Der Niedergang der Political Correctness
Stand heute ist die Political Correctness als Lebensmaxime nicht nur der Fassadenanstrich für hässliche Flecken an der Wand. Es wäre in aktueller Betrachtung auch nicht richtig, zu sagen, dass sie der Kitt in unserer heutigen Gesellschaft geworden wäre. Denn langsam bröckeln die Errungenschaften in Richtung absoluter Moral und das, was deren Vertreter als richtig erachten. Deren Schlinge hat sich über die Jahre so sehr zugezogen, dass im kollektiven Sinne nicht mehr von spielerischen Sexualpraktiken die Rede sein kann, sondern von Erstickungserscheinungen und Überhand nehmenden, einseitigen Machtgefühlen. Die Wokeness hat darin eine Wandlung vom Mauerblümchen zum repressiven Machtinstrument durchlaufen, Grenzen überschritten und damit sogar ihre Lobby – Wissenschaft, Politik – düpiert.
Mein Bali
Im Kontext von „gut gemeint“ und „autoritärem Handeln“ ist die Wokeness schnell von einer Bewegung des Guten und Schönen in eine selbstzweckhafte Ideologie abgedriftet. Als Beispiel ist kürzlich darüber berichtet worden, wie es ist, wenn diese neue Kaste von Weltbürgern ihre Ideologie als vollzogen ansieht und sich den Erdball zu eigen macht. Die queere US-Amerikanerin und Influencerin Kristen Gray wanderte als „digital nomad“ nach Bali aus, mitten in der Pandemie, ausgestattet mit einem begrenzten Visum. Nachdem sie, freudetrunken, von ihrem Leben in einem Holzhaus für 400 Dollar Miete erzählte und wie „queer-freundlich“ das Land sei, offenbarte sich stellvertretend die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ferner war erkennbar, dass Wokeness auch mit Neoliberalismus einhergeht – Gray und ihre Freundin betätigten sich als Systemschmarotzer in einem gebeutelten Land.
Sie verletzten scheinbar Einwanderungsbestimmungen, überschritten ihr Visum und zahlten keine Steuern. Dafür prahlte Gray öffentlich über ihren neuen Lebensstil, vermarktete nebenbei ihr eBook und animierte ihre Follower, nach Bali zu reisen. Es war keine Werbung für das Land und seine Leute, sondern ein höchst eigennütziges PR-Manöver auf dem Rücken der dortigen Bevölkerung. Sie hätte ebenso gut in eine fremde Villa einbrechen, sich dort einnisten und all ihre Freunde dazu aufrufen können, dort auch zu wohnen. Gray hatte nicht mit dem Widerspruch der Einheimischen gerechnet. Indonesien ist nämlich stockkonservativ. Gleichberechtigte Homoehe ist dort verboten, Homosexualität wird dort noch „therapiert“. Das ist selbstredend nicht gutzuheißen, aber es ist ein anderes Land mit anderen Sitten, und wenn sich jemand von außerhalb dort niederlässt und das Land quasi für sich beansprucht, beweist es fehlende Respektlosigkeit gegenüber dem Gastgeber. Gray hätte sich zudem vorher informieren können, wenn ihr wirklich etwas an den Gepflogenheiten und politischen Begebenheiten auf Bali gelegen wäre. Wokeness muss man wohl nur auf andere projizieren, nicht auf sich selbst.
Statt Reue zu zeigen, twittert sie noch während ihrer Rückführung, nicht schuld gewesen zu sein und stilisierte sich zum LGBT-Opfer. Wenn Dreistigkeit an Grenzen stößt, darf wieder die Käfertaktik herhalten. So setzt nun doch langsam, aber sicher der Bumerang-Effekt ein, der manchen Höhenflug in die Schranken weist.
Moral schlägt Gesetz
Moral ist ein wichtiger Aspekt in der Political Correctness, weil sie über jeder Entscheidung thront und sie kritisch beäugt. Sie ist mehr oder weniger die Alleinherrscherin über die Ausführenden, bewertet, legitimiert und sondert bei Bedarf aus. Doch auch die Moral macht Fehler. Wenn sie einen Anspruch auf Richtigkeit erhebt, dann sieht sie sich allwissend und als Grenzschranke für die menschliche Entwicklung. Weiter ist ihre Stringenz in der Frage, ob der Schlagbaum nach oben geht, ein bestimmender Punkt.
Die Moral im Sinne von Internetriesen bestimmt heute die Debatten darüber, ob und wie sie ihre Vormachtstellung zum Eigennutz missbraucht. Staatlich formulierte Gesetze werden hier immer öfter ignoriert oder umschifft, für sie sind ihr eigenes Hausrecht und Vertragsklauseln mehr Gesetz als die Gesetze selbst. Die Regulierungsversuche von Seiten des Staates werden durch wirtschaftliche Winkelzüge umgangen, Steuern nicht ordnungsgemäß abgeführt. Und doch (oder gerade deswegen) sind Google, Facebook und Twitter zu milliardenschweren Megakonzernen angewachsen. Bisher hielten sie sich zurück, wenn es um Löschungen oder Bevormundung ging – doch mit Trump und spätestens seit dem Sturm auf das Kapitol wurde wohl jedem bewusst, dass das „second life“ auch nicht so frei ist wie erhofft.
Und wie schon ausführlich dargelegt, ist die Ideologie entscheidend für etwaige Accountsperrungen, und die sind keiner Künstlichen Intelligenz zuzuschreiben. Auch die sind nur das Ergebnis menschlicher Einwirkung. Trumps Accountlöschung wurde wiederum nach eben jenen Prinzipien durchgeführt, denen sich die Mitarbeiter der Social-Media-Plattformen kollektiv verpflichtet fühlen. Hier ist „corporate identity“ Programm, politisch wegweisend, die Macht hinter den Bildschirmen ist beinahe furchteinflößend. Warum ist also die Hassrhetorik Trumps löschwürdig und die Prahlerei Kristen Grays nicht? Beide haben auf dem Rücken einer ethnischen Gruppe agiert und sich selbst inszeniert, Gray hat nur selbst ihre Accounts stillgelegt und wurde nicht von Twitter und Co. sanktioniert. Queer zu sein war bisher die beste „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte, stößt jedoch immer öfter an Grenzen einer vergangenen, kollektiven Wahrnehmung von Neutralität.
Radikal für uns alle
Vier Jahre Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten haben im Grunde nichts bewirkt - Stillstand in jedem relevanten Politikressort, der Mauerbau ist nur Stückwerk und kann wieder rückgängig gemacht werden. Auch bei uns herrscht eine radikale Stimmung vor, da hat die Flüchtlingspolitik Merkels als europäisches Pendant polarisiert wie selten. Das linksliberale Milieu sieht darin wieder den Regenbogeneffekt des weltoffenen Bürgers, blendet aber jede mögliche Gefahr aus. Wenn syrische Flüchtlinge mit der westlichen Kultur also Anpassungsprobleme haben, ist das für sie weniger von Bedeutung. Die Radikalisierung des Anis Amri wird eher schmallippig kommentiert, jeder Fetzen „rechter Rhetorik“ hingegen in einem Shitstorm empört niedergeknüppelt.
Diese „woke“ Intervention hat etwas Radikales. Niemand scheint sie darin stoppen zu wollen, weil sie für „das Gute“ aktivistisch agieren. Wenn sich Menschen von der Autobahn abseilen, um für den Erhalt eines Waldes zu demonstrieren, verdeutlicht dies den Verlust von Verhältnismäßigkeit in der Zielsetzung. Nicht nur, dass es gefährlich für sie selbst ist, sondern auch, wie weit sie gehen, den Fluss des alltäglichen Lebens bei der Allgemeinheit für ihre Überzeugungen radikal zu unterbrechen. Die Zeit der Aufklärungsversuche scheint vorbei, da es nach ihrer Meinung zu langsam geht oder gar nichts bewirken würde. Heute belagert man keine Bagger oder Öltanker mehr, sondern die Endabnehmer, als hätte man in der Masse, dem Käufer und Endverbraucher Schuldige ausgemacht.
Was sie beim Klimathema noch in einer Pressekonferenz als öffentlichkeitswirksames Zwischenziel erreicht hatten, scheint nun auch nicht mehr genug zu sein. Als Fridays For Future-Außenstellen mit der AfD redeten, wurde umgehend von oben reagiert. Hier agiert kein gleichgestelltes Kollektiv mehr, sondern eine hierarchisch feste Instanz. Deren Anweisung, nicht mit der AfD oder Rechten Kontakt zu suchen, trägt jedenfalls nicht dazu bei, Brücken zu bauen. Die Abschottung gegen jeden Andersdenkenden ist ein wechselseitiges Säbelrasseln. Das größte Problem ist heute, dass dieser Krieg nun nicht mehr an den Flanken stattfindet, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Vorbei sind die Zeiten, in denen man sich nicht um die Rechten und Linken zu kümmern brauchte, nun wird der mehrheitlich unbeteiligte Rest, die Unbescholtenen, mit hineingezogen. Die politischen Ränder zermahlen gemeinsam die demokratische Mitte, also alle moderaten sowie unschlüssigen Meinungen, zwischen ihren Mühlen.
Studenten-Trumps
Eine Agenda beruhigt zwar das eigene Gewissen, aber das ist wahrscheinlich nicht das berühmte Zünglein an der Waage, das die absolute Gültigkeit für sich beanspruchen darf. Das Bildnis der Justizia ist für das Prinzip der Demokratie das machtvollste Instrument, das sich jeder Bürger bei jeder Meinung, bei jeder Entscheidung vor Augen führen sollte. Die Wagschalen werden sich wohl nie dauerhaft in der Mitte einpendeln, weil die Interessenlage von Gruppen Gewichte hineinlegen, um sich Vorteile zu verschaffen.
Im Fall der Political Correctness bedeutet dies konkret, dass die drohende Ungleichgewichtung nach rechts zwar ausgeglichen wurde, aber nun deutlich nach links sackt. Und all die Bestrebungen und „Erfolge“, das Alte, Konservative abzuschaffen, ist mit einer Doppelmoral behaftet, so wurde nur alte Autorität gegen eine neue ausgetauscht. Würde die Political Correctness ihre Ideologie wirklich vorleben wollen, würde sie auch sich selbst regulieren und den alten Weg akzeptieren. Toleranz durchkreuzt offenkundig die Moral. Vielleicht auch ein starkes Indiz dafür, warum sich CDU und Grüne heute derart annähern konnten.
Wäre Trump für sich stehend Grund für die kollektive Verzweiflung der Studenten in Oberlin, Ohio gewesen, hätte man deren Motive sehr gut nachvollziehen können. Doch geht deren Interventionssucht über das normale Maß hinaus – etwa als die Mensa sich für die Nichteinhaltung des Originalrezeptes eines vietnamesischen Snacks öffentlich entschuldigen musste. Oder dass man nicht mal ein weißer Mann sein darf, der nicht queer sein will. „Cisgender“, heißt es nun. Ein abwertender Begriff, der – würde man die ideologische Perspektive vernachlässigen – ebenso von Trump hätte stammen können.
Kommentar schreiben