Was ein Aufregerthema so alles an die Oberfläche spülen kann – da schlackerst du mit den Ohren. Nicht nur, dass Anne Spiegels Rücktritt gleich wieder die niedersten Instinkte der Twitter-Solis weckte („Sexismus!! Sexismus!!“), nun wird auch noch jedes Stichwort in der Causa auseinandergefriemelt und beackert. Urlaub etwa, als ich mich durch die letzte Long Covid-Kolumne von Margarete Stokowski quälte.
Da beackert sie tatsächlich als Freiberuflerin ihre These, sie wolle nicht von Politikern regiert werden, die keinen Urlaub haben. Ich weiß auch nicht, ob ich von Margarete – die übrigens immer noch auf Twitter ihre anhaltende Long Covid-Phase ausbreitet – eine Meinung zu Urlaub in Krisenzeiten lesen will. Und ja, sofort konstruiert sie, als würde ihr Kopf den Fingern beim Tippen befehlen, in ihrem feministischen Aktivismus einen bei ihr typischen Querverweis: Patriarchat. Alter Männerkram von der ständigen Verfügbarkeit. Scheißt doch bitte mal auf Flutopfer, auf Tote und über Nacht mittellose Menschen, damit eine überforderte Frau die Tragik über die Nachwirkungen eines Schlaganfalls und die psychischen Probleme ihrer Kinder wegurlauben kann.
Das Dumme nur: Flutkatastrophen nehmen keine Rücksicht auf die familiären Probleme im Hause Spiegel oder irgendwelchen Nachfolger:innen. Die Auswirkungen danach nehmen ebenfalls keine Rücksicht, auch nicht auf Genderfragen und die Imagepflege einer Ministerin. Stokowski ist das alles egal, vielleicht weil sie momentan wohl zu viele Medikamente schluckt und es somit als dringender erachtet, das Patriarchat und die ständige Verfügbarkeit zu bekämpfen. Und das ist nur eine Meinung von vielen Seiten, die noch für die scheidende Ministerin in die Presche springen.
Und schon sind wir wieder im Debattenfeld der Doppelmoral angekommen – dieses Mal in Amt und (Un)Würden. Eine grüne Ministerin, die offenkundig lieber ihren Schlaganfall-geschwächten Ehemann und vier kleine Lockdownopfer daheim versauern lässt, um dann noch die Karriere als Bundesministerin mitzunehmen, so schnell ist wohl selten eine Frau die Karriereleiter hoch gefallen. Das war wohl das Modell Ursula von der Leyen im Zeitraffer. Wo war da der Ruf nach Verzicht, nach Menschlichkeit und Nachhaltigkeit bei den grünen Parteifreund(inn)en? Ihre Karriere für die eigene Relevanz zu pushen, war für die Partei natürlich okay, doch wenn sie am Arbeitsaufwand zu scheitern droht, liegt es natürlich nicht an der Leistung, sondern am System, das die Wolkenkuckucksträume zunichte macht. Vom System profitieren und es dann im Grundsatz umgestalten wollen, wenn es nicht für einen arbeitet – ja, eben. Doppelmoral.
Dabei betreiben die Grünen bzw. Woken das beste Cherrypicking seit langem, und im Moment wird sehr deutlich, wohin sie ihre Prioritäten verschieben, und seien sie noch so heuchlerisch verkündet. Man wird das Gefühl nicht los, dass ihnen jeder globale Pisserstaat wichtiger ist als die heimischen (Flut-)Opfer, ernennen die Karriere von Anne Spiegel zur obersten Doktrin, schmeißen wir also noch dazu das Geld in die Ukraine und stellen den Kampf gegen das Patriarchat mit an oberste Stelle. Am besten wäre jedoch, wir scheißen gänzlich auf das, was sie damals so vehement ablehnten – die Flächenbewaffnung amerikanischer Bürger etwa und schmeißen dagegen noch zusätzlich die Ukraine mit Waffen zu. Der Jemen-Krieg ist übrigens auch nicht so wichtig. Wir müssen Putin plattmachen, damit wir die Energiewende bekommen. Erzähl sowas mal den ausgehungerten Kindern im Jemen, die sicherlich Verständnis dafür haben, dass wir hier von Putins Gas wegkommen müssen. Ja, es klingt in der Zusammenstellung wirr, aber so stellt es sich tatsächlich dar.
Wenn das alles nicht fruchtet, setzen wir einfach Kulleraugen auf. Das wird sie überzeugen – nein, zwingen. Wir müssen die Leute dazu bewegen, dass Frau Spiegel in Urlaub fahren kann. Oder dass wir wegen Stokowskis Long Covid eine Impfpflicht durchsetzen. Dass wir für Tessa Ganserer die Selbstbestimmung vorantreiben und sie bei der Pandemiepolitik wieder verwerfen. Immer so, wie man es für die eigenen Ziele braucht. Mir geht die grüne Doppelzüngigkeit so exklusiv auf den Zeiger, weil sie in ihrem absolutistischen Duktus ständig am realen Geschehen scheitern und dann keine Einsicht zeigen (oder eben das System assimilieren wollen).
Wirkt das seltsam? Nein, es ist dieselbe Vorgehensweise wie bei der CDU oder der FDP. Ein ähnlich egomanischer Verein, nur mit anderen Agenden. Vielleicht mit den Unterschied, dass man mal in Urlaub fahren dürfen soll. Dann wären da noch Robert Habeck und Annalena Baerbock, die wenigstens handeln und verhandeln. Egal, wie man zu ihren Ansichten stehen mag, aber man muss ihnen zugute halten, dass sie nicht in Urlaub fahren, nur weil ihnen gerade nach Familie ist. Krieg ist nämlich auch so etwas, das keine Rücksicht auf Schlaganfälle und Post-Lockdown-Syndrome nimmt. Da kannst du nicht die Stop-Taste drücken und in Urlaub fahren, weil der Burnout droht.
Mein persönlich etwas verquerer Verweis auf Urlaub ist der vom T-800 alias Arnold Schwarzenegger, der völlig derangiert alles dafür getan hat, das Leben seiner Schutzbefohlenen zu retten. Als sein markanter Spruch fiel („Ich brauch mal Urlaub.“), dachte ich: „Ja, den hast du dir verdient.“ Der T-AnneS-Doppelnull-grün hingegen wäre gerade mal vom Skynet-Fließband ins Zeitreisegerät geschubst worden und hätte in der heutigen Gegenwart direkt vier Wochen Urlaub genommen, weil ihm die drohende Niederlage gegen John Connor und die Menschenarmee in der Zukunft so nahe ging.
Vielleicht bin ich voreingenommen. Ja, bin ich, aber auch aus dem Grund, weil ich die grüne Heuchelei schon 1998 – 2005 ertragen musste. Damals war noch kein Gendern im Programm, keine ausgeprägte Identitätspolitik und noch keine Wokeness, und doch sind beide Zeiträume miteinander vergleichbar. Kriegsbeteiligung, neoliberale Politik, soziale Ungerechtigkeit – es tut nichts zur Sache, ob da CDU oder Bündnis 90/Grüne draufsteht – sie alle sind von der Macht korrumpiert und machen Politik für ausgewählte Menschen und Gruppierungen. Meist hat der gemeine Bürger nichts davon, außer die Folgen zu tragen. Und wenn dann noch zuhause ´ne Flut kommt – Pech gehabt. Das macht es noch ekliger als das Geld-verprassen eines Andreas Scheuer.
Ich kann mir meine Skepsis/Abscheu gegenüber solchem Gebaren ja auch schönreden. Statt mich zum Querulanten oder Miesmacher stempeln zu lassen, kann ich meine Texte auch sehr einfach als „Konterpart in der Position eines Journalisten“ wööörden. Wissen wir ja mittlerweile auch, dass Wording nun sehr, sehr wichtig ist. Ich brauche ein paar Worte des Mitgefühls, bis morgen, 9 Uhr. Ja, auch an Ostern. Währenddessen lese ich noch den Mumpitz von Stokowski fertig, lache kräftig, bin mal zwischendrin angemessen über Andrij Melnyk empört, wünsche mir insgeheim, dass Lauterbach doch noch irgendwie und zeitnah die Anne Spiegel macht und verschwinde am Karfreitag nach Frankreich. Nicht für vier Wochen, aber wenigstens für einen halben Tag, um mir diesen Scheiß für die Zeit vom Hals zu schaffen.
Denn auch ich bin urlaubsreif. Allerdings nicht aus der Luxusblase heraus, jeden Karrieresprung mitgenommen zu haben und dann festzustellen, dass mir die Anhäufung von Positionen oder Ämtern doch zu viel geworden wäre. Ich musste ganz von unten anfangen und hatte noch dazu einen medizinischen Status inne, der Psychoterror durch andere zur Folge hatte. Wenn Anne Spiegels Kinder so schwer durch die Pandemie gekommen seien, soll sie mich und meinesgleichen mal fragen. Würde sie aber nicht tun. Wenn man schon 134 Tote und tausende Geschädigte nicht beachtet, was bin ich kleiner Hanswurst dann? Und ein Mann noch dazu. Haut ruhig noch weiter auf mich drauf, weil ich das personifizierte Patriarchat bin, weiß, männlich, hetero, ungeimpft... hab ich was vergessen? Egal. Hauptsache, ich erfülle alle Bedingungen, der Seifenaufheber der Gesellschaft zu sein. Wer da noch erwartet, dass ich mich solidarisch zeige, kann mich gerne haben – und treibt mich geradezu in den Urlaub, physisch wie psychisch. Auch wenn das CO2 kostet, oder was auch sonst gegen grüne Prinzipien verstößt. Wer Doppelmoral sät, erntet meinen Mittelfinger.
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