
„Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten kommen.“ -altes Sprichwort
Und irgendwann ist der Punkt erreicht, da hilft auch die bequeme Hoffnung nicht mehr. Wenn man es sich eingesteht, ist die einzig richtige Lösung die Eigeninitiative. Machen. Nicht mehr reden oder verzweifelt argumentieren. Es macht keinen Sinn mehr zu kämpfen, gegen Angst und Willkür anzugehen, wenn sie in Form von Ideologen bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Zumindest teilweise davor zu verschwinden, wenn nicht Reichtum oder eine göttliche Fügung dafür sorgen kann, auf Knopfdruck aus dem Hamsterrad auszusteigen und endlich ein unabhängiges und freies Leben zu führen. So, wie es vor dem Virus war.
Der Wunsch wurde nicht weniger, selbst nachdem man sich in den Machtzentralen immer noch die Wunden der Niederlage lecken muss. Das Thema ist nicht vom Tisch, weder die Impfpflicht noch die Reaktivierung der Maskenpflicht, welche momentan hierzulande zur Empfehlung heruntergestuft wurden. Dass einerseits die Pflichten nun dem Markt als Eigenentscheidung überlassen wurde und die andererseits nicht selten davon Gebrauch machen, deutlich gekennzeichnet, ist von dem Anteil wieder erlangter Freiheit nicht so viel zu spüren. Man geht letztlich mit einem Gefühl von Trotz einkaufen und wappnet sich im Geiste schon gegen fremde Menschen, die unimaskiert entweder böse Blicke verschicken oder in ihrem Pflichterfüllungswahn Hilfssheriff für Karl Lauterbach spielen.
Ich wollte dieses Jahr wieder zum Propheten, weil der sich einfach nicht bewegen wollte. Festgesteckt im Sumpf der German Angst. Unser Kampf der Worte hatte zwar ein wenig was gebracht, weil wir wahrscheinlich ohne diesen Widerspruch einfach so weiter verfahren wären wie bisher – mit Logik will ich gar nicht erst anfangen, weil sie in den letzten zwei Jahren massiv vernachlässigt wurde. Ein Hoffnungsschimmer leuchtete hingegen bei unseren Nachbarn auf. Kaum ein europäischer Staat hält es mit strengen Regeln ähnlich wie wir, in den Medien kommen immer noch jene zu Wort, die auch jede Gelegenheit nutzen, Fortschritte, die zur echten Normalität führen könnten, schlechtzureden.

Nun hatten wir uns vorgenommen, mal wieder hinter die deutsch-französische Grenze auszufliegen. Für uns ist das kein Ausnahmeevent, Frankreich liegt mit ca. 70 Kilometern gar nicht mal so weit von uns weg. Wir waren schon ein paar Male rübergehüpft, für einen original Flammkuchen und die französische Art der örtlichen Architekturpflege, also deren Anspruch, nicht gleich alles, was alt aussieht und viel Aufwand bei der Erhaltung bedeutet, zu planieren und gegen Beton zu ersetzen. Für mich ist Industrial-Look ein absolutes No-Go.
Unser erster gemeinsamer Ausflug nach Wissembourg (oder Weißenburg) war schon einige Jahre her. Ein guter Anlass, dem hübschen Kleinstädtchen wieder einen Besuch abzustatten und gleichzeitig zu erfahren, wie denn der französische Freedom Day wirklich aussieht. Ab und zu liest man von Erfahrungen anderer – am liebsten überzeugt man sich aber selbst davon. Ist das überall so? Sind da nicht doch Überbleibsel strenger Winterregeln aufrecht erhalten worden wie bei uns, dessen Abschwächung man einem überzeugten Extrempolitiker mühevoll oder durch juristische Finten aus der Nase ziehen muss?
In Frankreich scheint das hingegen zentralistischer organisiert, und die Kurzstatements von Usern, die meinten, Paris wäre momentan wieder maskenfrei, klingen zwar hoffnungsvoll, aber auch zu schön, um wahr zu sein. Man glaubt es erst, wenn man es selbst erlebt. Eigentlich ist es total irre, solche Worte zu wählen, aber nach zwei Jahren angezogener Fassreifen fühlt man sich irritiert, wenn die Freiheit plötzlich wieder spürbar werden würde.
Wir also ab ins Auto und losgedüst. Es herrschte eine Mischung aus Vorfreude und Skepsis vor bei uns, wohl eher erstes, als wir relativ schnell die touristischen Ecken der Südpfalz durchfuhren. Man fährt da an Gasthäusern vorbei, typisch pragmatisch direkt an den Hauptstraßen gebaut, wo sich gerne Biker und Wochenendausflügler ihren Kaffee oder ein, zwei Weinchen oder Bierchen gönnen. Solche Locations sind nicht so mein Fall, weil es bestimmt keine Ruhe verspricht, auf ausladenden Terrassen den Ausblick auf Kreisverkehre und eine von dröhnenden Sportauspuffen und Motorradknattern dominierte Tonkulisse zu ertragen. Es war trotzdem schön zu sehen, dass der Wille zu Osterausflügen vorhanden war, die Terrassen waren gut besucht, da reichte nur ein kurzer Blick hin, während man sich auf den Verkehr konzentrieren muss.
Die Grenze war nur noch wenige Kilometer entfernt. Es wurde hügeliger, einsamer. Man fährt bald nur noch Landstraßen, die sich durch die weitläufige Landschaft schlängeln, bis die letzte deutsche Ortschaft, Schweigen-Rechtenbach, fast nahtlos á la France und nach Wissembourg hinüberführt. Nach zwei Biegungen und Kreisverkehren ist man auch sehr schnell am Parkplatz im Ortskern angekommen. Wir mussten noch etwas suchen – voll ausgelastet, kein freier Platz, wir hatten nach kurzem Kreisen und Suchen noch Glück eine markierte Parkfläche in einer angrenzenden Seitenstraße zu erwischen.
Nur ein paar Schritte später befanden wir uns auch schon im Ortskern selbst, die „Rue nationale“. Ab da wurde es dann interessant. Ist die Freiheit nun wirklich da?
Nachdem wir innerhalb von Minuten die Straße durchquert hatten, vorbei an belebten Straßencafés und hübsch angelegten Grünflächen entlang des Flusskanals, wurde ersichtlich, dass die Normalität hier tatsächlich zurückgekehrt war. Keine Schilder über Abstands- und Maskenregeln. Man hielt die Ohren offen – sprach jemand deutsch? Und, wenn ja, wie verhielten die sich? In manchen Eisdielen sah ich noch welche, die ihre FFP2-Lappen auspackten, wenn sie sie betraten. Aber das waren wenige, die vielleicht noch etwas differenzierter über Aerosole in Innenräumen bescheid wussten, aber dann doch nicht den Mumm hatten, einfach mal ohne ins Innere zu treten. Französische Gäste und Angestellte schien das nicht mehr zu kümmern. Die saßen wie von Gott erschaffen da, frönten dem Laissez-faire bei einem Kaffee, wie man es von Franzosen kennt.
Zwischendrin zahlreich die Deutschen, die ein widersprüchliches Bild und dazu einen Kontrast zu den Einheimischen abgaben. Viele schienen die ungesiebte Luft zu genießen. Wanderer, Radfahrer und sonstige Ausflügler flanierten légère durch den Ort, wirkten auffällig gelöst, andere hingegen trugen ihre Filtertüten wie Handtäschchen um den Arm, allzeit griffbereit. Bei manchen hatte ich den Eindruck, sie waren noch unsicher, wie sie sich verhalten sollten und sorgten schlicht vor, im Fall der Fälle den Maulkorb anlegen zu können. Doch da war nichts – keine Schilder, keine bösen Blicke, keine Zurechtweisungen oder Hinweise im Befehlston. Es interessierte schlicht niemanden.

Nur sehr wenige hielten stur am Vermummungsritual fest. Auch in Wissembourg fährt ein Bimmelbähnchen durch die Gassen und zeigt Touristen den Stadtkern. Dort schaut man natürlich auch mal durch die Reihen in den Waggons, wenn der dich passiert. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als mein Blick durch die Reihen ging: in den ersten drei Waggons saßen alle Leute oben ohne; im letzten jedoch ein Quintett in blütenweiße FFP2-Schleier gehüllt. Abgesondert; es schien fast so, als ob man die Hinterbänkler entweder nicht in ihrem Gesundheitswahn stören oder ertragen wollte. Potenzial für dumme, übergriffige Sprüche haben solche Situationen erfahrungsgemäß schon, und dann sollte man lieber aus geheuchelter Rücksichtnahme von solchen Überzeugungstätern fern bleiben. So zumindest mein Eindruck. Die isolierte Maskengang sah auch ihren Blicken nach zu urteilen nicht so aus, als wollte sie unbedingt jemanden bei sich sitzen haben.
Da wir in Wissembourg uns nur draußen aufhielten und nicht in jede Kneipe gafften, wer denn mit Maske und wer nicht dasaß, reichten uns diese Eindrücke aber auch schon, um den Willen zur Freiheit einigermaßen zu erhaschen. Die Deutschen, die hier einkehrten, um ein schönes Wochenende zu verbringen, ließen schon gerne von den zuvor sich einkehrenden Pflichten ab, ein paar wenige jedoch nicht. Bei denen wunderte uns gar, dass die sich aus ihrer Angstisolation heraus trauten, um sich in Menschenansammlungen zu begeben. Und dann saß das Grüppchen noch zusammen und einsam im hintersten Waggon und schienen sich gegenseitig als Ansteckungsherde denn als Freunde zu betrachten.
Als zweiten Anlaufpunkt fuhren wir danach noch nach Seebach, grob zehn Kilometer südlich von Weißenburg. Auf Google erfährt man, dass das Dorf zumindest einen Blick wert sein soll, weil dort viele Fachwerkhäuschen die Straßen säumen. Natürlich kein touristischer Hotspot, aber darf man gerne mal gesehen haben, vor allem jetzt zur Tulpenzeit, die viele Anwohner zum Anlass nahmen, ihre Gärten und Grünstreifen mit ihnen zu bepflanzen und somit für Farbvielfalt im Frühling zu sorgen. Natürlich ist das nichts für Jedermann und -frau, in diesem „Kaff“ ein paar Straßen zu durchqueren und sich alte Fassaden anzuschauen – für mich jedoch schon, vor allem weil ich seit Langem mal wieder meinen Fotoapparat entstaubt hatte. Das reichte dicke für einen kurzen Spaziergang in einem Ort, in dem man sich quasi einmal um sich selbst dreht und alles besichtigt hat. Na ja, fast, man läuft bequem durch zwei, drei Straßen hindurch und landet kein Stündchen später wieder dort, wo man geparkt hat – dazwischen findet man ein paar schöne Motive von Fachwerkfassaden, gerahmt von rankendem Efeu, frisch erblühten Hecken und Tulpenbeeten.

Witziges Kuriosum am Rande: Am Straßenrand parkte ein Klein-LKW. Schaut man nur beiläufig darauf, sah es aus wie der fahrende Fischverkäufer, war aber bei zweitem Hinsehen der vierrädrige Viehfriseur. Zwei Hunde darauf – einer hält mit Zahnpastagrinsen einen Telefonhörer in der Hand, der andere fragte uns mit Muhammad Ali-Afro und auf französisch: „Wer ist der nächste?“
Zum Abschluss kehrten wir noch in das einzige Restaurant im Ort ein, das bei Google Traumwertungen erhielt. Keine Ahnung, ob das nur der Freundschaftsdienst der Nachbarschaft war oder doch von Urlaubern, die wie wir zum Essen kamen und den Duchemin heraushängen lassen wollen. Das Etablissement ist schnuckelig eingerichtet, viel neues Holz über altem Fachwerkholz und einem frisch gebeizten Uraltschränkchen in der Ecke. Die Speisekarte: nicht üppig, aber standesgemäß – Quiche, Flammkuchen, Steaks und Salate, Elsässisches. Muscheln, Schnecken. Kuchen und Eis. Sehr weltlich für die Dorfkneipe, die Bedienungen dagegen schon etwas typisch für hinter dem Berg Wohnende – ziemlich zurückhaltende, skeptisch dreinblickende Damen. Kenn ich nicht, mag ich erst mal nicht, so wirkte es zumindest dort, wo man sich gerne mal darüber lustig macht, dass es in solchen Ecken nur drei Nachnamen gibt. Stimmt übrigens nicht, weil unter anderem nicht wenige Deutsche sich hier offenkundig ein Wochenendhäuschen zugelegt hatten.
Egal. Ich mache gute Miene und bestelle Flammkuchen und einen großen, grünen Salat. Sie eine Quiche mit Lachs, auch mit Salat. Fix, zwo, drei wurde auch schon serviert, original Flammkuchen, auf den ich mich den ganzen Tag schon gefreut hatte - natürlich auf Holzbrett, wie sich das gehört. Weder der noch der Salat waren besonders stark gewürzt, aber schon von den Zutaten her geschmacksintensiv. Lediglich das Dressing roch intensiv nach frischem Knoblauch. Also ich mochte es. Kein Jahrhundertereignis, aber guter elsässischer Standard, meine Freundin schien auch zufrieden.

Satt stiegen wir wieder ins Auto und kehrten zum Sonnenuntergang nach Hause zurück. Ich fühlte mich entspannt, wieder von der Hoffnung beseelt, dass die Freiheit und das Bedürfnis nach der alten Normalität nicht erloschen war, und dass auch recht viele Deutsche trotz dieser Unsicherheit sich ebenfalls danach sehnten und auch die Möglichkeiten suchten, zum Propheten zu pilgern. Die dem Ruf und der Predigt folgten, die bei uns von den Scharfmachern und Überbringern der Willkür als unverantwortlich oder egoistisch gebrandmarkt wurden.
Wie auf´s Stichwort sehe ich zum Ausklang des Tages auf Twitter noch Fotos von jenen, denen ich folge. Frühlingsfest in Köln etwa, wo Menschenmassen dicht gedrängt, meist ohne Masken, das schöne Wetter genossen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, und mit diesen Eindrücken konnte man zumindest darauf bauen, dass dieses Jahr ein guter Frühling und Sommer werden würde, bevor dann im Herbst wieder der Teufel los sein dürfte. Genießen wir es und bleiben gleichzeitig achtsam. Der Prophet der Freiheit ruft, also gehen wir hin und leben sie derart unverblümt, dass die Angstverbreiter isoliert dastehen und vielleicht in einem halben Jahr nicht mehr anders können als von ihren finsteren Plänen abzulassen.
Die Inspiration holt man sich dann ausgerechnet im Land, das die Zeit der Aufklärung begründete – Liberté, egalité, fraternité. Ob es zur Revolution gereicht, darf angezweifelt werden, aber mit solchen Grundsätzen, die man sich nicht im Land zurückholt, wo ein historischer Schandfleck, sondern wo durch Widerspenstigkeit die Demokratie entstehen konnte. Vielleicht müssen wir zu diesen geschichtlichen Referenzen wieder zurückkehren, um sie als Mahnung und Hoffnungsträger ins moderne Bewusstsein zu rücken. Und ich freue mich schon auf den nächsten Ausflug, der bestimmt nicht lange auf sich warten lassen wird, bevor wir dort im Sommer für zweieinhalb Wochen unseren Urlaub verbringen werden und etwas Frieden finden.
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DS-pektiven (Montag, 25 April 2022 09:28)
Ich war ja im März unmittelbar nach Aufhebung der Lappenpflicht in Frankreich in Grenznähe (Bitche) drei Mal einkaufen. So konnte ich mich bei einer Lappenquote von um die 80 bis 90 Prozent an das gewöhnen, was einige Zeit später hier in Lappland folgen sollte. Vielleicht fahr ich kommende Woche mal wieder rüber, um zu schauen, wie es jetzt aussieht.
Wenn du mal wieder Richtung Wissembourg fährst, gib vorher bescheid. ;)
Sascha (Dienstag, 26 April 2022 17:04)
@DS
Mach ich. :-)