Ich denke, es ist so weit. Bei all dieser Toleranzexpansion ist nun der Punkt erreicht, an dem ich nichts mehr expandieren kann. Wie eines dieser Trainingsgeräte, das irgendwann nicht mehr weiter ausdehnbar ist – materialbedingt, fehlender Willen oder Fähigkeit, die Muskeln noch mehr zu beanspruchen. Es brennt in den Fasern, Zittern setzt ein.
Das Maß ist voll, das Fass läuft über. Es ist Tuck. Schluss. Aus. Bis hier hin und nicht weiter. Es sind nun alle Dämme gebrochen, und die autoritäre Ich-weiß-was-für-dich-gut-ist-Doktrin hat nun auch bei mir die dicke, rote, absolute Trennlinie überschritten. 2G und Kinderdrangsalierung sei Dank.
Und dabei dachte ich noch – immer und immer wieder -, dem müsste man doch mal Grenzen setzen können. Argumentieren können, logische Bedenken anmelden und Erkenntnisse veröffentlichen und schließlich die Leute zum Nachdenken bewegen. Oder wenigstens meinen kleinen Teil dazu beitragen. Nein, nichts geht mehr. Meine sonst auf Hoffnung ausgeprägte Persönlichkeitsstruktur lässt sich so nicht mehr aufrecht erhalten. Das Abwägen, Pro und Kontra durchdenken und diese Erkenntnisse gewinnbringend in die Öffentlichkeit zu tragen – all das knallt nur noch gegen Wände. Und wer mit dem Kopf durch die Wand will, erleidet nur Kopfschmerzen.
Wahrscheinlich haben diejenigen recht, denen das alles egal ist. Die sich abkapseln aus der Streitspirale, die sich ihre Kräfte für das Heute, Hier und Jetzt aufsparen, nicht das Gestern oder Morgen und schon gar nicht die Belange anderer überhaupt noch zu beachten. Viel zu viele wollen es besser wissen, 80 Millionen Virologen oder Gesellschaftsexperten mit kruden, subjektiven Meinungen. Und meine Version, die sie als heuchlerisch, inkonsequent, wankelmütig erkannt haben wollen, wird schon gar nicht gehört. Sie denunzieren es, sie ignorieren es, sie nehmen es nicht ernst. So wie es vielen ergeht, auch denen, die vernünftig sind. Vernunft ist out.
Die Anlässe und Gründe sind nun auch mannigfaltig. Es fällt immer leichter, sich für die pauschale Abwendung zu entscheiden, sie alle gehen und stehen zu lassen. Gegen sie zu sein, wie sie dich immer weiter treiben, in den Lagerkonsens, der nur ihnen wichtig erscheint. Und es geht manchmal nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Methode. Nein, sie argumentieren nicht – sie sagen nur, dass es besser ist, weil sie es besser finden. Als wäre ihnen Gott begegnet, der es ihnen ins Ohr geflüstert hätte. Doch da ist kein Gott für sie. Sie haben Gott sterben lassen, sie haben die Kirche zerfetzt, sie haben all die Widersprüche und die Doppelmoral offengelegt und auf ihr herumgeklopft wie auf einer dicken Schnitzelscheibe, bis nur noch Fetzen aus Fleisch übrig blieben. Und gleichzeitig haben sie eine neue Religion, einen Kult, kreiert. Den „der“ Wissenschaft. Der Technik. Und gleichzeitig verachten sie alles, was in dieser Wissenschaft Widerspruch bedeutet. Klima. Corona. Gesellschaft. Für sie gibt es nur einen Weg, und das ist ihrer. Und verachten dabei das Prinzip von These, Antithese, Synthese.
Aber auch die anderen sollte man mit Vorsicht genießen. Die wahren Schwurbler, oder die Frustrierten, die ihr Maß verloren haben. Auch sie haben einen Hang zur Übertreibung und sind süchtig nach Missionierung. Sie zeichnen die Welt schlimmer, als man sie draußen tatsächlich wahrnimmt. Die die Spannung, die in der Luft liegt, einfangen und sie in einen dicken Brocken verwandeln. Ein Brocken, der schwer lastet, der ihnen die Legitimation gibt, ihre selbst kreierte Last als Opferargument in die Wagschale zu legen. Doch ist dieser Brocken wenig, Schall und Rauch und wenn bedenklich, ein schleichender Prozess. Kein Gewicht oder realer Berg, der einem plötzlich im Weg stünde und den man nicht besteigen will. Auch hier sehe ich einen Hang zur Esoterik, zum Religiös-Wahnhaften. Sie sind nicht besser als die, die dir eine Impfung in den Arm drücken oder dir jetzt Quoten an Minderheiten einimpfen wollen.
Ich bin irgendwo dazwischen geraten, ein Heimatloser geworden, und das nicht nur aus politischer Sicht. Mein Abwägen, Dinge einfach nicht kommentieren zu wollen (weil es oft ein Sturm im Wasserglas ist) und mein eigenes Meinungsspektrum, das alles wird zerrieben in den Mühlen, die die Meinungsextremisten antreiben. Die eine Seite dreht nach links, die Gegenseite nach rechts, das Ergebnis ist dasselbe – das Korn wird zu Mehl. So auch die Fakten, oder das, was zum Fakt taugt. Und in diesem Krieg beansprucht der die Lorbeeren für sich, der die Macht hat. Doch ist Macht nicht gleich Wahrheit, Macht ist nur der Platz an der Sonne, das Handtuch auf der Strandliege, und wer den behalten will, muss die Wahrheit – egal wo hin gerichtet – oft verbiegen, wenn nicht gar verleugnen. Und so verhält es sich mit Impfern und deren Gegnern, mit alten weißen Männern wie den Regenbogenmenschen. Sie alle zerren nur an dir, wenn du dich nicht eindeutig zu ihnen bekennst. Ihnen nicht radikal genug bist.
Es ist, als ob du für Frieden wirbst und dich darüber unterhälst, ob nun die Machete oder das Maschinengewehr das beste Mittel dafür wäre. Keine Waffen – wäre das nicht die ultimative Lösung? Twitterblasen zerschlagen und verbal abrüsten? Nein, das ist nicht ihre Lösung. Die rhetorische und physische Gewaltspirale dreht sich schon, und daraus entkommt kaum noch jemand. Wir reden – wenn wir reden – nicht mehr darüber, was ist. Wir reden darüber, was sein könnte. Was wir wollen, was wir befürchten. Wir reden nur noch im Konjunktiv, und das getarnt in einer Scheinwahrheit. Wir machen aus dem „wäre“ und „könnte“ ein „ist“.
Wir leben auf dem Konstrukt aus Lügen, das wir uns selbst geschaffen haben. Wir leben nicht mit, sondern gegen alles, was unvermeidbar ist. Dass die Natur der wahre Herrscher ist, dass das sogenannte „Karma“, die sich selbst einstellende Entwicklung, der niemand entkommen kann, einfach das tut, was es will. Und dass wir es nicht kontrollieren geschweige denn akzeptieren können. Wir denken, wir könnten mit Bildung und der Brechstange diese Kräfte bändigen. Und darauf geben wir uns einen Stempel, eine Garantie. Versprechungen, die man unter Garantie nicht einhalten kann. Geschichte wiederholt sich, selbst wenn wir sie schmerzhaft durchgemacht haben und uns geschworen haben, es nie wieder so weit kommen zu lassen.
Und deswegen stelle ich die Systemfrage. Nicht die Frage zu politischen Systemen. Die haben wir eigentlich schon alle durch. Sie alle sind gescheitert, irgendwann, irgendwie. Wir sollten uns selbst, als Spezies, einer Systemfrage unterziehen. Ob wir Menschen zum politischen Denken taugen. Vielleicht sind wir zu dumm für Systeme. Wir unterwerfen uns ihnen, weil wir einen Eigennutz darin sehen, vergessen dabei die wahren Mächte oder versuchen uns in Kontrolle, da sie uns für das Erreichen unserer ideologischen Ziele zuwider sind. Wir sind der geborene Widerspruch, wir sind alle Heuchler. Wir reden vom Guten und tun – freiwillig, fahrlässig oder unwissentlich – das Schlechte. Vielleicht sind wir zu limitiert in der Fähigkeit, zwei Dinge auf einmal oder zumindest im Einklang miteinander zu tun oder zu berücksichtigen. Yin und Yang zusammen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Dabei übersehen wir, dass wir alle, in einen Topf geworfen, Yin und Yang sind.
Trotzdem gibt es sie, diese Gleichmacherfantasien, das Gute, eine selbstsüchtige Ideologie, als die herrschende zu etablieren und das andere vollständig zu tilgen. Das galt für die Nazis wie es heute für die Woken gilt. Sie haben mittlerweile eine neue, totalitäre Bewegung in Gang gesetzt, die mit menschelnder Moral punkten mag, aber ebenfalls in sich widersprüchlich ist. Sie wollen das Klima retten, verzichten aber nicht genug oder halten am System fest. Dies und das ist dann doch wieder ganz gut für Konsum, Spaß und Reichweite. Sie setzen die Minderheiten auf den Thron und machen Normale zu Sklaven. Sie mögen zwar nicht zu Peitsche und Henkersaxt greifen, aber sie gehen nicht zimperlich mit ihren Gegnern um. Ihre Waffen sind die sozialen Medien, und ob sie sich nun bei Facebook oder Telegram vernetzen, macht im Prinzip keinen Unterschied. Sie sind die Neolobbyisten des 21. Jahrhunderts.
Auf der anderen Seite: die Rückwärtsgewandten, die ideologischen Traditionalisten, die sich aufgrund der woken Invasion aus Prinzip dagegen aufstellen. Auch hier wird nicht nachgedacht – was könnte denn dran sein an deren Bemühungen, unsere Lebensbedingungen zu verbessern? In der Programmatik scheint es dann doch tatsächlich Schnittmengen zu geben. Und so tönt es durch die Social Media-Gazetten: „Natürlich müssen wir Nazis bekämpfen.“. „Natürlich ist Gleichberechtigung wichtig.“ Was aber folgt, ist der Angriff, der im Nebensatz ein Widerspruch zum Hauptanliegen darstellt. „Ich bin ja kein Nazi, aber...“. Das gilt für die weniger anstößigen Aussagen ebenso. Der Rechtfertigungsdruck, sich von den finsteren Zeiten zu distanzieren, ist so weit gediehen, dass er sie wieder aufleben lässt. Was davon übrig ist: die Henne-Ei-Frage. Wer ist nun schuld?
Beide.
Linke, weil sie die Debatte wie Ruinen aus dem Boden gehoben haben, und Rechte, weil sie bei dem Thema und der Schärfe der Angriffe auch noch über jedes Stöckchen springen. Statt einfach mal mit den Schultern zu zucken. Ein belustigtes Schnauben von sich zu geben. Standhaft zu bleiben. Gar keine großen Worte zu verlieren, weil jede Reaktion als Indiz gedeutet wird, da müsse man als selbst erkorene Nazijäger nun weitergraben. Lunte gerochen, mit Schnupfen, egal, es stinkt.
Und so ist es gekommen, wie es kommen musste. Die Linken sind in eine Rechts-Paranoia geraten, ausgerechnet flankiert von einer großen Koalition, die sich in ihrer Gruppenloyalität gemeinsam von rechts distanzieren will. Das war offenkundig Merkels Konsens an die SPD – statt die harten Themen zu übergeben, hat sie Rot ein bisschen ideologischen Freiraum spendiert. Was bleibt, ist eine rechtskonservative Wüste, in der keine politische Oase mehr gedeihen kann. Die findet man nur noch dort, wo auch die wahren Rechtsradikalen ihre Nester aufgeschlagen haben. Man wurde getrieben, und man hat sich dort gar Asyl erfragt. Aber auch - und das ist tragisch wie gefährlich -, weil man es hat mit sich machen lassen.
Ich hatte das in meiner jugendlichen Unwissenheit auch schon praktiziert. Früher waren Glatzen noch keine Modefrisur, New Balance-Schuhe noch nicht an Füßen von Hipstern und Bomberjacken oder Militaria keine unbedenklichen Accessoires. Ein guter Freund wollte mir in der Zeit ein paar CD-Anspieltipps geben, gleichzeitig lernte ich, dass Leute mit Glatzen und „Renee“-Frisur fast ausschließlich der damaligen Skinhead-Szene zuzuordnen waren. Die Anspieltipps waren Badesalz und Mundstuhl. Auf den Covern waren Glatzen zu sehen. Meine spontane Frage dazu: „Sind das Nazis?“ Gott, wenn ich heute daran denke, ist es unfassbar peinlich, aber es gereicht auch als Vergleich, warum die heutigen Linken ein ähnliches Problem haben. Sie sehen allerdings heute keine Glatzen, Bomberjacken und entsprechende Schuhe, sondern alles abseits ihrer ideologischen Position als jene Glatzennazis.
Ich hatte durch meine Erfahrung wenigstens wieder zurückgerudert, meine Schlüsse gezogen, erst mal darüber nachzudenken und nicht gleich alles, was Glatze trug, in die rechte Ecke zu stellen. Heute sind all diese Erkennungszeichnen sowieso von der Mode- und Stylebranche in den Mainstream übernommen worden. Überträgt man meine Erfahrung nun auf die heutige Linke, würde sie jeden Hipster als Nazi beschimpfen, weil sie New Balance-Schuhe oder verdächtig ähnliche Frisuren, etwa von Emo-Girls, mit „rechts“ gleichsetzen. Egal, wie abwegig solche absurden Erkenntnisse auch sein mögen. Da Äußerlichkeiten heute weniger das Problem sind, wird nun tiefer gegraben und der Lebensalltag oder die Kultur auf Verdachtsmomente abgegrast. Es brauchte schließlich nur noch die Mode-Erscheinung der Gender Studies und Kolonialgeschichtsaufarbeitung aus amerikanischen Universitäten, um die Büchse der Pandora endgültig zu öffnen. Und wer die Entwicklung drüben bisher verfolgt hatte, weiß, was uns demnächst blüht. Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn wir einen deutschen Donald Trump als Bundeskanzler ertragen müssten und in der Bevölkerung entsprechende Grabenkämpfe bald eskalieren würden.
Das zu tolerieren gelangt bei mir nun schwer an die Grenze des Ertragbaren. Der Expander ist derart angespannt, dass er, wenn losgelassen, als gefährliche Waffe eingesetzt würde. Mir bleibt für mich nur noch die Wahl zwischen spontan loslassen oder die Spannung langsam zu lösen. Ich würde es ja jedem raten, dasselbe zu tun, aber da scheint noch nicht der Punkt erreicht, an dem man gewillt wäre, zuzuhören und aufzugeben. Die Kämpfe werden immer schärfer, immer lauter, und die Mühlen zermahlen das Mehl nun zu mikroskopisch feinem Staub.
Hier ist der Punkt überschritten, an dem ich mich noch an der Debatte beteiligen will. Oder zumindest meine radikale Mitte wahren möchte, die sowieso in diesem Lagerkampf kaum Beachtung findet. Man ist fast schon beleidigt, weil in dieser Schlacht die Pfeile über einen hinweg pfeifen. Immerhin wird man nicht getroffen. Ich würde ja gerne jedem raten, sich zu mir zu gesellen, aber die Faszination für´s Bogenschießen scheint höher zu gewichten als die Wahrnehmung für das körperliche Wohl. Zu viele nehmen es auf sich, durch den Pfeil des Gegners verwundet zu werden, wenn er selbst einen abfeuern kann.
Wer Frieden will, kämpft nicht dafür, sondern lebt ihn vor. Wer nicht verwundet werden will, stellt sich nicht da hin, wo Pfeile von gegenüber auch landen. Und da ist es egal, ob es sich um ein Virus oder soziale Ungerechtigkeit handelt. Das sind physikalische Kräfte, die passieren einfach – ob man will oder nicht. Wir sollten das endlich mal akzeptieren und uns um das Beherrschbare kümmern, alles andere unangetastet lassen. Wer „mal schnell die Welt retten“ will oder sie verteidigt, wie man sie sich selbst erschaffen hatte, will sie oft mal schnell so kalibriert wissen. Doch die Welt lässt sich nicht kalibrieren wie der Zeiger an der Waage. Alles soll noch schneller gehen als bisher. Doch da geht nichts schneller. Physik. Ein Zug wird bei 200 Sachen definitiv aus den Schienen fliegen, wenn er auf eine scharfe Kurve trifft.
Bis hier hin, und nicht weiter. Ich mache hier und jetzt Schluss mit dem Getrieben-sein. Ich akzeptiere das nun. Also verlangt von mir nichts, was ich nicht leisten kann oder zu leisten bereit bin. Vor allem, wenn ich nur als Zweckmensch dienlich sein soll. Nehmt mich mal als Mensch, und nicht nur als ein Instrument, das ihr als Masse hinter eurer Meinung braucht. Hier stehe ich, und hier werde ich stehenbleiben. Ihr dürft mich gerne begrüßen, mit mir reden, euch mit mir austauschen, aber zerrt nicht an mir. Das funktioniert – mit Respekt und Geduld. Denn irgendwann bewege ich mich von selbst. Wenn ich überzeugt bin.
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mario hilgenfeld (Donnerstag, 04 November 2021 22:35)
System - planmäßiges Gefüge einer Gedankenmehrheit*
Gedankenmehrheit(en) gefügig machen geplant
*juris.Wörterbuch Koebler