Der Anlass für diesen Ausflug war rein beruflicher Natur. Die Firma mit der Hauptstelle in Dresden, in der meine bessere Hälfte beschäftigt ist, feierte ihr 30-jähriges Firmenjubiläum, und da lässt man sich natürlich nicht lumpen, wenn man freie Kost und Logis erwarten darf. Meiner Freundin und dem Kollegium aus der Pfalz wurde eine Nacht im Hotel plus feucht-fröhlicher Abend mit Catering spendiert, was die Delegation auch zum Anlass nahm, noch eine Extranacht dort zu verbringen, um sich die schöne Stadt an der Elbe etwas genauer zu betrachten.
Freundins Chefin mit Ehemann und Tochter kannten das schon, hatten sie schon zu den Sommerfesten die Jahre zuvor die Gelegenheit genutzt, ein verlängertes Wochenende im Osten zu verbringen. Und sie hatten uns schon vorgewarnt, dass man an der Feierlocation bei entsprechender Witterung abends und ordentlich behopft nackt in den Pool springen könnte. Wir schielten noch mal kurz auf´s Wetter, und ja, bei relativ angenehmen 18 Grad am Abend könnte das sogar passieren.
Ich erinnere mich noch an meine Ausflüge in den Osten, als ich mir noch einige Wochenenden mit der Band in allen möglichen Gegenden um die Ohren geschlagen hatte. Darunter war auch ein paar Male der Osten. Interessant waren in dem Zusammenhang die Autobahnen, die bis dato als Ergebnis des verheizten Solidaritätzuschlages keine Wünsche offen ließ. Der Asphalt duftete gar noch frisch, der Verkehr löste sich da drüben schnell auf und wir konnten ohne Hindernisse durchbrettern, wenn wir die üblichen westdeutschen Nadelöhre hinter uns gelassen hatten. Das war noch in den 90ern gewesen, wobei das Asphalt-Wunderland nicht bis ins letzte Hinterlanddörfchen gesprossen war. Zu oft schlingerten wir in Schlaglochhausen über verkümmertes DDR-Kopfsteinpflaster.
Einig Deutschland
Die Zeiten sind mittlerweile vorbei. Der Osten hat sich nun den „Gepflogenheiten“ des Westens voll angepasst, und so bremsten uns auch ab Chemnitz unendlich lange Baustellen aus. Selbst die Brücken-Paranoia bedingte etliche Baustellen, wo manche Elbbrücke gerade wieder ausgebessert wurde. Straßentechnisch ist Deutschland also schon sichtbar vereint, und ja: ich mache diesen Unterschied zwischen Ost und West immer noch, weil ich die zwanzig Jahre Abstinenz als Vergleich zur Zeit des Aufbaus bis heute eben doch interessant finde und eine kleine Bestandsaufnahme machen möchte.
Darunter kann ich allerdings jetzt einen Schlussstrich ziehen, denn sind, mal abgesehen von Privatgrundstücken, die partout an ihrer ostalgischen Architektur festhalten wollten, keine Unterschiede mehr auszumachen. Die Party-Location, das Megadrome in Radebeul, und das praktischerweise angrenzende Hotel befanden sich – natürlich – in einer Baustelle. Duftender Asphalt, Sackgasse, Zufahrt gesperrt. Eine alte Dame, die gerade die Straße entlang lief, wies uns dann den Restweg: „Do müssense die Strooße zurück ünd links ünn nochmo links in de Sockgasse foohrn. Die ham dos früsch asphaldierd.“
Hihi, sächsisch. Ich finde den Dialekt knuffig. Ich hatte durch meine 90er-Erfahrungen fast schon angenommen, dass wir das Wochenende schlimmer dran wären als im europäischen Ausland, aber – und das vorweg – nuschelte niemand so derbe, dass wir es nicht verstehen würden. Nein, im Gegenteil, viele sprachen einen deutlichen Anteil Hochdeutsch mit starkem Sächseln als Begleitton, und das fand ich angenehm wie eben lustig.
Das Hotel hatte was von Mini-Einkaufspassage, die man irgendwann aufgegeben hatte und nun zum Hotel umfunktioniert worden ist. Selbst einen Friseur und ein Vetriebsbüro gab es darin noch, das Hotel war durch die ellenlange Zugangspassage erreichbar und sah ein bisschen aus wie der übereifrige Versuch, nostalgisches Mobiliar zu sammeln und auszustellen. Da standen noch Ohrensessel von anno dazumal, Stuhlgruppen gefühlt aus der Renaissance, holzgerahmte Glasvitrinen oder eine Bar, der gar noch der 60er-Jahre-Mief samt Zigarettenqualm anzukleben schien. Die Frau an der Rezeption wirkte indes etwas abwesend. Man las nicht allzu viel Gutes über den Laden, vor allem der Personalmangel war ständiges Kritikthema. Entsprechend fahrig und beiläufig begrüßte sie uns nur knapp, hing mit dem Gesicht lieber in ihrem PC-Bildschirm und suchte angestrengt den Namen meiner Freundin in den Reservierungen. Den Schlüssel beeilte sie sich auf den Tresen zu schmeißen, kurze Wegbeschreibung zum Zimmer. Ferdsch.
Oben im Flur weitere Anzeichen für die Sammelwut – zwei Nähtische mit fußbetriebenen Nähmaschinen, Uraltkommoden und Schubladenmobiliar. Wir erwarteten fast schon, dass die Zimmer ähnlich dekoriert sein würden, aber nein, das ersparte man uns dann doch. Die waren standardmäßig. Gemütlich, freundlich-gelbe Tapeten und ein modernes Badezimmer in weißen Fliesen, bequeme Matratzen. Gut für zwei Nächte.
Ohne Umschweife will ich das Sommerfest jetzt mal im Schnelldurchgang durchexerzieren, weil es im Grunde nur zwei Besonderheiten aufwies, nämlich die Auftritte, die gebucht wurden. Die Geschäftsleitung buchten ein Komikerduo auf die Bühne, das mir gar bekannt vorkam (nicht besonders lustig für meinen Geschmack) und wurde selbst von einer Show überrascht, die die Belegschaft spendiert hatte – einer Stripshow, die manche zu übertrieben fanden. Chef und Chefin waren das Blankziehen mit gleichzeitigem Interaktivgefummel und unkontrolliertem Bodylotion-Geschmiere sichtlich etwas unangenehm. Letztlich bedankte man sich völlig konsterniert für die Silikonmelonen und den McFit-Gigolo artig, aber kaum begeistert. Im Gegenzug durfte sich jeder den Wams mit kreativ gekochtem Catering vollschlagen und sich mit (glaube ich) selbstgebrautem Bier die Lichter ausschießen.
Zur genannten Poolparty sollte es allerdings nicht kommen. Die Wettervorhersage war mal wieder für die Tonne gewesen, 18 Grad ein Wunschtraum. Man fror sich, nachdem die Sonne unterging, schön frostig bei gefühlt einem Drittel der verkündeten Temperatur den Hintern ab. Ich hatte zwar noch einen Hoodie mit; wir alle hatten damit gerechnet, dass wir langärmelige Kleidung nach Sonnenuntergang mal langsam angebracht wäre, aber selbst das ließ nur die Knie schlottern, so dass wir eher im Wintermantel hätten dasitzen müssen. So suchte die Chefin eifrig nach Wolldecken und wir die große Feuerstelle auf, die uns wenigstens etwas Wärme spendierte. Da dachte ich das erste Mal an „Dunkeldeutschland“, wo frostige Stimmung aufkommt – in dem Fall aber als Überraschung mit freundlichen Grüßen vom Wetterdienst-Supercomputer, der sich gefühlt um zehn Grad vertan hatte.
So lichteten sich auch schnell die Reihen der Gäste, die lieber die wohlige Wärme des Hotelzimmers und der Bettdecke suchten. Ein etwas ernüchterndes Erlebnis zum Auftakt des Wochenendes, das nicht folgenlos bleiben sollte.
Grobes Vergnügen
Zum nächsten Morgen dann die zweite Wetterüberraschung – ich konnte, als hätte die Frostphase nie stattfgefunden, morgens bei eitel Sonnenschein mit Kaffee und Kippen im Außenbereich des Hotels im T-Shirt Platz nehmen. Die Luft hatte sich unbemerkt aufgeheizt und sorgte für das angenehme Klima, das uns zwölf Stunden zuvor verwehrt gewesen war. Gute Voraussetzungen also für unser Unterfangen, sich Dresden anzuschauen, ich starrte schon mal warnend die Wetter-App an: „Wenn du nochmal Blödsinn anzeigst, schmeiß ich dich vom Handy runter.“
Zeitlich bedingt würden wir natürlich nur einen groben Überblick bekommen. Durch die Altstadt zu schlendern sollte Pflichtprogramm sein, andere Spots würden wir in der kurzen Zeit wohl kaum schaffen. So verabredete sich die Pfälzer Truppe zu einer Stadtrundfahrt. Normalerweise ersparen wir uns solche Fahrten lieber und entdecken Orte gerne für uns selbst, aber dem Gruppenzwang zuliebe blätterten wir eben doch 35 Euro hin, um uns mit dem roten Doppeldecker durch die Straßen karren zu lassen. So tuckerten wir durch Alt- und Neustadt, die Elbpromenade entlang, an Parks und dem Dynamo-Stadion vorbei, unterhalten und informiert durch den eingeübten Herren, der mit lakonischem Witz die Locations beschrieb. Wir fuhren durch, bis wir an einem besonderen Ort Halt machten – dem „schönsten Milchladen der Welt“. Der Laden mit dem sehr pompösen, aufwändig befliesten Innenleben ist wahrlich etwas Außergewöhnliches, da sollte man gerne mal einen Blick hineinwerfen. Der Rotbus machte derweilen Pause. Keine Angaben zu Pausenzeiten, und während wir Toilette und Läden mit Getränken aufsuchten, gingen höchstens 10-15 Minuten ins Land, und wir wussten einfach nicht genau, wann die Tour fortfahren sollte.
Dann fuhr sie wirklich fort. Und wir standen perplex auf dem Bürgersteig, starrten dem Fahrer noch ins Gesicht, während der das Weite suchte. Weg. Und ließ uns einfach stehen. Na, super.
In diesem Moment von „hatte der was davon gesagt, wie lange er stehen bleibt?“ (nö, definitiv nicht) und „das ist ja jetzt mal scheiße“ (ja, definitiv!) riefen wir auch gleich eine Nummer an, die auf der Werbebroschüre angegeben war. Am anderen Ende der Leitung konnte man uns noch beruhigen, weil der nächste der roten Touristenlinie 45 Minuten später ankommen würde. Also schlugen wir gezwungenermaßen die Zeit tot, meckerten noch eine Zeit lang über die Idioten, die uns hatten stehen lassen. In der Zeit erfuhren wir, dass wir lieber die blau-grüne Linie hätten buchen sollen, denn von denen hielten in der Zeit gleich zwei am Milchladen an. Dazu noch ein Kaffeefahrt-Reisebus mit einer Ladung Rentner. Unser Doppeldecker trödelte dann letztlich auch ein.
Wir natürlich gleich die Story an den Fahrer weitergegeben, der uns verständnisvoll einlud, aber offenkundig auch wusste, was für ein Depp der Kollege ist. Wie sah der denn aus? So und so, und er schaute seine Kollegin nur an und nickte wissend. Aha, der ist wohl schon mal mit solchen Kapriolen aufgefallen? Gut, wenigstens konnten wir nach dem Zinnober ohne Probleme mitfahren, damit wir wieder zum Ausgangspunkt der Tour zurückkehren konnten.
Das war mal was. Als wir unweit der Frauenkirche wieder ausstiegen, trösteten wir uns nach der Deppenaktion mit der Gewissheit, wieder eine Anekdote für Zuhause parat zu haben. Nun trennten sich dazu die Pfälzer Wege, so dass meine Partnerin und ich uns die innere Altstadt mal so anschauen konnten, wie wir das sonst immer tun. Der Hotspot ist geografisch betrachtet auch nicht so weitläufig wie gedacht, ein Paris oder Barcelona ist Dresden diesbezüglich nun wahrlich nicht. Wenn man normal hindurch schlendert und keine Sehenswürdigkeit von innen betrachtet, würde ich meinen, man ist in zwei, drei Stunden durch. Und in den paar Stunden würden wir sowieso kaum viel entdecken können, also marschierten wir im Groben ein Mal durch die wichtigsten Plätze und Gassen.
Dabei kam uns wieder die deutsche Regulierungssucht in den Weg. Zum Abschluss der Runde wollten wir uns noch die Frauenkirche von innen betrachten, aber die ist nur zu bestimmten Zeiten betretbar, am Wochenende gar noch weniger als werktags. Am Hauptzugang stand dann auch ein adretter Türsteher Schmiere, was der einzige Hinweis für „du gömmsch hier nüsch rein!“ ist – ansonsten muss man sich im Internet darüber kundig machen, welche Veranstaltungen denn stattfinden, um Touristen fernzuhalten. Nur zum Vergleich: in keiner europäischen Stadt war es uns passiert, dass man eine Kirche nicht betreten konnte. In Dresden hingegen lud man so viel Hochkultur ein, dass die Chancen, vor verschlossenen Türen zu stehen, ziemlich gut standen.
Die Restzeit verbrachten wir dann wieder am Neumarkt in einem der vielen Cafés. Die Delegation hatte sich um 19 Uhr zum Pizza-Essen verabredet, so trafen wir uns allerdings zufällig dann doch wieder früher und sonnten uns bei selbstgemachter Limo und den ersten Symptomen des Unwohlseins. Bis zu dem Zeitpunkt bemerkte ich noch nichts davon, aber Chefin und meine Partnerin klagten schon über Kopf- und Gliederschmerzen. Die Auswirkungen des Vorabends schienen nun anzuschlagen. Bis dato und in der prallen Sonne schien das noch nicht so schlimm zu sein, und als die Zeit für Pizza schlug, wechselten wir auch recht schnell ins L´Osteria quer über den Platz.
Eigentlich hätten wir uns irgendwo anstellen sollen, um einen Platz zugewiesen zu bekommen. Doch war eine Sitzgruppe so einladend frei, dass wir uns dreist an der Schlange vorbei mogelten und uns einfach hinpflanzten statt uns eine halbe Stunde die Beine in den Bauch zu stehen und per Anweisung wieder nur dem Gusto der Belegschaft unterworfen zu sein, während der Magen knurrt. Da uns niemand aufhielt, war die Entscheidung okay. Wir alle bestellten uns irgendeine Pizza, von denen Chefin und Co. so sehr geschwärmt hatten. Die Scheiben sind auch außergewöhnlich groß, dass sie sogar noch rund um einen Pizzateller knapp zehn Zentimeter über den Rand hingen. Und schmeckten verdammt gut.
Danach setzte bei meiner Partnerin endgültig der Körper aus. Sie saß still da und kämpfte sichtlich mit den Symptomen, die gegen Abend immer stärker heraustraten. Und wenn sie schon so derart in den Seilen hängt, dann weiß ich, dass es ernst ist. Auch die Chefin fiel nach der Pizza in sich zusammen. Die Auswirkungen des Vorabends forderten nun ihren Tribut, dass der angegriffene Körper nur noch nach Bett, Wärme und Ruhe rief, und so schleppten wir uns Richtung Auto und die paar Kilometer zurück ins Hotel.
Ich grübelte noch ein bisschen über den Tag, etwa über den Doppeldeckerdeppen oder das Grüppchen, das bei uns mit im Bus saß, die sichtlich angesäuselt jede Location mit dummen Sprüchen kommentiert hatten. Das waren nur ein paar von vielen dunkel gekleideten Besuchern gewesen, die an dem Samstag die Stadt durchflutet hatten, gefühlt zwei Drittel mit derselben Band bepflastert – Frei.Wild. Spätestens seit wir mit den Rotbus am Stadion vorbeigefahren waren, war dann für die Nichtwissenden klar, dass Frei.Wild im Dynamo-Stadion aufgetreten waren. Ein riesiges Plakat klebte an der Tribüne. Wenn man so etliche von solchen Bombenlegern mit Bürstenschnitt sieht, wundert man sich zuerst, aber weiß auch, dass die Band mehr oder weniger das bürgerliche Scharnier in die Rechtsrockszene darstellt und in Musikstil und Kontroversen genauso zwielichtig erscheinen wie die Onkelz.
Zusammenbruch
Am Sonntag hieß es letztlich nur noch Auschecken und Wunden lecken. Die halbe Pfälzer Mannschaft quälte sich zum Frühstück, und auch bei mir traten die ersten Symptome wie Kratzen im Hals ein. Meine Freundin war nun völlig platt, und da ich ja zwei Nächte neben ihr die Ausdünstungen ihrer angehenden Krankheit mit eingeatmet hatte, war mir dann klar, dass es mich auch erwischen würde. Allerdings war da noch fünf bis sechs Stunden Fahrzeit dazwischen, bis ich mich mal ausruhen könnte, und so hatte ich das Gefühl, dass ich in der Zeit den eigenen Krankheitsausbruch noch mühevoll unterdrücken konnte. Zum Abschied brachte die Rezeptionstante noch mal ordentlich ins Straucheln, da sie unterschiedliche Rechnungen für dieselbe Belegung abrechnete.
Dazwischen, bei jeder Rast, die wir auf dem Heimweg noch einlegten, kreuzten sich auch noch die Wege mit verstreuten Frei.Wild-Jüngern, die zum Teil jedoch auch einschlägiges Nazi-Merchandise am Leib trugen (Thor Steinach und Co.). Ein wenig bestätigte sich das Klischee von „Dunkeldeutschland“, wo in einer Weltstadt wie Dresden der Nationalismus (und schlimmer) unbehelligt seine Zelte aufschlagen darf, und du fragst dich, ob der Landesvater, dessen Amtssitz nur wenige Kilometer vom Stadion entfernt liegt, überhaupt weiß, wer denn so in „seiner“ Stadt einkehrt. Von irgendwelchen Traditionalisten im Hipsterlook mal abgesehen – da waren, später deutlich sichtbar, auch astreine Faschos zugegen. Am Konzerttag war das noch schwierig gewesen, die Harmlosen von den Radikalen zu unterscheiden – am Rasthof jedoch wurde dies allzu deutlich. Und auch wenn die Band, wie schon bei den Onkelz, sich offiziell nicht als Nazis sehen, sprechen halbgare Distanzierungsaussagen und deren Vergangenheit in der einschlägigen Szene eine andere Sprache, wem sie da unter der Hand Einlass gewähren. Und die Politik sitzt quasi in der Nachbarschaft und scheint davon keinen blassen Schimmer zu haben.
Und ich denke mir: HIER findet man den Rechtsruck, den man mal recherchieren, aufarbeiten und deutlich verfolgen müsste. Doch scheint es zu reichen, wenn man beim eigentlichen Event und Aufenthalt in der Stadt ein entsprechendes Shirt trägt, um sich nicht zu offensichtlich zum Freiwild für den Verfassungsschutz zu labeln. Für das mondäne Antlitz von Dresden waren diese Schwarzträger schon ein auffälliges Exotikum gewesen, sofort erkennbar in dieser Komplementärfärbung Schwarz gegen Pastellfarben, und für mich auch nicht gerade ein Erlebnis, das man ungefiltert genießen kann. Die Fans waren ein regelrechter Kulturschock für das Zeitalter - Barock meets Rechtsrock. Und mit Sprüchen wie „Fick dich und verpiss dich!“ vom mir unbekannten Gassenhaueralbum für ölig-prollige Simpelst-Rock-Verfechter auf dem Textil hofft man, dass die Besucher von weit her kein Deutsch sprechen.
Als wir dann eine lange Fahrt später endlich wieder zuhause ankamen, brachen bei mir schließlich auch alle Gesundheitsdämme, und ich fiel völlig fertig und hustend auf die Couch. Das bescherte mir und meiner Partnerin dann eine harte Woche mit Fieber, Schüttelfrost und sonstigen Symptomen samt – tadaaaa, nun wir auch! - C-Positiv-Test (bei ihr mit einer Magen-Folgeerkrankung obendrauf noch eine Woche mehr). Und das trübte den sonst schönen Aufenthalt im Osten entsprechend ein, mal abgesehen von Busfahreridioten und suspekten Musikfan-Invasoren.
Ich würde mich zwar freuen, mal wieder dort hin zu reisen, allerdings dann autonom, ohne Abhängigkeiten von nicht billigen Stadtrundfahrten, die klammheimlich das Weite suchen. Ein wenig fader Beigeschmack blieb, mal abgesehen von Lügner-Apps und der daraus brütenden Krankheit, da man vor Ort keine Ausweichmöglichkeiten fand, bei frostiger Kälte im Innenbereich weiterzufeiern. Das Wochenende hatte leider zu viele unschöne Momente inklusive, die man unabhängig wahrscheinlich eher hätte umgehen können.
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Holger (Sonntag, 17 Juli 2022 19:31)
Mein Mitgefühl für die verlorene Zeit wegen einem lausigen Firmenausflug. Die Zeit bekommt man nicht mehr zurück.
Das ist allerdings nicht der Grund für mich in die Tasten zu greifen.
Der absolute Freiwild-räächst-nazi-Hype war vor ungefähr 9 bis 10 Jahren. In Funk und Fernsehen wurde regelmäßig über diese verkommene Naziband und ihre Menschenverachtung berichtet. Meist bezogen sich die Meldungen auf die Nazivergangenheit des Sängers und einzelne Textzeilen.
Rundfunk und Presse waren sich einig. Fans waren empört. Ich war ratlos.
Zu meiner Schulzeit (vor 30 Jahren) hatten wir zwei Jungen in der Schule, mit rasiertem Kopf, Bomberjacke und DocMartens. Die waren ganz begeistert von Blut und Boden und Ehre und all dem anderen Kram, was zu der geschichtlichen Epoche der Nationalsozialisten gehörte. Wir hielten uns einfach von denen fern.
2009 las ich das Buch "Meinungsmache: Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen" von Albrecht Müller. Dieses Buch machte mir damals bewusst, dass wir von Politik und Medien verarscht werden, und dass sie unser bedingungsloses Vertrauen nicht im Geringsten verdienen. Für mich war es ein Augenöffner.
Als also dieser Freiwild-Nazi-Hype die größten Wellen geschlagen hat, bin ich dann doch neugierig geworden und habe mir deren aktuelles Zeug mal selbst angehört.
Meine Erwartung bezüglich der Erfahrungen mit den Nazis in meiner Schulzeit wurde tatsächlich enttäuscht. Hingegen die Dramatisierungserfahrungen der Medien wurden bestätigt.
Zum Beispiel die Zeile "Heut gibt es den Stempel, keinen Stern mehr" wurde als so eindeutige Verharmlosung der Judenverfolgung dargestellt, dass ja wohl gar kein Zweifel an der Gesinnung der Band besteht. Wirklich?
"Nichts als Richter
Nichts als Henker
Keine Gnade und im Zweifel nicht für dich
HEUT GIBT ES DEN STEMPEL, KEINEN STERN MEHR
Und schon wieder lernten sie es nicht
Und sagst du mal nicht Ja und Amen
Oder schämst dich nicht für dich
Stehst du im Pranger der Gesellschaft
Und man spuckt dir ins Gesicht
Und ganz vorne stehen die Ärsche
Unterm großen Heiligenschein
Liebevoll und Solidarisch
Treten sie lustvoll in dich rein"
dadadadada... Refrain
"Die, die jagen sind die, die klagen
Die, die hassen bleiben die Prediger der Massen
Im Gleichschritt blind verdummtes Schreien
Stereotyp Kopien bis in die letzten Reihen
Und schreit dann einer Feuer frei
Wird durch geladen und geschossen
Und erst gar nicht hinterfragt
Was hat der überhaupt verbrochen
Wenn die Masse das so meint
Dann sind wir alle schnell dabei
Dann ist das Frei.Wild, und von vorne herein
Immer vogelfrei"
dadadadada... Refrain
"Hätte ich das gewusst
Hätte ich reagiert
Dass da was falsch läuft bei denen
Hätte ich sehr schnell kapiert
Wie kann man nur?
Und weshalb ist das alles passiert?
Keine Ahnung, die liefen doch so koordiniert
Dabei war es ganz anders
Die waren gerne dabei
Manche führten, manche folgten
So rief man Kriege herbei
Blindes Handeln und Verurteilen
Nichts bezweifeln, hinterfragen
Ist des Lemmings Gebot
Zusammen ab in den Tod"
Die Ungeimpften können nach einem Jahr Hetzjagd in den Medien ein Lied davon singen. "Blindes Handeln und Verurteilen. Nichts bezweifeln, hinterfragen."
Und alle Coronamaßnahmenskeptiker sind auch üble Nazis. Freilich.
Ich würde gerne wissen, was die eindeutigen Nazis dort in Dresden so toll an der Band finden. Blut und Ehre sind es jedenfalls nicht. Aber vielleicht hat sich die Band seit 2013 auch stark verändert. Mein letzter Stand war, dass die 2016 aufgehört hatten. Bei youtube wurde von denen allerdings 2021 ein neues dreistündiges Album hochgeladen. Da höre ich nun mal rein. Vielleicht träumen die mittlerweile tatsächlich davon, in Russland einzumarschieren. Das würde zumindest erklären, warum sie nicht mehr in den Medien zu finden sind. Das wäre dann nämlich wieder Regierungslinie. Im demokratischsten Deutschland, das es je gab.
Natürlich kann ich mich auch komplett irren und die Band ist Nazi durch und durch. Dafür möchte ich aber konkrete Beispiele und nicht die Hineininterpretationen der Medien. Das Naziurteil halte ich persönlich jedenfalls nicht für gerechtfertigt.
Worüber man allerdings streiten kann, ist, ob der Sänger singen kann.
Holger (Sonntag, 17 Juli 2022 19:34)
Nur 5000 Zeichen. Ich mußte kürzen. Frechheit.
Sascha (Samstag, 23 Juli 2022 11:53)
@Holger
Ja, es war auch weniger meine Absicht, die Band als eindeutige Naziband zu framen. Ich bin da zu wenig drin und habe auch nicht die Absicht es zu tun, schon rein musikalisch betrachtet. Also gebe ich nur Beobachtungen wieder, die Sache mit den Rasthöfen war da schon eindeutiger als zweideutige Texte, wenn Fans der Band mit entsprechenden Shirts rumlaufen. Passt mir nicht, gebe ich auch zu. Die Band betreffend jedoch halte ich mich wie beschrieben raus. Ich bin nicht so vermessen, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, weil wir die Debatte schon vor 20 Jahren wegen den Onkelz führten und das auch schnell versandete. Etwa weil sich das Rock Hard-Magazin nicht von ihnen distanzierte, eher das Gegenteil, weil sie überzeugt waren, dass die Band nicht rechtsextrem ist. Also: nichts genaues weiß man nicht, also kann man auch die Backen halten.