Mittendrin statt nur dabei. Kaum zurück in Germanisch-Wahnistan und wieder voll drin in der Routine, darf ich Vorort-Zeuge sein einer Politik, die infrastrukturelle Veränderungen herbeiführt. Nun haben wir ja aktuell unser Flüchtlings-2.0, das Sequel zum spannenden Thrillerpolitikdrama, in dem jetzt nicht die Ampel aus dem Fenster schaut, sondern von Lampedusa bis zur hessischen Bergstraße das volle Drehbuchprogramm abgespult wird, das schon 2015 für Faszination und Abscheu gesorgt hatte.
Ich, als Nebendarsteller mit eigener Screentime und Sidestory, stehe vor dem leeren Gebäude und schaue etwas bedeutungsschwanger in die verschmierten Fenster und Glastüren. Kein Stefan Lamby und keine Kamera hinter mir, nur ich selbst mit meinen Gedanken und Vorahnungen alleine. Auf der linken Seite hatte man in grauer Vorzeit ein großes „DJH“-Logo an die Wand gemalt, drinnen aber keine Jugendlichen mehr, stattdessen Motten, Mücken und Morast. Das Gebäude steht schon seit drei Jahren leer (Corona, anyone?) – Sinnbild für Verlust des Status einer Institution, die mit ihrem Kasernencharme nur die Anspruchslosesten der Wohlstandsverwahrlosten noch anziehen mag. Oder Schulklassen.
Erinnerungen werden wach. Abschlussfahrt. Eichstätt oder irgendwo in der Gegend. Gedächtnislücke. Altbau mit Klapplädenfenstern, damals gesprenkelt vom Kotzstrahl meines besten Schulkumpels Jürgen, der bei Alkohol gerne vor sich hin göbelte. In Eichstätt hatte er nachts klammheimlich aus dem Fenster gereihert. Der Herbergsvater am nächsten Morgen sauer wie der Magensaft an der Außenfassade.
Dem Gebäudeskelett, vor dem ich heute stehe, hätte Jürgens Kotze optisch nicht mal was ausgemacht. Draußen Burgmauernlook, der das Mittelalter wieder aufleben ließ, drinnen allerdings dominiert Ocker und Weiß aus den 60ern und 70ern. Der Klotz prangt hoch oben in einer der letzten Kopfsteinpflasterwege an der Bergstraße, wo sich mittlerweile Familien ihre Wohnträume erfüllt haben. Einfamilienidylle mit acht bis zehn Prozent Gefälle. Ein Haus hat sogar mehrere Terrassen am Hang herunter anhängig, sieht aber mit den rechteckigen, grauen Bimsbetonblöcken richtig scheiße aus. Kneift man die Augen zu, ist da nur ein riesiger, grauer Fleck in der Landschaft.
Da gefällt mir das verwitterte, fleckige Grau der alten DJH-Burgmauern doch besser, trotz dunkler Dachschindeln. Drinnen wurde es jüngst allerdings auch grauer, zwischen dem Ocker und Weiß. Nun hat man billige, graue Bettgestelle, dunkelgraue Billigmatrazen, hellgraue Dünnblechspinde und Antrazit-Plastikbilligststühle in die Räume gestellt. Der Kasernencharme lebt wieder auf, aber wenn ich mich noch an meine Grundausbildung erinnere, war sogar das alte Mobiliar mit seinem Dunkelgrün farbenfroher und robuster als diese Sparflammenausstattung, bevor man es gegen sehr bequeme Betten und freundliche Holzmöbel tauschte.
Demnächst sollen hier Flüchtlinge untergebracht werden. Ob die sich hier, in diesem Farbdesaster aus Ocker, Weiß und Grauschattierungen, wohlfühlen werden, sehe ich irgendwie skeptisch. Mit Billigausstattung, die wahrscheinlich bei der nächstbesten Belastung zerbrechen wird, einem Spind, in dem ich nicht mal die Hälfte meiner damaligen Ausrüstung untergebracht hätte. Mehr, als dass dort Familien unterkommen sollen, weiß ich jetzt auch nicht, aber der Kreis hat im Eilverfahren das Gebäude an sich gerissen und noch hastiger wieder aufbereitet. Spinnweben, verrotztes Linoleum in manchen Räumen, Dreck und alte Müllsäcke sind immer noch nicht entsorgt. Dafür wurden im alten Küchenbereich Waschmaschinen und Einzelherde im besten Ölkrisen-Weißwarendesign aufgereiht.
Klar ist das besser als völlig überfüllte Zeltlager im Matsch. Aber ich wittere schon den Lagerkoller, sollten die Familien länger als nötig darin verharren müssen. Während ich drinnen so vor mich hinwurschtele, kreuzen zwei Handwerker auf. Kreisbedienstete, mit denen ich kurz ins Gespräch komme, wir kommen kurz auf Flüchtlinge zu sprechen. Sie berichten mir von einem anderem Standort, wo die Untergebrachten ihre Betten aus dem Fenster werfen. Ich selbst und andere haben schon mitbekommen, dass sie im Zimmer rauchen, was natürlich die Brandmeldeanlage zum Jaulen bringt. Rauchen ist aber wichtiger, also drehen sie die Rauchmelder raus – was die Brandmeldeanlage zum Jaulen bringt. Sie hauen beim Kochen Pepperoni direkt auf die Herdplatte, was die Brand.... ja, richtig. Zwei oder mehr Leute auf einem Zimmer, die keine Privatsphäre mehr haben. Leute, die schon Jahre lang im selben Containerpark dahin vegetieren. Viel Stress, Wut und Gewalt bei ein paar einschlägigen Bewohnern.
Das sind so die Anekdoten, die mir bekannt sind. Dann wird es spannend werden, inwiefern die Nachbarschaft auf dem Berg das annehmen wird. Bisher gehen sie auf dem offenen, verlassenen Gelände gerne mit ihren Hunden Gassi, deren Kids spielen Fußball oder was auch immer und hatten bisher ziemlich ihre Ruhe. Wenn der Laden wieder in Betrieb geht – wer weiß. Landeier in der Erfüllung ihrer Wohnträume am Berg könnten das nicht so positiv aufnehmen. Oder es naiverweise als sinnvoll betrachten und sich dann über den Krach in der Nacht beschweren. Oder doch Schlimmeres. Oder gar nichts. Was ich – wie ich schon erwähnte – bezweifle, wenn der Lagerkoller kommt.
Schon an solchen Nicklichkeiten hakt es in der Flüchtlingspolitik, und es sind nur die Dinge, die die Politik per se wirklich nicht interessieren müsste. Auch in rein deutschen Wohnvierteln führt der Ast, der in den eigenen Garten wächst, zu Stress. Von migrantisch geprägten Vierteln kann Berlin ein Liedchen singen. Dinge, die unbestreitbar sind. Willkommenskultur hört immer mit Fehlverhalten auf. Greifen die großen Regeln nicht, macht man sich eigene. Wird die „Leitkultur“ unterwandert, regt sich Verdruss. Ist der Verdruss gewachsen, das gegenseitige Misstrauen groß, wird sie zu Wut. Wut wird zu Hass. Hass wird zu Gewalt.
Ich will niemanden exklusiv zum Sündenbock ernennen. Man müsste das Thema sehr genau unter die Lupe nehmen, aber dazu ist die Politik nicht in der Lage. Sie denkt eher pauschal in Willkommenskultur oder bösen Vorahnungen – nie wird mitgedacht, dass man eben Menschen nicht mit einer neuen Situation überfordern sollte. Einfach alte Gebäude mit Fremden vollzustopfen, in einer Gegend, die sinnbildlich Flucht innerhalb des Systems bedeutet. Viele wollen ihre Rückzugsgebiete, ob in der geographischen Lage oder dem Wohnambiente, bei dem selbst die Nachbarn noch lästiger Ballast im Drang nach Ruhe bedeuten.
Den Geflüchteten kann das egal sein. Die hätten gerne solche Luxusprobleme, statt sich in Containern und alten Gemäuern einpferchen zu lassen, doch wenn Patronen, Bomben oder Korruption und Misswirtschaft das nicht zulassen, geht man halt dort hin, wo man gerne schröpft und den Wohlstand mit den Ellenbogen erreicht. Zu Lasten derer Herkunftsländer, die der Westen hat ausbluten lassen, abhängig gemacht, unter Umständen auch gewaltsam destabilisiert oder vielleicht tatsächlich „befreit“ hat. Wer sich so den Wohlstand ins eigene Land holt, holt sich auch die Menschen her, die den Wohlstand haben wollen.
Das Thema ist - wie immer in solchen Ausmaßen - sehr vielschichtig. Dann muss man eben auch vielschichtig und breit gefasst darauf reagieren, im Guten wie im Schlechten. Flüchtlingspolitik ist eben keine Disney-Mär, in dem alles bunt und heil ist. Aber auch kein zynischer Horrorfilm, in dem wir von einer Armee von Pennywise-Clowns heimgesucht werden. Unser Film ist der von nebenan, wo man sowieso nur mit den Beschlüssen konfrontiert wird, die sich Machthaber so ausgedacht haben. Und wenn die auch noch in blindem Aktionismus und Aktivismus Menschen in ein verranztes Gebäude stecken, mitten in die Wohnidylle Einheimischer, werden die Kinder wohl nicht mehr sorglos dort Fußball spielen und Hunde nicht mehr Gassi gehen.
Gag zum Schluss: Gerade macht Friedrich Merz wieder von sich Reden und bringt natürlich Siff-X auf den Plan. Seine Aussage zu Flüchtlingen, die sich angeblich vom Zahnarzt kostenlos die Zähne richten lassen, brachte die Moralisten offenbar dazu, ihre eigenen anzurufen und nachzufragen, ob die Praxen überlaufen würden. So schnell, wie die am Telefon hingen, um ihre Zahnärzte anzurufen, sind sie wahrscheinlich normalerweise nie – etwa für den nächsten Termin zur Routineuntersuchung...
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