von außen. Gut und Böse sind dabei nur die Chamäleons, die blitzschnell ihre Zungen ausfahren, nähert man sich ihnen zu sehr.
Wir sind, um das noch bildhafter zu machen, zu fett geworden, um kein gefundenes Fressen für diese wandelbaren Tiere zu sein, die ihrerseits zu viele fette Insekten gefressen haben und somit dick und träge werden. Wir sind ein Schlaraffenland geworden, in dem Jäger und Beute nicht mehr im eigentlichen Sinne der Natur existieren und chancenoffen um Leben, Tod und Deutungshoheit kämpfen, wir haben uns selbst bewegungslahm gemacht, etwa aus Bequemlichkeit oder gedanklich gelähmt, machen uns keine Gedanken mehr um die Eigenschuld, meiden den Blick in den Spiegel, um den Anblick der Speckrollen zu vermeiden. Das Körpergefühl verkümmert, man wird im nächsten Schritt willfähriger. In diesem Schuldkult baut man sich eine Parallelexistenz im Kopfe auf, wird zur fiktiven Figur, zum Helden und somit zur immerguten Person, die schon lange die Phase der Selbsterkenntnis durchlaufen hätte und nun handelt, wie es die Erzählung und somit die Moral vorsieht.
Das Kleinteilige hingegen kann man schon als den Alltag betrachten. Der Alltag selbst ist oft geprägt vom Funktionablen und bietet nur selten Anlass zur Selbstreflexion. Und wenn man das Funktionieren anteilig immer mehr vergrößert, werden die Momente des Sinnierens und somit der wichtigen Momente der Bewertung und der Selbstreflexion immer rarer. Deswegen ist die mehr voranschreitende Verkürzung und Schnelligkeit in unserem Lebensalltag immer mehr als Gefahr zu sehen. Es vergößert nur die Relevanz vom Richtigen und Falschen, zumindest darin, wer definieren will, was richtig und falsch sei. Es ist unter Umständen sogar das genaue Gegenteil vom selbst gebauten Heldenmythos. Wer autoritär meint, das absolute Richtig und Falsch erkannt zu haben, neigt nicht nur dazu, billig Moral verkaufen zu wollen, sondern meint auch gleich durch ständige Wiederholung mehr erreichen zu können – ja, vielleicht sogar als Allzweckwaffe einzusetzen, den Willen brechen zu können.
In der Vergangenheit trieb ich selbst in diesem Denken dahin und meinte, es anderen ebenfalls so vermitteln zu können. Es dauerte Jahre, bis ich erkannte, dass es sinnlos ist, die eigene Moral anderen als ein Jahrhundertwerk in Film und Literatur verkaufen zu wollen, auch weil mein eigenes Weltbild auch nur Versatzstücke meines Kulturkonsums und dem damit verbundenen Sozialisierungsprozesses sind. Dabei bin ich nicht mal selbst ein charismatischer Charakter, viel zu introvertiert, und somit im sozialen Gefüge automatisch auf die hinteren Reihen verbucht. Natürlich stört es mich sehr, was „da ganz vorne“ los ist, dass man heute nur dreist genug sein muss, um Macht zu erlangen und die Inhalte in diesen Zeiten schnell zweitrangig werden. Man muss ja fast schon annehmen, dass ein Massenmörder kollektive Zustimmung erfährt, wenn man das eigene Massaker mit einer „guten“ Moral unterlegt. Oder wie man nur ein Gedankenkonstrukt als Maßstab für alle verkaufen kann, wenn man nur laut genug ist.
Diesen Zustand erfahren wir eben nun schon einige Jahre – mal kaum merklich, heute fast schon zu effektgeladen und parolen- und schlagwortverengt. Wie geht man dann selbst damit um? Man kann dann wieder den Spiegelblick bemühen, um handlungsfähig zu werden, nachdem die ersten beiden Akte der Erzählung über uns hineinbrachen. Das ist der Idealfall, aber dann muss auch eine Krisensituation dieselbe und die einzige bleiben, bevor nicht noch eine neue diesen Prozess wieder von vorne beginnt. So hangeln wir uns jetzt nach drei Jahren Corona am Beginn des dritten Aktes entlang, müssen aber gleichzeitig den Ukrainekrieg und dann noch andere Themen gleichzeitig ihrem eigenen Prozess unterziehen und stehen dabei nicht mal in der Laufzeitmitte des Films oder haben gerade mal hundert Seiten eines dicken Schmökers gelesen.
Da kann eine Story schnell mal auch langweilig werden, wenn sie nur aus 120 Minuten Geballer besteht oder thematisch auf der Stelle tritt. Oftmals verliere ich recht schnell das Interesse an Film- und Buchreihen, wenn sie nur immer schriller werden oder großteiliger erzählen wollen. Das ist in der Fiktion genau dasselbe wie in der Realität, und so braucht mir etwa die Politik wie ein moralisch aufgeladener Aktivismus nicht mehr damit anzukommen wie geschildert. Die Dynamik der Übertreibung tut dazu ihr Übriges, eine grundlegende Ablehnung gegen Art und Inhalt zu entwickeln.
Das mag bei manchen schon eingetreten sein, bei mir gehört es zum Spätentwickler, der ich eben mal bin. Für mich selbst ist das erst mal kein Problem, für andere dagegen ein Bremsklotz. Da muss jemand in Bewegung geraten, wenn es vorwärts gehen soll, aber ist es für mich anstrengend bis selbstschädigend, wenn ich mich dem Tempo anderer anpassen würde. In den Jahren zuvor habe ich dabei vielleicht ein paar Anpassungen vorgenommen, grundsätzlich jedoch kann ich an meinem Hang dazu, Nachzügler zu sein, offenbar nichts mehr ändern. Ein wenig kann man das mit dem Unterschied zwischen Blockbuster und Arthouse-Kino vergleichen, wo etwa der Spiegelblick beiden Lagern als Stilmittel bekannt ist, aber der im Kunstfilm vielfach bedeutender wird als bei Effektorgien. Alles ist etwas bräsiger, ausgeschmückter und somit auch zäher, aber einprägender als das, was heute popkultureller Standard ist, der nur auf schnelles Geld abzielt und den man für ein paar Wochen Laufzeit im Kino benötigt.
Der Zweck heiligt so die Mittel. Und ähnlich zeigt es sich bei den Bauernfänger-Methoden, denen sich Politik oder Medien heute bedienen. Die Enkeltrick- und Psychofallenhandhaben sind dabei austauschbar und dienen nur dazu, den Selbstzweck zu erfüllen. Wir sind darin nur das Instrument oder gleich das Ziel. Wer da allzu naiv oder labil ist, sich dem unterzuordnen, hat für sich selbst betrachtet schon verloren oder macht die Methode nur noch legitimer und letztlich schädlicher auch für andere.
So sehe ich das zumindest – auch basierend auf den Erkenntnisprozessen des eigenen Spiegelblicks, der viel zugelassen und fast zu spät die Reißleine gezogen hat. Dass mir dies erst wieder zum Ende des Jahres so richtig bewusst wird, ist natürlich ein passendes Klischee, aber läuft man darin immer auf die Gefahr zu, schon am Neujahrstag diesen Willen zur Selbstreflexion mit den supertollen Vorsätzen für das neue Jahr schnell wieder abzulegen. Spätestens mitten in der ersten Arbeitswoche gewinnt die Routine wieder die Oberhand, aber ist es eben keine neue Routine, sondern die eingefahrene, bequemste wie sicherste. Dann braucht man auch keine Selbstbeschau zu betreiben.
So wünsche ich allen Lesern einen guten Rutsch ins neue Jahr. Uns allen die Kraft, uns den schädlichen Dingen weiter entgegenzustellen, und allen den Willen, den Blick in den Spiegel zu schaffen, die sich dem bisher verweigerten.
Kommentar schreiben
Juri Nello (Sonntag, 31 Dezember 2023 14:01)
Es gibt kein Neujahrswacken.