Studien sind die neue Bibel, Wissenschaftler der neue Messias. Eine der einschneidendsten Kontroversen der Moderne ist die Abkehr vom Glauben hin zum Wissen, der Bedarf an Mythen und Geheimnissen scheint gedeckt. Bildung und Rationalität sind die Theologie von heute.
Kurzum: die Religion hat in seiner Gänze ihre Berechtigung versiegt. Versucht man das Gesamtbild so klar und objektiv wie möglich zu sehen, stößt man unwillkürlich auf einen Kampf um Kultur und einer ideologischen Zeitenwende, deren Krieger nicht mehr mit Schild und Schwert ganze Städte durchpflügen, sondern bestrebt sind, mit der noch mächtigeren Feder jeden Ansatz von Glauben und Unergründlichem auszuradieren. Selbstverständlich ist Rationalität und Sachlichkeit auf Grundlage einer natürlich unanfechtbaren Wahrheit ein hohes Gut. Aber wann schwenkt dieses unermessliche Vertrauen in Wissenschaft in Götzenverehrung um? Wann ist die Linie überschritten, wo Wissen zu einem Mythos oder gar einem Kult wird?
Aus der Zeit gefallen
Der Stellenwert der Religionen hat in den letzten Jahrhunderten mit dem Durchmarsch der Industrialisierung deutlich abgenommen. Die Relevanz des Glaubens bildet sich etwa in der Zunahme der Kirchenaustritte ab, die, wie häufig zu beobachten, eine Konsequenz der Reaktionen auf Vorfälle im unmittelbar institutionellen Umfeld darstellt. Statt der Huldigung für deren soziales Engagement, statt der Anerkennung als Konglomerat Sinn suchender Individuen sehen sich die hier vorherrschenden Konfessionen in den letzten Jahren massiver Kritik ausgesetzt. Missbrauchsfälle, ausschweifender Lebensstil oder auch die vorgeblich philanthropische Färbung alt-bürokratischer Freudlosigkeit haben wenig gemein mit den Psalmen und Versen, mit denen die Institutionen unter dem Banner des Kreuzes Erlösung und Geborgenheit versprechen.
Es wäre also falsch, eine Lanze für die Kirche zu brechen, da der Glaubensalltag mit humanistischem Lebenssinn wenig gemein hat. Zu kriegerisch war ihr Bestreben zur Expansion in der Vergangenheit, zu viel Doppelmoral in ihren Lehren wider deren Einhaltung durch ihre Überbringer. Und doch ist viel Gutes in ihren Schriften verankert, dem man sich nahtlos fügen könnte. Theologie und Ethik sind Lehren, die uns von ungezügelter Dekadenz und Willkürlichkeit fernhalten, losgelöst vom aggressiven Tatendrang der Missionierung. Ein hehres Ziel in einer Moderne, die Halt im neoliberalen Wahn der Grenzenlosigkeit anbieten könnte.
Mit solch einer Bürde der kriegerischen Historie ist jedoch kein Vertrauen zu gewinnen. Mit der Implementierung von Maschinen und den Durchbrüchen in der Entschlüsselung von Naturwissenschaften hat sich eine neue, absolutistische Gesinnung etabliert, die ihrerseits in ideologischem Wahn verfolgt worden war. Von Galileo Galilei bis heute entwickelte sich die Wissenschaft zur neuen Doktrin, Rationalität schlägt Mystik und phantastische Geschichten. Religionen geraten heute, in dieser produktiven, nüchternen Welt, an die Grenzen ihrer Glaubhaftigkeit.
Radikal rational
Der Scheitelpunkt dieses Kulturkampfes schien jedoch erst in den letzten Jahren erreicht. Trotz dass die Technologie immer wieder Rückschläge erfuhr, sei es im Gesicht des Reaktorunfalls von Tschernobyl oder andere namhafte Unfälle der Neuzeit, wuchs der Glaube an die Allmacht der puren Logik. Die Wissenschaft als Forschungsmittel und Lehre trieb und treibt die Menschheit zu immer neuen Leistungen, die Entwicklungskurve zeigt stets steil nach oben.
Der menschliche Drang des Erfindergeistes trieb jedoch auch zu Erfindungen und Produkten, die unserem Planeten schadeten. All diese Produkte schwimmen heute tonnenweise in unseren Weltmeeren umher, verpesten die Luft oder unsere Anbaufelder. Einen Umbruch erfuhr die Menschheit wohl in der Klimadebatte, der Fridays For Future-Bewegung, die ironischerweise aus den Milieus entwuchs, die am wenigsten von den Auswirkungen des Weltzustandes betroffen waren. Die Akademikersöhne und -töchter, die gutbürgerlichen Wohlstandkinder, sägen zusätzlich an dem Ast, auf dem sie sitzen. Das mag zum Wohle des Klimas anerkennend selbstlos sein, doch war es ein Fehler, der Bewegung von Schülern und Studenten so viel Macht zu überlassen. Schon seit einigen Jahren etabliert sich nun eine Generation von Aktivisten, die ihren eigenen Kampf führen, und darin verachten sie jedwede Errungenschaft vergangener Epochen.
Ihnen kann nun kein Glauben mehr helfen, keine bestandserhaltende Gesellschaftsstruktur oder altmodische Technologie, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Man fordert nun einen völligen Umbruch und setzen auf das Pferd Wissenschaft als Endlösung.
Illuminaten 2.0
Um dies zu erreichen, muss die Bestandswahrung mit allen Mitteln bekämpft werden. Neben gesellschaftlichen Traditionen sollen alte Technologien ihren Reiz, Mystik oder Esoterik den Status eines wissenschaftlichen Feldes verlieren, wozu auch der Glauben zu zählen ist. Dabei gehen sie nicht zimperlich vor – die Bibel oder der Koran werden in Zügen als Hetzschriften bezeichnet, das Zölibat oder der Hijab zum Symbol von Unterdrückung, genährt durch strafrechtlich relevante Entwicklungen als Totschlagargument zwecks deren Tilgung. Die Menschheit soll weniger durch Geschichten geprägt werden, sondern durch Formeln und Fakten, Lehrbücher lesen statt Bibelverse, sture Rationalität dem Glauben vorziehen. Alles, was ins Theoretische abgleitet, was nicht erforscht und bewiesen ist, zur Ketzerei umgedeutet.
Dabei nutzen sie selbst eine ganze Palette von Symbolen, Riten und Figuren, die ihre Denkweise zu einem Kult formen. Heute pilgern sie nicht zu Jesus, um den Predigten zu lauschen – sie kampieren vor den Apple-Stores. Ihre Apostel heißen nicht mehr Matthäus oder Johannes, sondern Rezo oder Mai Thi. Ihre neuen Götter heißen Jobs und Gates, Drosten oder Lauterbach. Ihre heiligen Schriften sind nicht mehr die Bibel und der Koran, sondern Sachbücher, Twitterposts und Autobiographien. Ihre heiligen Stätten sind nicht mehr Jerusalem und Mekka, sondern Silicon Valley oder die NASA.
Diese kultische Verehrung von Wissenschaft und Technik hat im Internet gar eine Art Illuminaten-Kollektiv etabliert – die Skeptiker-Bewegung. In fundamentalistischem Eifer geht sie gegen alles vor, was paranormal oder schlichte Theorie ist; sie sieht sich selbst als Wächter über Wahrheit, Fakten und Vernunft. Nun ließe sich leicht annehmen, diese Bewegung wäre nur eine von vielen in der Gesellschaft, ähnlich den vielfältigen Gruppierungen innerhalb großer Religionen, doch ist sie mehr als nur das. Sie erscheint wie der Tummelplatz vieler Narrative, die in der Neuzeit für die westliche Welt bedeutsam geworden sind. Augenfällig finden deren Kernthemen zunehmend Platz in den wichtigsten Medien.
Wissenschaft ist auch das Scheitern
Erkennbar finden sich vermehrt Skeptiker und ihre Unterstützer vor allem in den sozialen Medien wieder, wenn Theorien drohen, an die Oberfläche der Aufmerksamkeit zu schwappen. Allerdings ist abseits von Naturwissenschaften kein Themengebiet vor Interpretationen gefeit, wodurch die Skeptiker in ihre eigene Falle tappen. Und just zur Corona-Pandemie erhielt ihre Agenda eine Schlagseite, die sie wahrscheinlich nicht beabsichtigt hatte. Zwar wird die offizielle Linie der omnipräsenten Virologen und Epidemiologen regelmäßig als „die Wissenschaft“ plakatiert, jedoch gibt es nicht wenige, die zu völlig unterschiedlichen Schlüssen kommen als es ein Prof. Drosten oder Karl Lauterbach verlautbaren wollen.
Dabei scheuen sich die Realitätsverfechter nicht, Koryphäen in ihren Fachgebieten zu Scharlatanen zu erklären. Selbst die anfängliche Unberechenbarkeit eines neuartigen Virus veranlasste das Kollektiv zu frühem Eingreifen, und so wurden Sucharit Bhakdi (vielfach ausgezeichnet) und John Ioannidis (meistzitierter Forscher) quasi über Nacht zu Staatsfeinden erklärt. Während die westliche Welt noch über die Flüchtlingsfrage untereinander im Clinch lag und das skeptische Netzwerk, flankiert von links, online nicht müde wurde, jeden Mumpitz von Rechten zu entkräften, ging man nahtlos dazu über, gegen alles, was sie als unwahr definierten, mit immer schrilleren Tönen zu Felde zu ziehen.
Der Status Quo heute zeigt sich in einer monotheistischen Epistemologie im Forscherjargon. Dabei fällt des Öfteren als Schlachtruf „DIE Wissenschaft“ - ausgeblendet wird allerdings eines der wichtigsten ungeschriebenen Gesetze: nobody´s perfect. Wenn Menschen Wissenschaft betreiben, nähern sie sich der Wahrheit in der Regel erst an. Es gleicht einer Detektivarbeit, von Indizien und Dialog durch Denken zu größeren Erkenntnissen zu gelangen, niemand hat auf Knopfdruck ein Themengebiet vollständig entschlüsselt. Mit Corona scheint dieser Fakt plötzlich nicht mehr gültig, offenkundig im blinden Eifer, offene Fragen bei den Rechten, Esoterikern oder Verschwörungstheoretikern zu parken, um sie nicht in die öffentliche Debatte einbinden zu müssen. „Der“ Wissenschaft hat das natürlich einen Bärendienst erwiesen, dass eine Ideologie den Rahmen des Sagbaren absteckt, was bei Corona bedeutet, den akuten Gesundheitsschutz über alles zu stellen und gleichzeitig jede ihn konterkarierende Erkenntnis nicht in die Medien zu hieven. Mit dem üblichen Ablauf hat das, zumindest in der öffentlichen Debatte, nicht mehr viel gemein.
Fake-Fakten
Durch diese Separation ist eine Wissensmonokultur entstanden, die selektive Halbwahrheiten in den Fokus rückt und ihrerseits selbst den Bestand von „Fake News“ erfüllt. Weniger die Lüge bewegt hier die Waage, sondern das Auslassen. Anderes, was tatsächlich nicht bewiesen wurde, sei es die Existenz von Gott oder die Wirksamkeit von Homöopathie, gereicht für eine öffentliche Steinigung aus.
Als überzeugter Agnostiker möchte ich für keine Religion Partei ergreifen, sollten ihre Anhänger ihre Geschichten und Glaubensgrundsätze versuchen bei mir zu implantieren. Aber ich mag deren theologische Ansätze, die über Ethik, Nächstenliebe und Frieden sinnieren. Da sie jedoch in einem mythologischen Kontext stehen und eine historische Einordnung kaum mehr möglich ist, sind die übernatürlichen Aspekte wie die unbefleckte Empfängnis, Moses´ Teilung des Meeres oder die Wiederauferstehung Jesu Gift in den Ohren eines jeden Rationalisten.
Hypothesen aufzustellen gehört allerdings zur Wissenschaft wie das Weihwasser in die Kirche. Wissen beginnt mit Glauben. Wird Glauben nicht zu Wissen, schadet das grundlegend nicht unserer Gesellschaft, auch wenn Skeptiker das glauben mögen. So ist ein Irrglaube entstanden, indem man Stichworte bündelt – anders ist etwa die rhetorische Melange aus „Rechten, Esoterikern und Verschwörungstheoretikern“ kaum erklärbar. Dass „die“ Wissenschaft empirische Daten als Gegenargument hervorbringt, mag für die Wahrheitsfindung weitaus zielführender erscheinen. Ist sie jedoch unter dem Eindruck von Lobbyismus oder Gefälligkeitsstudien gehalten, kann die subjektive Deutung von Zahlen oder das Verschweigen von Erkenntnissen den Status einer neutralen Instanz obstruieren.
Ich ziehe dabei eher eine Ideologie vor, die eine zurückhaltende Moral als theoretisches Konstrukt, und sei sie noch so fantastisch unterlegt, lehren will. Das, was in heutiger Zeit die Macht für sich beansprucht, ist dagegen eine konträre Doktrin, die mittels Instrumentalisierung der Wissenschaft einen Absolutheitsanspruch propagiert und dabei äußerst aggressiv zu Werke geht. Sie kämpft nicht mit physischer Gewalt, sondern psychischer, durch Ausgrenzung und Diffamierung. Die moderne Kirche tut das nicht. Sie offeriert, öffnet Tür und Tor und verurteilt nicht, wenn Menschen an den Gotteshäusern vorbeilaufen oder nur der Architektur wegen bestaunen. Als Empfänger ihrer Botschaften kann man sich Gutes herausnehmen und anwenden, oder auch nicht. Wissenschaft hingegen wird oft als Druckmittel in der Argumentation genutzt, Interpretation zum ketzerischen Akt. Eine Umkehrung der Machtverhältnisse, in denen der Wissenschaftler einer religiösen Übermacht zum Opfer geworden war.
Die aktuelle Gesundheitskrise etwa ist politisch motiviert und wissenschaftlich nicht absolut. Da werden nur Berater hinzugezogen, die nur die eigene Meinung bestätigen, um das weitere Vorgehen zu rechtfertigen. Hier wäre eine nüchterne Einordnung durchaus angebracht gewesen. Nach wenigen Monaten minimalster Erkenntnislage zu handeln und dies ein Jahr später immer noch so handhaben, wird mit Wissenschaft in ihrer Gänze in keinster Weise gerecht, nötige Studien gar nicht berücksichtigt oder schlicht nicht kommuniziert. Ein Selbstbetrug, der nicht folgenlos bleiben könnte...
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