Schon gewusst? Ich war mal Rockstar. Oder zumindest auf dem Weg dahin gewesen. Ich machte Musik, die von den Radioheads nicht als Musik angesehen wurden. Krach. Gröhl. Kreisch. Schrammelschrammel. Ballerballer. Gut – wie so oft sollte man etwas genauer hinhören und sich damit etwas genauer beschäftigen, dann weiß man eventuell auch, dass die Mucke, die ich und meine Mitstreiter machten, durchaus anspruchsvoll war. Spielerisch ganz schön anstrengend, für jemanden, der sich das Klampfen selbst beigebracht hatte und eher am Niveau der Band mitwuchs statt sich schulmäßig am Gerät zu versuchen. Das Geld dafür hatte ich nicht, nur mal etwas auf die Seite zusammen zu stottern und mir im unteren Preissegment ein Instrument zu erwerben. Ich quälte mich und meine Tieftonaxt durch das Gefuddel, das mir vorgesetzt wurde.
Bei dem Krach bewegt man sich in der Regel in den linken, ja, sehr linken Kreisen. Punks, Metaller, Alternative. Und wir, die Grinder. In der Ecke eine sehr heterogene Gruppe, eine Subkultur unter vielen und mit vielen. Technofreaks. Althippies, Rocker. Alles unter den Label „links“. So war das vor 20, 25 Jahren noch gewesen. Darunter auch Veganer, als sie noch eine Art Splittergruppe grün-links-aktivistischer Trotzköpfe war, eine Randerscheinung, aber da schon diese nervige, belehrende und sture Attitüde an den Tag legten. Wie das nun zu „meiner“ Band zusammenpasst - dazu gleich mehr.
Wenn man abseits der Musik mal die Texte zusammenfassen will, dann bin ich selbst, nach der langen Zeit, erstaunt, wie progressiv-kritisch das teilweise war. Grob umrissen war unser... Sänger... sorry... Kreischer oft darum bemüht, Attitüden und Schubladendenken etwas aufzuweichen. Dann wieder politisch, gesellschaftskritisch, teilweise Nonsenstexte, da habe ich etwa (k)einen Text geschrieben. „Schreib doch deinen Text selbst, Mensch! Hab gerade keine Lust.“, textete ich da sinngemäß. Ich fand´s witzig.
Folgend zwei Songs, eingedeutscht via Google:
„Die meist diskutierte moralische Frage könnte lauten: Dürfen wir mit den Genen der Menschheit spielen, um die perfekte Zivilisation hervorzubringen?
Die Fähigkeit, genetische Informationen zu manipulieren, kann die Individualität der Menschheit kosten, wenn die perfekte Welt in einem Labor hergestellt werden soll.“
Uiuiuiui! Lilo, Tiffy, Herr von Bödefeld!!
Oder (hier musste ich nachhelfen, weil sogar für die Datenbank falsch abgetippt):
„Gefärbte Haare, zerrissene Kleidung
Piercings im Gesicht und Tattoo am Arm
Ein neuer Modetrend ist geboren
Hör auf zu denken, schau einfach extrem aus
Faked Tattoos und Piercings
Hilft dir deinen Traum zu verwirklichen
Meinungen und Werte sind egal
Das Einzige, woran sie interessiert sind, in eine bestimmte Gruppe zu passen.
Sei du selbst, geh deinen Weg
Weil du den richtigen Weg in deinem Kopf hast“
Ja. Verdammt erstaunlich. Uiuiui. Ich erkenne das Heute in solchen Textzeilen wieder. Beobachtungen, Andeutungen, die heute überall zu sehen sind. Gentechnik und technokratische Grundsätze. Modepunks. Ein lyrisches Manifest, das Wirklichkeit wurde, trotz Kontextunterschieden. Chapeau.
Und noch einer. Nennt sich „Kühle frische Milch“. Der Song wurde gerade wegen des Titels zum Kult, klingt banal wie harmlos-witzig. Ist jedoch kein Nonsens-Text, sondern ein Aufruf zur Toleranz. Wo wir wieder bei den Veganern wären. Klingelt´s schon? Ja, einer dieser Leute mochte unsere Musik, hatte aber ein furchtbares Problem mit dem Titel. Zu unvegan. Milch. Kuhprodukt. Geht gar nicht. Als wir spaßeshalber ein paar T-Shirts drucken ließen und einen von diesen Agrar-Werbeaufklebern als Motiv verwendeten, brachte das den Pflanzenfan voll auf die Palme. Also stand er vor einem Dilemma – Shirt kaufen oder aus Überzeugung boykottieren? Seine Lösung war dann einen Lacher wert – er zog es an, pinselte sich aber mit Edding „Soja-“ quer über das böse Wort. Die Ironie ging voll auf.
Wir lachten zwar über ihn, aber wir respektierten ihn. Ich glaube, das macht einen heiden Unterschied aus zwischen uns, die wirklich jeden abwegigen Clubgänger, Bombenlegerfrisierten oder verstrahlt aussehenden Aus-der-Mitte-der-Gesellschaft-Gefallenen bei sich willkommen hießen, und jenen, die sich heute als „links“ betrachten. Heute sind eben jene Veganer am Ruder, also nicht nur so halb, haben nicht nur die Szene gekapert, nicht nur den Stadthalter ins Exil gejagt. Nein, sie sind jetzt voll drin im Geschäft – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Sind der oberste (Pflanzen)Käse. Spielen die oberste Geige. Eigene Produktreihe beim Discounter. Freies Cannabis. Neues Verkehrskonzept. Diversitätsregeln.
Plötzlich waren sie da. Vorher weit weg aus meinem Kenntnisraum, quasi aus meiner Welt verschwunden. Doch jetzt sind sie voll drin. Türmen sich auf wie Zombies, wenn sie eine Mauer stürmen und diese dadurch (Geduld! Geduld!) erfolgreich überwinden. Auf den Kadavern, vom Menschenfutter zerlöchert, ihr Ziel erreichen und ihnen jetzt die Zähne in die Schultern versenken. Infiziert, tot, untot, einer von ihnen. Ihr Verhalten immer noch ähnlich gnadenlos, übergriffig, moralisch aufgeladen. Volle Batterie – hält länger und länger und länger. Und sie sind gleichzeitig eben jene „Fake“-Linke, die Wagenknecht teils als „Lifestyle“-Linke betitelte, wobei das optisch gar nicht mehr so wirklich einzuordnen ist. Das ist der große Mob urbaner Hipster, aber auch die Antifas, die sich scheinbar kaum miteinander sehen lassen würden, aber nun eine ähnliche Doktrin vertreten. All das ging mir völlig am Allerwertesten vorbei, aus meinem Wahrnehmungsuniversum. Und jetzt hält man ihnen, gerne beim ZDF, ein Mikro vor die Nase, als „Experten“, Faktenfinder. Ach herrje, da hätte ich auch gleich Mao Tse Tung fragen können.
Bei solchen Höhenflügen, von den Kumpels in den Medienhäusern in jeden Haushalt projiziert zu werden, haben sie auch keinen Bedarf mehr an der Basis. Sie heben gerade genauso ab wie jeder liberale Jungunternehmer, von Beruf Nachwuchs, gefüttert mit Dollarmilch aus Mamas Brust(geldbeutel) und von Papa in seiner Geldgier kaum wahrgenommen. Jetzt sind sie viele. Und in Zeiten des Internets auch mit Hashtag. Vernetzung online, die schnell Wellen schlägt. Und sie kommen aus ähnlichen Verhältnissen, jedenfalls nicht aus den Altmilieus der Anarcho-WGs und Co. Es sind die Sprösslinge aus dem Hause von und zu. Auch solche habe ich kennenlernen dürfen. Die Kinder des Buchladenmoguls in unserer Stadt zum Beispiel. Nette Leuts. Aber auch nicht wirklich Punk, zu viel Unternehmermief, die sind nie in zerrissenen Hosen herumgelaufen. Immer adrett, ein bisschen Nirvana, Soundgarden, Markenklamotten, die nicht ins Spießertum passten – nur den Dreck, den fraßen sie nicht. Proletentum, unser Gesaufe, Gegröhle, der Pogo-Mob beim Konzert, da waren sie raus. Ihre Welt war eher „Rock im/am/um Beton-/Asphalt-Feld“, die MTV-Kids unter den Pseudo-Systemfeinden. Sie waren (und sind) das System.
Zu der Zeit waren sie noch „Grunge“. Passend die Übersetzung dazu: „absichtlich schmuddelig-lässig“. Aber ohne Ziel, ohne echte Ideologie, und das passt wohl wie die Faust auf´s Auge in „Smells like teen spirit“. Scheinbar keine Gesellschaftskritik, kein Song gegen das System, vielleicht auch deswegen eine Projektion der Wohlstandsverwahrlosung, das Ausbüchsen nach Banalistan, wo man sich nur gegen Papa Buchhändler auflehnt. Was keine exklusive „Anti“-Attitüde bedeutet, sondern schlicht Pubertät. Wo die Party keine Provokation mehr ist, sondern „here we are now, entertain us“. Ohne Ironie, ohne kritischen Unterton, nur das Partyvolk, Saufen um des Allkoholpegels willen, mit Kotzeimer als Partygag und zur Schonung des teuren Ledersofas sowie des „Schöner Wohnen“-Polarweiß an den Wänden.
Und wir? Wir probten abseits, auf einem alten Bahngelände. Altes Hallengerippe mit quietschendem Rolltor, das in eine große, ehemalige Garage oder Werkstatt führte. Innen absolute Blankheit, kalter Boden und plan asphaltierte Schienen mittendrin, kein Strom darin, den wir uns von weiter her aus einem Sicherungskasten abgriffen. Man wollte ja auch lärmen, dazu braucht es Saft. Bauten eine Bühne, aus alten Paletten, Spanplatten drauf und Schrauben rein. Eine Theke dito, überdeckt mit Alublechen. Verranzte Sofas vis-á-vis, alle aus Garagen und Dachbodenbestand, wo sie wegen abgeschrubbtem Überzug oder kleinen Rissen vor sich hin rotteten. Karrten uns Graffiti-Cracks heran, die uns die Wände verschönerten. Lackfarbe auf purem Waschbeton. Mit Meeresschildkröten, Gesichtern, Strukturen und Formen, und mit unserem Namen für die Location: „Osaka Inn“. Die ultimative Parodie auf den urbanen Lounge-Lifestyle, asiatischer Großstadtmuff, bei uns aber in den schmutzigen Version, unterhalb der schillernden Fassade von Glasbaukästen und Neonröhrenglitzer, in den Gassen, wo Müllkippen, Nutten und Gangsterbosse regierten. Wir hatten zwei strombetriebene Radiatoren, die im Winter mehr schlecht als recht die 100 Quadratmeter aufheizten, draußen die obligatorische Brooklyn-Tonne für diejenigen, die ohne Direktbeschallung reden und abhängen wollten. Kein WC, kein Bad, nur ein Gestell mit Klobrille für die Damen und die, die ihre Wurst nicht im Magen behalten konnten. Wir waren „sub“. Subkultur, subversiv, suboptimal – einfach subber!
Das war unsere Welt. Unser Links. Manchmal, wenn wir irgendwo auftraten und in ähnliche Gefilde gerieten, fand ich es ebenso widerlich, bei so manch vollgegöbelter Kloschüssel, aber das war eher die Ausnahme gewesen. Egal – mal so, mal so. Voll okay. Eben ohne weiße Ledersofas, Polarweiß und Häuserflügel, eher Lagerhallencharme und selbst kreierte Konzertpostertapeten auf blankem Beton. Oder andere, besondere Locations: ein altes Militärschiff, Open Air mit Riesenzelt im Zirkusformat (was wir scherzhaft Open-„Air-drin-wie-draußen“-Festival nannten), Open Air mit Bühne auf einem LKW-Anhänger. Das war Punk. Das war Grind. Echtes Links.
Und was sehe ich heute? Keine Systemkritik mehr. Heute sind sie voll im Gesellschaftssaft, Prenzlauer Berg und Jungbusch, Altbauwohnung und Bioladen, Start-Uppers und New Economy, ideologisch flankiert von Antifas mit ihren völlig irrationalen Schriftzug-Shirts: „Pandemie und trotzdem da – durchgeimpfte Antifa“. Mein Kinnladen-Moment. Äh... Moment... was??? Ein „Well done, Merkel, Spahn, Söder“ – kann ich gar nicht glauben sowas. Fassungslos. Völlig von der Rolle. Und ihr völlig maßloses Feindbild von „rechts“ obendrauf. Nur noch irre. Ist das jetzt „mein“ Links geworden?? Smells like „Brainwash method“. Ich fall´ vom Glauben ab.
Und je mehr ich unsere Texte noch mal durchlese, um so konkreter wird das Bild. Was wir damals schrieben und meinten, und was man heute darin wiedererkennt. Das klingt vielleicht anmaßend, aber wir erkannten wohl die Zeichen der Zeit. Auch deswegen, weil es schon um uns herum geschah. Wir hießen jeden willkommen, und im Grunde kam auch jeder. Die Partyschmarotzer („Only for yourself“). Die Langweiler („No reason, no fun“). Die Heuchler („Happy face display“). Ja, auch die nervigen ließen wir gewähren. Und irgendwann klopften die Goa-Freaks an. Ihnen wurde unser Party-/Konzi-/Probiraum für eine Party überlassen. Sie dekorierten um – grellste Neonröhren, UV-Licht, Pilz- und Riesenpflanzendekor, da hätte selbst „Avatar“ blass ausgesehen, und dazu deren chillige Mucke, die man am besten in entsprechender Verstrahltheit konsumiert. Goa, ey!
Nun, danach war es vorbei mit „sub“. Der Veranstalter trat von einem Fettnäpfchen ins nächste, weil es – wider Erwarten – bei der Party stressig wurde. Nichts war mit Chillen, sich in die Hemisphäre vollpilzen und esoterischem Tanzmumpitz, weil sich ein paar Gestresste mit dem Veranstalter die Köpfe einschlugen. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie das vonstatten ging, jedenfalls meldete der Vollpfosten eine offizielle Beschwerde an unseren Vermieter – die Bahn. Da wir sowieso ein bisschen unter Beobachtung der Bullen gestanden hatten und leicht in Ungnade gefallen waren, war dies letztlich der Todesstoß für das „Osaka Inn“. Vertrag gekündigt – tschüss. Raus hier.
Leider ließ sich danach nichts Vergleichbares mehr finden. Wir kamen mehr schlecht als recht in einer Schule im Keller unter, um weiter herumzukrachen, und dann war ich irgendwann raus. Ging selber, wegen kreativer Differenzen und auch, weil die Band danach auch nicht mehr wirklich auf die Beine fand, wie ich fand. Ich hätte gerne weitergemacht, aber zu der Zeit holte uns gleichzeitig der harte Alltag ein. Das hatte viele Gründe. Kinder und Schnapsmuttis etwa. Als erste Hand vom Boss den Laden am Laufen halten etwa. Bei mir der soziale Abstieg und irgendwann der Umzug, weg aus der Jobwüste ins Dreieck, wo man noch unterkommt, um die Fixkosten bezahlen zu können. Hartz IV hatte mich böse bei den Eiern. Da noch sorglos zu krachifizieren war nicht mehr drin. Mein geheimer Wunsch, doch noch in der Kunst Fuß zu fassen und es irgendwann zum Hauptmittelpunkt meines Lebens zu machen, war dahin. Der Druck von draußen nagte zu sehr an mir, und ohne Job wurde es immer schlimmer, den Staat am langen Arm verhungern zu lassen – er fing an, mir den einfach wegzufressen. Nichts war mehr mit freier Entfaltung, nur noch „friss oder stirb“. Danke, Gerhard.
5, 6, 7, 8 – Bullenstaat. Die Ärzte. Auch nicht wirklich „sub“, mit Farin Fönfrisur und Bela Behäbig, aber wenigstens (selbst)ironisch und gar auf dem Index wegen Claudias Faible für Hunde. Da war der Staat noch selbsterhaltend politisch korrekt und wir deren Nemesis. Das reichte von Westerland bis Schrammel-Punk. Heute machen sie in 2G und Impfwerber. Kinnlade. Durchgeimpfte Antifa. Alter, was ist hier los? Impfen ist Liebe?? Sanella ist auch Liebe. Völliger Mumpitz, solche Werbesprüche, also erspart sie mir bitte. Ich brauche eure „Chosen unity“ nicht. Hat mich jemand mit Pilzen vollgepumpt, und ich finde mich jetzt im schlimmsten aller Albträume wieder? Nein, nur ein bisschen „Nevermind“, Selbstzweck und Desillusionierung, die Kurt Cobain vielleicht gar nicht so gemeint hatte, aber den Nerv einer ganzen Generation traf. Vielleicht deswegen auch das Missverständnis vom Banalen, Zweideutigen, wo die Grenzen vom Rebellismus ins Affirmative, Sich-ergebende verschwammen. Von „Fuck the system“ zu „Govern me harder“.
Grunge ist mir mittlerweile zu cringe. Die Ärzte machen jetzt in Weltärzte. Während wir noch echte Rechte bekämpften, holzköpfige Glatzköpfe, Bomberjackenspacken, haben heutige Linke sich und teils auch Leute aus meinem einstigen Dunstkreis nun auf jeden eingeschossen, der nicht auf deren Linie ist. Und vergessen dabei, dass sie mehr auf Normalos einkloppen, statt sich mal um die richtigen Nazis zu kümmern. Heute ist nicht mehr der Iro Ausdruck, nicht die zerfledderte Militaryhose, keine Ketten und Sicherheitsnadeln im Ohr, heute sind sie geimpft, Regenbogen und einschlägige Facebook-Profilrahmen, rotgepunktet auf Twitter. Protest bequem. Sie schauen Tagesschau und Tatort. Posten Pflasterpics. Also Schublade noch und nöcher. Zu den Spießern geworden, die sie einst verabscheuten. Keine Randerscheinung mehr, sondern am langen Hebel. Wir hatten es geahnt, als wir unsere lyrischen Ergüsse zu Papier brachten und als Gekreische, Gegröhle und Gegrunze in Lieder bastelten. Hatte wohl niemand verstanden. Hätten sie unsere Texte gelesen, wären sie gewarnt gewesen, behaupte ich jetzt einfach mal.
Wir waren/sind links, und wir wollten keine Schubladen. Wir wollten Eigenverantwortung und keine Bedienten, die sich unseren Einsatz für die Szene zunutze machten, wir wollten Korruption und Lobbyismus nicht mehr sehen, und wir wollten nicht von denen manipuliert werden. Wir wollten nur Spaß und gleichzeitig Vernunft, ohne die moralische Überheblichkeit und Ernsthaftigkeit, die man heute überall vorfindet. Ich kann mir echt nicht vorstellen, dass nun alle, mit denen ich damals zu tun hatte, plötzlich diesen Klick-Moment gehabt hätten. Dass das, wofür wir damals standen, völlig falsch gewesen wäre. Dass wir mehr auf den „Sojamilch“-Veganer hätten hören sollen. Wir waren, trotz unserer Systemkritik, auch Teil davon, aber wir waren auch nicht so verbohrt darauf, allen unsere Ideologie unterzujubeln. Ich glaube, wir fühlten uns in unserer Ecke sehr wohl, ohne uns allzu angreifbar zu machen. Wir lebten mit dem System, auch wenn wir es in Zügen blöd fanden. Leider war ich lange kein Profiteur davon, vielleicht ist deswegen bei mir diese Abneigung immer noch hängen geblieben, während andere darin völlig aufgingen. Karriere machten, Wohlstand anhäuften und es dem System dankten. Und heute, ihre Herzensthemen von der Politik angegangen zu wissen. Flüchtlinge, Minderheiten, Veganismus, Sexismus, younameit.
All das ist aus den Rändern zur Mitte geschwappt, ins Spektrum des breiten Konsens. Gleichzeitig viel zu viel wurde von der Mitte ins Extremistische geschoben. Und das von mir unbemerkt, als ich, vergleichbar mit dem hirnfreien Film, nach einem sozialen Filmriss an der Straße stand und mich aufgelöst fragte:
„Ey, Mann, wo ist mein Links?“
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epikur (Mittwoch, 29 Dezember 2021 17:27)
Gestern. Berlin. Steglitz. Vor dem Rathaus versammelten sich ein paar Dutzend Menschen und hielten Schilder und Plakate hoch. Darauf stand: "Impfpflicht ist verfassungswidrig" und "Mein Körper gehört mir!". Gegenüber waren 10-20 junge Leute. Antifa. Sie brüllten was von "Nazis raus", "Fuck AfD" usw. Ich sprach mit beiden Gruppen.
Die Maßnahmen-Kritiker waren völlig normale Leute aus der Mitte der Gesellschaft. Wohl eher links-grün verortet, wenn ich schätzen müsste. Einer meinte, dass die Antifa wohl keine Bildung genossen hätte. Als ich die Antifa-Jugendlichen fragte, wo sie hier Nazis sehen würden, schrie mich einer an "Abstand!" "Maske!"
Als ich jung war, war ich mal bei der linksjugend solid aktiv. Der Jugendorgansation der Linkspartei. Da bedeutete Antifa noch, gegen echte Nazis vorzugehen. Das gestern war nur noch peinlich. Hätten wir damals gewusst, dass Antifa irgendwann heißen würde, Big Pharma und Regierung zu verteidigen, wir hätten denjenigen schallend ausgelacht.
Sascha (Donnerstag, 30 Dezember 2021 05:54)
@epikur
Unfassbar. Ich hatte letztes Jahr bzgl. der Augustdemos (auch Berlin) ein Video gesehen, da erschien mir das ähnlich. Ein aufgeheizter Gegen-Mob, der den Videoersteller bepöbelte und ständig "Zieh die Maske an!" brüllte. Scheint schon fast eine Art religiöser Eifer zu sein - und die sollen sich nur einmal über Hijab oder Burka mokieren, was sie als Diskriminierung verurteilen.
Ratze (Freitag, 31 Dezember 2021 14:47)
ALTER. SCHWEDE. Muss erst mal die Kinnlade wieder hochklappen
Das, was du zu den Herren Doktoren schreibst, zu den Figuren, die sich heute in der ach so rebellischen Metalszene tummeln - ich kann das voll unterschreiben.
Das sind die Typen, die mir damals wegen meinem Sodom - Shirt die Polente auf den Hals gehetzt haben, ich hätte einen Amoklauf geplant.
Und die haben jetzt das Kommando.
"Wo ist mein Links?" Ja, die Frage stell ich mir auch schon länger. Langsam bekomme ich Lust, meinen Viersaiter wieder aus der Ecke zu holen, in der er seit Jahren rumsteht, mir ein paar ähnliche Nichtskönner zu suchen und den Spießern mal wieder mit ordentlicher Lautstärke ein herzliches "Fuck the system" vor die Füße zu rotzen...
Cetzer (Freitag, 31 Dezember 2021 17:13)
"Sojamilch"
Nur echt aus brasilianischem Soja mit Waldbrand-Garantie. Ich hingegen gehöre zu den Guten und trinke ausschließlich Hafermilch, damit es im Ponyhof kein Hungertuch statt Zaumzeug geben muss.
"und es dem System dankten"
All der Dank kommt in den großen Gärkessel und wird von liebevoll genmanipulierten Hefezellen in Plastik-Sprengstoff umgewandelt.
We were just another youth rebellion...
Sascha (Mittwoch, 05 Januar 2022 12:00)
@alle
Vielen Dank für eure Kommentare! Das Thema betreffend sitzen viele in einem Boot, und gerade wir sonstigen Systemkritiker haben schlicht das Päckchen zu tragen, dass diese völlig unerklärliche Methamorphose stattgefunden hat. Leider denke ich, dass Links auch hier dem Untergang geweiht ist und das vom Neoliberalismus aufgefressen und zerstreut wird. Vielleicht so beabsichtigt, klappt ja auch in den USA oder Frankreich. Nun wird rechts immer relevanter werden, als Gegenentwurf. Was wir davon haben? Nur noch mehr Scherereien.
Juri Nello (Mittwoch, 05 Januar 2022 14:57)
Ich finde das nicht sonderlich unerklärlich. Habe mich schon Mitte der 80er gewundert, warum sich da viele als links begreifen, obwohl dafür nur ein Standpunkt zutraf. In einem strukturkonservativen Land, mit mehr Nachfahren aus faschistischen Familien, die ein Francoregime nicht mal während der ganzen Wirkzeit erzeugen konnte. Leute, die erst die Internationale tröteten und anschließend fröhlich Minderheiten malträtierten. War klar, dass eine Krisensituation den eigentlichen Charakter herausstellen würde.