Eigentlich sind es Regeln für die Handlungsfaulen. Bei der berühmten Henne-Ei-Frage müsste für meine Begriffe nur noch benannt werden, ob die Regeln die Faulheit herbeigeführt haben oder ob sie der sich vorher eingeschlichenen Faulheit nur Rechnung tragen. Häufig würde man gar diese Prinzipien ganz simpel durchbrechen können, wenn man sich das reale Leben, das Physische wieder etwas bewusster lebt. Statt sich im TV Natur-Dokus anzuschauen, einfach mal selbst in den tiefen Wald aufbrechen. Eigene Erfahrungen machen. Und das nicht unter dem Banner irgendwelcher Dienstleister, denen man Geld in den Rachen wirft, weil sie einem die Idee servierten, für nicht wenig Geld eine Waldwanderung oder Ähnliches anzubieten.
Dass man Freizeit immer mehr monetarisiert hat, kann man wohl kaum bestreiten. Und dass wir davon auch massig Gebrauch machen, dito. Ob man so das Bildungsbedürfnis stillt oder nur schnöde Unterhaltung will, ist dabei egal. Klar, dass dabei auch die gesellschaftliche Entfremdung eine Rolle spielt, die diesem Prinzip in die Hände spielt. Als es noch nicht so war, wähnte man sich in einem festen Kreis, in denen die Ideen nur so sprudelten. So kenne ich es zumindest, die eine wie die andere Seite, lasse ich mal meine Kindheit Revue passieren – und da gab es Phasen der Einsamkeit, aber auch eine verdammt geile Zeit mit vielen Freunden und Bekannten. Zweite war natürlich die Zeit, in der wir immer etwas fanden, um uns die Zeit zu vertreiben; erste ist schon ein kleines Kunststück, sich etwas Erfüllendes zu suchen, das keine Mitspieler braucht.
Heute scheinen die Aktivitäten immer mehr zu verwaisen, und dann kam auch noch ein Virus hinzu, die uns in der Folge eine Rechtfertigung mitlieferten, warum man denn die Kids nicht mehr auf den Spielplatz schickt oder selbst mal eigenverantwortlich etwas unternimmt und sich so verschiedenen Kaltwasser-Situationen nicht mehr aussetzt. Mit Krisen versüßt man sich auch noch die eigene Untätigkeit, gigantisiert die Hürde, macht sich selbst klein, dass es schließlich einfach wird, Sprüche „Ist halt so.“ oder „Kann man nichts machen.“ bringen kann, ohne rot zu werden. Man hat prinzipiell damit eine Dienstleistung an sich selbst vollzogen, um die eigene Untätigkeit zu begründen. In solchen Denkmustern handelt man demnach nicht selbst, um die Krise zu lösen, sondern ändert nur die Rahmenbedingungen, um der Krise mehr Raum zu geben. Beim Virus und dem Stichwort Spielplatz ist anzunehmen, dass man das sowieso vorher nicht getan hat oder - wenn doch – das immer mit Sorgen verbunden war. Und da reicht die Palette von verunreinigtem Sand bis verbuddelten Heroinspritzen bis zur übertriebenen Vorsicht, dem kleinen, motorisch ungeschulten Adel könnte beim Kraxeln etwas widerfahren.
Vielleicht vergrößern wir deswegen die Gefahren und reden zu wenig über Möglichkeiten. Zumindest im realen Umfeld; seltsamerweise heroisieren wir zeitgleich alles, was man digital outsourcen kann. Auch hier darf man zweifeln, ob das nur mehr Zeit für andere Dinge freischaufeln mag oder nur einen weiteren Schritt in die virtuelle Koexistenz geht, um sich lieber dadurch zu definieren als durch das eigene Sein. Und das definiert sich allzu oft durch Defizite, sei es von anderen „erkannt“ oder sich selbst eingeredet. Und weil wir so viele Stücke auf unser heiles, digitales Selbst halten, scheint die Schwarz/Weiß-Färbung allzu schnell aus dem Hut gezaubert. In dieser Welt sind wir „digiphlegmatisch“ geworden – wobei Phlegma nicht automatisch „faul“ bedeutet. Die Faulheit befällt auch diejenigen, die sonst wie Wirbelwinde durch das Land pflügen.
Welche Auswirkungen die absolute Freiheit haben kann, bemerken wir schon länger. Wir haben uns allzu naiv dort hineingestürzt, und als dann der Rechtsruck aufkam, mussten wir feststellen, dass man das Internet (das www wie das der Dinge) sehr leicht missbräuchlich verwenden kann. Als gäbe es dort keine Regeln, keine Sicherheit und auch keine Exekutive, die das Netz im legalen Rahmen hält. Dazu schienen die sonstigen Selbstregulierungsmechanismen oder das blinde Vertrauen auf die Gruppendynamik gescheitert oder zu wirkungslos. Als uns dies wie Schuppen von den Augen fiel, kamen wir aus dem Regulierungseifer seitdem gar nicht mehr heraus. Und schlagen seitdem auch immer mehr über die Stränge. Es ist also fast schon tragisch zwangsläufig dazu gekommen, dass wir nun eine Art Endkampf zwischen Moralwächtern und Anti-Kräften ausfechten. Und da ist zwangsläufig auch alles radikal, was nicht die eigene Meinung bestätigt, man selbst jedoch wähnt sich als moralische Instanz.
Das alles wäre nicht annähernd so schlimm, wenn sich diese Entwicklungen rein auf das Netz beschränken würden. Doch langsam fließt es ins reale Leben über, wo eine bisher funktionierende Form von Staat, Gesetzen oder Gesellschaft ähnlich problembehaftet gesehen wird. Seitdem scheint kein Stein mehr auf dem anderen zu bleiben, was letztlich zum berüchtigten Dogma führte, was man heute als „Zeitenwende“ oder „Transformation“ kennt. Dass dies viel Staat und die vermeintliche Notwendigkeit größerer Regulierungen bedingt, dürfte auch an der Dekadenz liegen, die nicht nur das Netz mit seiner quasi-doppelten Existenzwelt befallen, sondern dazu noch in der Echtwelt problematischen, maßlosen Eigennutz befeuert hat. Einer Gesellschaft, die sich prinzipiell miteinander arrangieren muss, ziemlich unwürdig – leider auch in der Nutzung der Gegenmaßnahmen, die nur das gegenseitige Extrem bedienen.
Es ist durchaus kompliziert, abstrakter gedacht allerdings gar nicht mal so vielschichtig. Irritierend wird es erst, wenn das eigene Dogma auch noch durch die eigenen kontextuierten Worte oder gleich durch Handeln Doppelstandards erkennbar macht. Mittlerweile entscheidet man noch schlimmer als zuvor via Sympathie oder ideologischer Schnittmengen. Der Faktor Mensch und seine damit einhergehende Individualität wird immer mehr vernachlässigt, heute gar als Problem gebrandmarkt, die dem Kollektiv schaden würde. Man lagert die Verantwortung so auf alle anderen aus – auch eine Unart, die sich in allen Bereichen durchgesetzt hat. Man bringt Dinge aktiv voran, aber wenn es schiefgeht, will man nicht schuld gewesen sein. Also muss jemand anderes als Bauernopfer herhalten. Neu ist das nicht, aber aktuell so beliebt wie selten zuvor.
Nun möge man sich fragen, ob ich als jener welcher, der diese Probleme in beobachtender Position gesehen haben mag, denn der bessere Mensch wäre. Das verneine ich hiermit. Vieles, was ich beschrieben habe, sehe ich auch in Teilen oder ganz bei mir selbst. Führt auch zu einem inneren Kampf mit mir selbst. Mach´s besser. Geht aber manchmal nicht. Warum nicht? Blockade im Kopf; teils Unwillen, weil unsinnig. Wann sollte ich ein Verhalten abstellen und wann nicht?
Man hat mir schon öfter nachgesagt, dass ich phlegmatisch wäre. Das stimmt sogar, wenn ich mir das Tempo anderer anschaue. Im Zeitalter der Hyperaktiven ist das natürlich noch konträrer als zuvor, als mir das noch ein Ausbilder in meiner Lehre offenbarte. Das ist etwas, das ich sowieso nicht regulieren kann, weil es zu meiner Persönlichkeit gehört. Da draußen könnte man sich das als gewinnbringend aneignen oder mit einflechten, tut man aber nicht, weil alles hektischer, zeitverengter und gnadenloser wird. Auch das kann man als Widerspruch sehen, gerade in diesem Gesamtbild der zwei Welten, wo es digital den Anspruch auf Entschleunigung gibt, man das aber in aktiver Weise gar nicht vorlebt. Von den sozialen Medien will ich erst gar nicht anfangen – auch weil darin das Wesen und die Dynamik nur noch als irre zu bezeichnen ist. Da scheitert heute jeder Appell, alles mal etwas ruhiger anzugehen.
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Dr. Peter Fellenberg (Sonntag, 16 April 2023 01:05)
Da machste es Dir halt bequem - und schimpfst irgendwie auf die Welt. Meine Güte: Ohne jeden Anspruch an sich selbst ist gleichbedeutend mit ohne Würde. Wohlstandsverwahrlosung liest sich wohl so. Junge! Lese fleißig, wie diese Welt funktioniert - nicht nur hier…
Polemicer (Sonntag, 16 April 2023 08:52)
@Herr Doktor
Na, dann erklär mir doch die Welt. Ich bin mal gespannt, wie du mir jetzt die Formel für alles auftischen willst, die du dir offenkundig so selbst erdacht und eingelesen hast.
Holgi (Sonntag, 16 April 2023 09:30)
Weder das hektische noch das phlegmatische Wesen sind per Definition gut oder schlecht.
Man kann aber wohl sagen, dass beides, auf die Spitze getrieben, nicht gut ist.
So muss du dich halt mal selbst überreden, in die Gänge zu kommen, während sich andere bremsen müssen.
So und jetzt lege ich los, weil ich mich nach deinem Text überredet fühle, in die Gänge zu kommen!
Ach so: Des Doktors Zeilen las ich, verstehe sie aber nicht.
Polemicer (Sonntag, 16 April 2023 13:14)
@Holgi
Na, wenn dich das zum Aufbruch gebracht hat, bin ich ja jetzt ein wirkungsvoller Aktivist ;-)
Herr Doktor hatte wohl nur unter dem Eindruck von zu viel Traubensaft, nachts um 1 Uhr zu viele Studien gelesen und somit die Welt verstanden. Aber ist dann nur in meine bereitwillig geöffnete Flanke meiner Selbstkritik gestoßen, um noch nachzutreten. Einen anderen Zweck sollte das wohl nicht haben.