Als die Corona-Krise zu schwelen begann, versuchte die Politik an unser Zusammengehörigkeitsgefühl zu appellieren. Abstand halten, Maske tragen – wenn ein jeder sich daran hielte, dann hätten wir eine kollektive Großleistung geschafft. In dieser Zeit war noch niemandem bewusst, welche Auswirkungen das Virus auf den Menschen haben könnte, und in dieser Unwissenheit war ein Handeln unabdingbar gewesen. Das Momentum siegte über die dürftige Erkenntnislage, und schon früh wurde klar: Wir konnten nur durch diesen Kraftakt des Verzichts dazu beitragen, das Virus an einem Durchmarsch zu behindern. Der Kitt, der diesen Kraftakt zusammenhalten sollte, war die Solidarität.
Dieses neue Wir-Gefühl schienen die Bürger als neue Chance zu verstehen. Gruppenzugehörigkeit entfaltete eine neue Dynamik im Denken der Menschen wie eine tot geglaubte Person, die plötzlich lebendig auftaucht. Vor der Krise herrschte noch eine kollektive Tristesse vor – „Spaltung“ war das Schlagwort der Stunde, als die Gesellschaft noch exklusiv um die allseits präsenten Themen wie Klima oder Flüchtlinge rang. Das Gefühl von Solidarität schien nur den Linken und Linksliberalen anheim, allen anderen, vom Kritiker aus der Mitte bis zum rechten Rand, sollte der „böse“ Part zukommen. Sie alle wurden immerhin noch differenziert etikettiert, von „Populismus“ bis „Nazi“ war alles dabei.
Mit Corona und den weitreichenden Maßnahmen sah sich die Gesellschaft in einer Art Aufbruchstimmung, dem Kollektiv einen neuen Geist einzuimpfen. Und da es heute ein Leichtes ist, mit Hashtag-Kampagnen schnell und weitreichend Menschen zu mobilisieren, überschlugen sich die affirmativen Maßnahmenempfänger mit Mantren gleichen Klanges mit Parolen. Diese Solidaritätssprüche hatten allerdings etwas Widersprüchliches an sich – Zusammenstehen durch Abstand halten. Wenn Sprache das Denken beeinflusst wie etwa in der Political Correctness gerne argumentiert, ist dies bereits eine Divergenz in sich.
Dem gegenüber stehend wurden Begriffe wie „asozial“ oder „Egoismus“ mobilisiert. Jede Form von Kritik würde sich an der messianischen Hoffnung auf Rettung versündigen, und letztendlich unterschied man nicht mehr zwischen Kritikern und echten Spinnern. Schon bevor die Pandemie ein alles beherrschendes Phänomen wurde, scheuten die neuen Wächter des Staates keine Mühen, Spaltung pauschal mit den politischen Rändern in Verbindung zu bringen. Dabei ist die Zersetzung ein Symptom, das die breite Mitte zu verantworten hat – wer sich eigenverantwortlich zu den politischen Rändern hingezogen fühlt, tut das nicht aus Freude am Experimentieren. Wenn sich die Mehrheit nicht darum bemühen will, die labilen Seelen in ihrer Mitte zu integrieren, holen Sie sich ihr Gemeinschaftsgefühl eben woanders. Die Ideologien sind, und das bestätigen Einzelschicksale in ihren Ausführungen, zuerst zweitrangig.
Der Trugschluss liegt demnach in dem Glauben, dass Mehrheit automatisch Zusammenhalt bedeute. Das Prinzip macht es einfach, die Masse hinter sich zu wähnen, Machtgefühle stellen sich ein, mit ihr im Rücken seine Meinung auszusprechen. Ob die Meinung der Wahrheit entspricht, spielt darin eine untergeordnete Rolle. Solidarität nährt sich aus dem Selbstversorgereffekt fremdbestimmter Gleichförmigkeit, das Bildnis des Ouroboros gilt nicht nur für angebliche Schwurbler und Aluhüte.
In der Pandemie ist Zusammenhalt eindeutig definiert worden, ebenso das Unsolidarische. Lange galt für die Mehrheit, die Sorge um Selbst- und Fremdinfizierung sei die einzig wahre Solidaritätsbekundung. Das Werkzeug dazu war der Lockdown, der unter anderen Gesichtspunkten Zwang über Eigenverantwortung stellte. Man traute den Bürgern einfach nicht über den Weg, auch genährt durch Kenntlichmachung der „Querdenker“-Demos als „unsolidarischen Rebellismus“. Die Öffentlichkeit musste mit einem Richtig/Falsch-Bild auf die Notwendigkeit der Maßnahmen eingeschworen werden – wir kennen dies etwa bei vielen Toilettenräumen, in denen die Beschilderung zur Nutzung von Klobürsten als notwendig angesehen wird. Irgendwer schießt immer dagegen, die Warnung/Belehrung gilt jedoch für alle.
Man ließ sogar einen Teil der zustehenden Menschen- und Grundrechte fallen, um diese Solidarität einzufordern. Krankheit und Tod an und mit Corona generierte gleichzeitig einen Scheuklappeneffekt, der eine andere Solidarität zum unsolidarischen Akt minimierte – die der Freiheit, der Grundrechte. Und diese kollektive, wenn auch minder laute Sorge sollte in der gesundheitlichen Notlage nicht ausgesprochen werden. Von einem Tag auf den anderen wurden vorher legitimierte Sorgen und Kritik umgedeutet, gut zu beobachten am Beispiel Pharma. Zuvor noch der Prügelknabe durch windiges Geschäftsgebaren sehr skeptisch von den Bürgern beäugt, erlebte die Industrie eine wundersame Läuterung als einzige Hoffnung im Kampf gegen das Virus.
Bei der Politik ein etwas anderes Bild: die Polarisierung in der Flüchtlingsfrage brachte Merkel zwar viel Spott und Hass ein, allerdings auch das andere Extrem von götzenhafter Zustimmung. Von „Merkel muss weg“ bis „Refugees welcome“ war die Lagerbildung links und rechts ein jahrelang augehobener Graben, der mit Corona ein ähnliches Für und Wider zeichnete. Die Gewichtung der Lagerbildung in dieser Grundsatzentscheidung ist allerdings eine andere geworden. Der humanistische Ansatz der Linksliberalen gegen das rechte Lager hat durch das Ausschlussverfahren von linker Seite viel mehr Menschen in die rechte Ecke gedrängt, oder man entschied sich bewusst und teils resigniert selbst dafür.
So sorgt das Ausschussverfahren für eine viel breitere Gegenöffentlichkeit. Menschen, die sich nie als rechts sahen, wurden plötzlich damit etikettiert. Was die „Solidarischen“ allerdings nicht berücksichtigten: der Ausschluss aus einer Gruppe sorgt für eine andere Solidarität. Gleichgesinnte gingen zu Demonstrationen auf die Straßen, sie kritisierten Maßnahmen in den sozialen Medien und sind immer noch gleichgesinnt, wenn etwa Youtube oder Facebook zur Zensur greifen. Stand heute sind die Kräfteverhältnisse zwischen Maßnahmenbefürwortern und Kritikern nicht mehr sehr zu unterscheiden, Umfrageergebnisse kippen.
Nach einem Jahr Pandemie ist wohl doch eine Ernüchterung (oder doch Erleuchtung?) eingekehrt, die sich nicht nur auf das nächste Corona-Zahlenlotto stützen konnte. Nachdem die Befürchtung, die Ausrottung der Menschheit durch das Virus wäre eingeleitet, deutlich verfehlt wurde, setzte man, nach einem kleinen sommerlichen Siegestaumel und der zweiten Welle, auf radikalere Methoden – #zerocovid. Wenn schon Solidarität nicht funktioniert wie gewünscht, sollte wenigstens der direkte Kampf gegen das Virus ein mächtiger Erfolg werden. Weit gefehlt, wären da nicht die Wirtschaft, Depressiven und Existenzbedrohten, die unter der Last von Halb-mehr-und-noch-ein-bisschen-härter-Lockdowns ächzten. Wie können die auch nur solch „luxuriöse“ Ansprüche wie Spaß, Entspannung und Arbeit haben statt nur überleben zu wollen?
Dass Solidarität für Erkrankte und Tote keine Einbahnstraße ist, sollte jedem differenziert denkenden Menschen bewusst sein. Allerdings hatte der Schrecken der Pandemie früh dafür gesorgt, die Gemeinschaft auf sehr wenige Aspekte der allgemeinen Solidarität zu verengen. Andere Themen, die ebenfalls Zusammenhalt fordern und fördern, wurden aus der Not geboren limitiert. Es war eine kurzzeitige Euphorie entstanden, trotz der Angst und der Ungewissheit, unserem vorher schon tief gespaltenen Land ein neues Kollektivimage zu verpassen, das alle Menschen einen würde. Doch wer Diversität und Einigkeit einfordert, muss auch mit den Menschen, Dingen und Eigenschaften leben, die man nicht mag.
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