Ich kann die Jahre gar nicht mehr zählen. Irgendwann hatte ich es aufgegeben, blind an die Institution der Gruppe zu glauben, nachdem ich mich nicht selten an Satzungen, Regeln und Erwartungen stieß. Das starre Regelwerk und festgefahrene Verhaltensvorstellungen ist der Deutschen liebstes Kind, das war früher schon so und hat sich bis heute nicht geändert. Es gibt Regeln, die machen Sinn, und ich bin gerne bereit, nach ihnen mein Leben auszurichten. Es gibt aber auch Regeln, die basieren lediglich auf dem Machtanspruch einzelner Personen, die letztlich zu viele Freiheiten einschränken können.
Gerade in heutigen Zeiten wäre es durchaus angebracht, eine Grundsatzdebatte darüber zu führen. Denn sind Regeln oft Auslegungssache, ein subjektives Ding, an dem sich abseits eines Grundkonsens gerne mal Diskussionen darüber entwickeln, wann etwas wie zu sein hat. Doch spätestens seit Corona und der regelwütigen Maßnahmenpolitik dürfte man sich an die Frage aller Fragen des zivilisierten Westens herantrauen: Ab wann sind Regeln sinnlos, nicht mehr verhältnismäßig und gar zu brechen?
Vermeiden statt meistern
Als Kind vertrat ich eine bestimmte Erwartung an Gruppen. Es sollte nicht mehr oder weniger einen Anlass oder Zweck geben, zu dem man sich zusammenfindet. Sei es der Sportverein oder Clique, die Grüppchenbildung innerhalb einer Schulklasse – die Neigung, sich zu bestimmten Menschen hingezogen zu fühlen, regelt die Richtung, in die man sich bewegt, manchmal schon von ganz alleine. Da spielen die Persönlichkeit und Affinitäten eine Rolle, und rein intuitiv weiß man auch, wen man mögen kann und wen nicht. Diese fast schon automatische Entwicklung bescherte mir eine reichhaltige Kindheitserfahrung mit echten Freunden, vielen Bekannten, die nicht nur dem Zweck geschuldet erträglich gewesen war. Der Konsens gestaltete sich auch in der Toleranz verschiedenartiger Charaktere mit ihren Stärken und Schwächen, und sollte irgendetwas aus der Reihe laufen, regelte sich das zumeist ohne großes Tamtam und auf Augenhöhe.
In dieser Findungsphase des Erwachsenwerdens sind einem schulisch-hierarchische Reglementierungen natürlich ein Dorn im Auge. Die Selbstregelungseffekte in Cliquen sind in Schulklassen natürlich nicht gerne gesehen, weil auch die Erwachsenen darüber richten, Ordnung und Disziplin zu vermitteln und wie sich das gestalten soll. Der Unterrichtsalltag greift zwar weniger in die Persönlichkeitsbildung junger Menschen ein, aber ist durchaus zu berücksichtigen, inwiefern ein Kind von der Möglichkeit abhängig ist, soziales Leben überhaupt erleben zu können. Aus heutiger Sicht scheint es immer wichtiger geworden zu sein, sozial isolierten Kids aus der heimischen Einöde durch die Schulpflicht externe Erfahrungen zu ermöglichen. Und so scheint es auch nicht zu verwundern, welchen Stellenwert es hat, die Schule besuchen zu können und inwieweit das zur Stärkung der Persönlichkeit beitragen kann, wenn es schon abseits der Schulzeit nicht möglich ist.
Die Generation Playstation ist allzu abhängig von ihren Eltern und ihnen dadurch auch schwer anhängig geworden. Heute scheint es ein Unding, die Kinder in der Wohngegend einfach nach draußen zu schicken, auf dass sie selbst ihre Gruppen finden und sich so selbst ein soziales Umfeld schaffen können. Diese Verzichtsstrategien besorgter Eltern mag zwar Kinder von Gesundheitsrisiken und pädophilen Übergriffen abhalten, bedeutet im Umkehrschluss aber auch ein Defizit an Vertrauen gegenüber den Kindern. Ich etwa durfte und sollte sogar „raus“, doch hat man mich nicht einfach per Schubser dazu gedrängt, sondern mein Bedürfnis nach Bewegung und sozialem Umgang mit einem Paket von Ratschlägen und Regeln ausgestattet, dass man im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen trifft.
Ausgezahlt hatte sich das just in einer Situation, in der ich von einem fremden Mann angesprochen wurde, dass er mich nach Hause fahren wollte. Es war die „klassische“ Situation, die böse hätte ins Auge gehen und mir die unbeschwerte Kindheit rauben können, hätte ich naiverweise zugestimmt. Aber ich tat es nicht, weil meine Mutter mir ständig eingeimpft hatte, ich solle nicht zu fremden Männern ins Auto steigen. Die Warnungen meiner Eltern hatten also gefruchtet, ihr Vertrauen in mich, solche Situationen richtig einzuschätzen und zu meistern, hatte sich ausgezahlt.
Home Sweet Home
Würden Eltern ihrer Fürsorgepflicht in ähnlichem Maße nachkommen, müssten sie ihre Kinder nicht aus Angst vor der Welt da draußen an die Kette legen. Es lässt sich noch darüber mutmaßen, ob sie wirklich zu viel Angst vor den gesellschaftlichen Entwicklungen haben oder aus naiver Bequemlichkeit heraus ihrem Nachwuchs den offenen Vollzug aufbrummen. Statt die Risiken bei Abwesenheit zu akzeptieren und den Kindern, wie meine Eltern es getan haben, Warnungen und Ratschläge mit auf den Weg zu geben, sind Smartphones und Spielekonsolen eine prima Ausrede für die Schutzbefehlenden, statt auf etwaige Gefahren aufmerksam zu machen die totale Vermeidung etwaiger Gefahren anzuerziehen.
Die Regelung durch präventive Gefahrenvermeidung ist zwar effektiv, aber auch schädlich für die Entwicklung der Kinder. Es ist also kaum verwunderlich, dass wir nach der Corona-Episode alarmierende Entwicklungen und Lernstörungen bei ihnen diagnostizieren müssen. Natürlich wurde das erst im schulischen Alltag erkannt, als das soziale Leben der Kleinen wieder ohne Einschränkungen möglich wurde. Corona-Maßnahmen war offenbar ein dankbarer Anlass für die Helikopter-Fraktion, alle Kontrolle in den eigenen vier Wänden zu behalten und 24/7 über ihren Lieblingen zu kreisen. Und somit das häusliche Regelwerk dem schulischen vorzuziehen, das im Home-Schooling stark an Relevanz verlor. Die Folge: motorische Probleme, Bewegungsmangel, Lerndefizite.
Kritische Leute hatten das befürchtet. Weil sie wussten, was es bedeutet, ein allumfassendes und strenges Regelwerk auch über die Kinder zu verhängen und völlig zu ignorieren, was das im Nachgang auslösen würde. Da die Folgen nicht unmittelbar erkannt wurden, sah man sie sogar als richtig an, doch die mittel- bis langfristigen Folgen davon werden uns jetzt erst langsam bewusst. Da spielte sicherlich auch die Zeichnung von Gefahren eine Rolle, Ängste zu säen und somit erneut eine Vermeidungsstrategie vorzusetzen, sich lieber in häusliche Isolation zu begeben, bevor man sich die Schuld für das Ableben von Oma und Opa geben müsste. Gerade bei Kindern sind Schuldfragen doch sehr mit Vorsicht zu genießen und zu vermitteln, wenn nicht gar völlig zu vermeiden. Wer jungen Menschen in einer Phase, in der sie das Leben erst so richtig kennenlernen sollen, das Erleben und Erfahrungssammeln abschneidet, wirkt auch folgenschwer in die Persönlichkeitsentwicklung ein. Und deswegen werden wir auch bald eine Generation erleben, die noch stärker als schon zuvor in Dauerangst und unfähig der Selbstständigkeit leben wird. Es ist also abzuwägen, den Kindern nicht allzu fatalistische Vorstellungen von der Welt da draußen zu vermitteln, bevor sie sich selbst völlig von ihr fernhalten.
Vertrauensverlust
Wie dem in Politik und Gesellschaft weiter begegnet wird, bleibt noch abzuwarten, aber lässt sich heute schon erkennen, wie man sich via Maßregelungen darauf einstellt. Da die Fähigkeit der Eigenentwicklung und vernünftiger Umgang mit dem Alltag immer mehr verkümmern, übernehmen Gruppen oder der Staat geradezu eifrig diesen Part. Das beschränkt sich mittlerweile nicht mehr auf die Vermittlung von Ratschlägen. Da sich jüngst eine Trotzfraktion formiert hat, die auch absichtlich unvernünftig sein kann, schaltet man vom Werben allzu schnell in die Reglementierung. Abzulesen bei jedem Vorstoß zu Gesetzentwürfen, die selbst vor Ernährungsregeln nicht mehr Halt macht.
Auch aus solchen Gründen ufern die Debatten teils aus, weil wir sie nicht mehr im Meinungsspektrum ausdiskutieren, sondern immer mit Regeln oder Verboten koppeln. Passieren Dinge, die die schon lange geltenden Gesetze brechen, reicht es heute kaum noch, die Gesetze in der bisherigen Form auch anzuwenden – man fordert fast schon automatisch ein explizites Verbot obendrauf. Wie aktuell in der Rammstein-Debatte geschehen, Aftershow-Partys gleich ganz zu verbieten. Und sei es nur der Gedanke, den man in übertriebener Besorgnis oder Empörung ins Spiel bringt. Dazu passt wieder der Vergleich zu meinen Eltern – Frauen mit dem Wissen auszustatten, dass Sex, Drugs und Rock´n´Roll durchaus Gefahren für sie bergen können. Doch will man gleich lieber eine anrüchige Eigenart im Musikbusiness tilgen, die zwar irgendwie unanständig ist, aber nur selten lückenlos einen Straftatbestand berührt.
Gerade bei den Moralhütern in Politik, Medien und NGOs hat sich heute eine regelrechte Regulierungswut ausgebreitet, die im Allgemeinen gerne als Nannystaat tituliert wird. Der lässt Vergleiche zu Helikopter-Eltern aufkommen, die neben selektiver Moralvorstellungen Gesetze und Regelungen gleich mitdenken und dabei auch gleich im Willen der Durchsetzung hoch pokern. Irgendwas wird schon hängenbleiben, so die Devise, und je nachdem, wie eine Allgemeindebatte schon gediehen ist, kann man gleich noch ein paar Forderungen mehr stellen.
Wo nur der Feind verbindet
Nun sind Regeln ja nicht per se unnötig. Hätten wir keine Regeln für uns aufgestellt, würde die Anarchie regieren, und das will niemand – nicht mal Straßenpunks können nicht ohne. Deswegen erscheint es schon etwas paradox, wie schnell Linke in einen Regulierungswahn verfallen können.
Das liegt für meine Begriffe schon eher an den verschiedenen Vorstellungen politischen Aktivismus, der sich gerade im Schulterschluss mit den neuen linksliberalen Auswüchsen übt. Der schweigende Konsens zwischen urbanem Bessermensch und Irokesenträger hält sich lediglich durch Parolen und Schlagworte aufrecht, wobei beide tatsächlich nur ihren politischen Standort und nicht den Lebensentwurf als Gemeinsamkeit betrachten können. Die neue Spießigkeit verträgt sich eigentlich kaum mit den „Haste mal ´ne Mark“-Asphalthockern, wenn weiterführend Regeln und Gesetze den Klassenunterschied verdeutlichen, den Punks und Hipster inne haben. Bisher kommt dieser Unterschied nicht an die Oberfläche, weil die Gemeinsamkeiten in der Hitze der Debatten offenbar ausreichen, sich selbst zu bestätigen und sich gegen einen gemeinsamen „Feind“ aufzustellen.
Der wird denn nun auch regelmäßig dazu instrumentalisiert, die Regelwut zu rechtfertigen. Die Täter-Opfer-Zeichnung krankt allerdings oft an Hybris und Doppelmoral und rechtfertigt in keinster Weise die Schärfe, mit der man die völlig übertriebene Sorge über Rechtsrucke in jedweder Form wegregulieren will. Dass mittlerweile alle Etiketten des Traditionalismus pauschal schlecht geworden sind, dominiert hauptsächlich die öffentliche Debatte, jedoch nicht das Alltägliche. So wird es auch immer schwieriger, Regelverschärfungen und Zusatzgesetze nachvollziehbar zu finden, wenn sie nur jenen nützen, die sowieso ihr Leben auf Verzicht oder Vermeidung ausrichten.
Gesetz der Straße
So geschieht es immer öfter, dass einseitiger Moralismus geradewegs die Gesetzschreibung kapert. Zwar tariert man aktuell noch aus, was machbar ist und was nicht, aber so füttert es auch die Empörungsökonomie in All-In-Manier, ohne vorher eine breitflächige Expertise zu erarbeiten. Die Idee wird stur zum Entwurf und zum Gesetz. Wenn man nur Habecks Gebäudeenergiegesetz zur Grundlage nimmt, zeigt sich, wie erst das Geschrei wagemutige und klientelierte Gesetzgebung in die Schranken weist. Da wirkt es wenig glaubwürdig, wenn er sich erst in Talkshows bußfertig gibt, wenn die überwältigende Mehrheit von Bürgern, Verbänden und Interessengruppen nicht einverstanden ist und der Bundeswirtschaftsminister vorher noch dünnhäutig zu den üblich gewordenen Etiketten greift. Er hätte „die Stimmung in der Bevölkerung unterschätzt“ - dabei ist anzunehmen, dass die ihm abseits seiner Blase gar nicht bewusst ist.
Das Aufbegehren in der Bevölkerung zeigt sich langsam, aber sicher in vielen Bereichen. Streiks und Brandbriefe, Gedanken, das Land zu verlassen oder Aufrufe, sich aus dem Zangengriff stupider Regelwerke zu befreien, werden immer lauter ausgesprochen. All die Beschwichtigungsfloskeln aus der Politik, wir würden bald ein „Wirtschaftswunder“ er- oder in einem Land gut und gerne leben – da sagt die Stimme der Straße etwas völlig anderes. Der Reformwillen der Ampelregierung zeigt schon im Vorfeld Nachteile für die Durchschnittsbürger, und egal welches Ressort es berührt, hagelt es – ist mal kein affiner, geldgeleiteter Funktionär zur Stelle – harsche Kritik.
Es ist also ein Weiter-so alter Fehler in neuem Gewand. Noch mehr reguliert als zuvor, um das zweifelhafte Handeln auch noch von den Gerichten fernzuhalten. Dieser schleichende Prozess wird allmählich gefährlich, da auch die Korrektive im Staat immer häufiger zu Ungunsten des Volkes entscheiden. Das nährt natürlich Wut und Frust – was man letztlich auch noch der Strafgesetzgebung zuführt, dass ein „Nein“ zu diesen Plänen gar nicht mehr gesagt werden soll. Unter „Hass und Hetze“ lässt sich dann sogar empfindliche Strafen austeilen. Und spätestens ab diesem Punkt sollte ernsthaft darüber nachgedacht werden, solche Regeln einfach zu brechen.
Titel
Die Systemfrage für diesen Ungehorsam sollte allerdings nicht durch Anarchie beantwortet werden, sondern durch die Gesetzschreibung von vor ca. 20 Jahren. Ein paar Anpassungen sind durchaus sinnvoll und nötig gewesen, aber ein „Digital Services Act“ oder Energiegesetze mit Bumerangeffekt sollte man lieber nicht ertragen wollen, wenn sie nur mehr Kosten und zweifelhaften Verzicht bedeuten. Ganz zu schweigen von einer Gewissensmanipulation, die Welt damit retten zu wollen, wenn es so viel ausmacht wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.
Abschließend spielt noch die Gruppenbildung auf der Straße eine Rolle, die schon lange nicht mehr unter verschiedenen Kriterien zusammenlebt. Heute scheint es relevanter denn je geworden, den Zweck über alles zu stellen, was letztlich auch politische Schnittmengen zur absoluten Voraussetzung erhöht hat. Menschen mit unterschiedlichen Meinungen entfremden sich heute viel schneller und absoluter als früher. Ob dies ein netter Nebeneffekt zur Steuerung der Massen ist oder gar geplant, mag ich gar nicht vorurteilen – so jedenfalls ist die Macht des Volkes durchaus den Eliten zugunsten massiv geschwächt worden, was wiederum empfänglicher für die Fremdbestimmung macht.
Ein Nachwort zu den Folgen: egal, um welches Thema es sich handelt oder wie sehr sie uns eintrichtern wollen, dass wir in einer Demokratie leben – sie leben es nicht vor, sie halten Widerrede nicht mehr aus. Und sie steuern derart massiv dagegen, indem sie uns neue Regeln und Gesetze vorsetzen. Dies thront über all der Schönfärberei in einem demokratischen System, das mittlerweile unter Wahnvorstellungen leidet und in völlig maßloser Übertreibung wie ein zu laut aufgedrehter Lautsprecher übersteuert und eine Lawine an Pflichten und Verboten ins Rollen zu bringen. Bis auch der letzte kapiert, dass man das nicht zu unserem Besten tut, auch wenn die Absichtserklärungen irgendwie vernünftig klingen mögen. Mit Regeln und Gesetzen zu hantieren, um eine Drohkulisse aufzubauen, hebelt den Vernunftgedanken allerdings schnell aus.
Kommentar schreiben
Juri Nello (Sonntag, 25 Juni 2023 11:29)
Nur handelt es sich bei Deutschland nicht um einen Hort von Anarchisten.
Sofern Du es verstehst, eine gute bürgerliche Fassade mit frischem Anstrich zu wahren , so können Dir vielleicht ein paar Regelbrüche gelingen. Allerdings im eher kleinen Bereich.
Die von Dir oben beschriebenen Entwicklungen sind schlicht Merkmale einer narzisstischen Gesellschaft. Überall dazu passend sprießen Meldestellen wie Pilze aus dem Boden, wie Internetpranger im Netz.
Das führt dann dazu, dass der Obdachlose, der sich mit seinem Hund das Schappi teilt, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses eingeknastet wird. Was dann wohl mit dem Hund passiert?