Trumps Wahlsieg und das kollektive Ohnmachtsgefühl
"Die Fixierung auf Vielfalt in der Schule und in der Presse hat eine Generation von Liberalen und Progressiven hervorgebracht, die sich auf narzisstische Weise vor den Problemen derer verschließt, die außerhalb ihrer selbst definierten Gruppen stehen." -Mark Lilla, Professor an der Columbia University
Dieses Zitat stand in einem SPIEGEL-Artikel von 2016, verfasst von Redakteur Philipp Oehmke. Der Leiter des New Yorker Büros des Nachrichtenmagazins berichtete nach Trumps Wahlsieg von der Schockwelle, die sich über das Oberlin-College in Ohio ergossen hatte. In der Elite-Uni studieren meist linksliberale, gut situierte Jungerwachsene, was als Synonym vieler Debatten über die Political Correctness, Cancel Culture oder das Gendering verstanden werden kann. Offen gestanden war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, welche Bedeutung diese Entwicklung der Gesellschaft zukommen würde. Trump war so etwas wie der schlimmste anzunehmende Fall gewesen, der der progressiven Generation passieren konnte.
Mich selbst hatten diese „safe space“-Geschichten oder der Vorwurf von „micro aggressions“ nie erreicht – vielleicht ein positiver Nachweis über mein allgemeines Verhalten. Doch schien mein Weltbild, meine Erfahrungswelt, wie man tagtäglich mit Leuten redet, ins Wanken geraten zu sein – auf der einen Seite Trump, der alle Errungenschaften über den Wert aller Menschen durch seine Rhetorik in den Wind schoss, und ihm gegenüberstehend eine Generation, die eben jene Adressaten von Trumps Spottparolen waren. Man bedenke: da wächst eine Kaste von Menschen heran, die unter anderem nicht mehr in den „alten“ Labels wie Vater und Sohn oder Mutter und Tochter versehen werden wollen. Der Oberbegriff Mensch gilt dabei noch als die einzige Schnittmenge. Alle weiteren Eigenschaften, ob Geschlecht, sexuelle Orientierung oder ethnische Zugehörigkeit, wurden in den letzten Jahrzehnten teils vernebelt, teils spezifiziert und damit stark verkompliziert.
Identitäten-Wirrwarr
Mit fortschreitendem Alter fällt es mir zudem immer schwerer, deren Selbstetikettierungen überhaupt noch folgen zu können. Mir selbst war nie daran gelegen, Menschen anhand von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht zu sondieren. Weder sie zu verunglimpfen noch sie besonders hervorzuheben. Auch sah ich mich persönlich nie in Rollen gezwungen, die meine Eltern oder die Gesellschaft genötigt sahen mir aufzuzwingen. Ich bin ein männliches Kind gewesen, wurde zu einem Mann, bin heterosexuell und habe keine versteckten Neigungen, die aus gesellschaftsdynamischen oder politischen Gründen unterdrückt würden. Die neue, linksliberale Bildungselite kann in dem Artikel aber folgend beschrieben werden: das alte, klassische Rollenverständnis muss weg, weil es ihren im Wege stünde. Das heißt auch zwangsläufig: nur weil ich so klassisch aufgewachsen bin und keinerlei Ambitionen verspüre, anders (oder queer) zu sein, bin ich automatisch symbolischer Aggressor gegen ihre Identitätenwahl.
Gleichzeitig zu diesem Dürsten nach neuen Identitäten oder schlicht mit dem Label „divers“ versehen zu werden, begeben sie sich gerne in die Opferrolle. Gerade das „Triggern“ oder die „micro aggressions“ sind ein Phänomen an Reaktionen, gepaart mit aufgebauschten, anzuzweifelnden Traumaerfahrungen und emotionaler Überdramatisierung. Natürlich ist es perfide, sich sogleich auf den Rücken zu legen, zu strampeln und somit selbst andere triggern zu wollen, wenn es noch keinen triftigen Grund dazu gibt. Merke: Wir hantieren hier nicht mit Kriegskindern. Man ist zunehmend verwundert, dass hier unliebige Ereignisse umgehend mit der Käfertaktik kommentiert werden. Sie begegnen einem Problem nicht mehr auf Augenhöhe, sondern schalten umgehend in den Defensivmodus, bevor etwaige Täter überhaupt aktiv werden könnten. So etikettiert man im Gegenzug übergreifend ganze Generationen vor ihnen als rückständig und menschenfeindlich, sei es das Mittelalter oder die Generation Babyboomer, die noch selbst einen Konflikt zur Aufweichung der alten Nachkriegsspießigkeit ausgefochten hatten.
Seitens der Millenials scheint in diffuser Weise eine Aversion gegen alles Alte entwachsen zu sein. Traditionen sind plötzlich ein Feindbild. Einem Shitstorm in den sozialen Medien können sich solche Events und Routinen sicher sein. Auffällig ist dabei die Herabsetzung der Religion als Ganzes und im Gegenzug eine unbändige Huldigung an das ultimativ Rationale, allem voran der Wissenschaft als Waffe gegen das Paranormale. Somit tritt eine einzige Generation all die Historie und Lebensinhalte der Menschheit, von heidnischen Kulten bis zur modernen Religion jedweder Glaubensrichtung, mit Füßen. Labors und Schreibtische ersetzen Weihrauch, Myrrhe und Altars.
Alle rechts
Das Anklageprinzip funktioniert so gut, dass es weit abseits von kriegerischen Feldzügen mit moralischer Unterstützung des Weltenbürgertums Existenzen bedrohen kann. Die Generation Internet ist nun „woke“ geworden, immer erreichbar und aufmerksam 24/7, vergisst aber dabei, Dinge in einen Kontext zu setzen. So wurde 2016 die Machtübernahme Trumps in der Vorzeigedemokratie der Welt nicht als Konsequenz ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten gesehen. Der Krieg gegen den Rechtsruck wurde vorher schon mit harten Bandagen und gleicher Klinge gefochten, da wunderten sie sich später unter Tränen, warum so viele Wähler einen solchen Spielzeugdespoten an die Macht brachten. Es schien ein Unglaube darüber geherrscht zu haben, dass all die Bemühungen in der Bekämpfung des Rassismus zur vergeblichen Liebesmüh zu verkommen drohten. Man zog sich als Konsequenz noch weiter in die eigene Bubble zurück und erkor danach alles, was nicht ihre Agenda mittrug, zu Rechten, rechtsoffen oder mindestens als Überbringer „rechter Rhetorik“. Eine sehr subjektive und trotzige Auslegung von politischer Standortbestimmung – wenn ich sehr weit links stehe und nach rechts schaue, ist auch alles und jeder rechts. Und mit dieser Positiionsverschiebung wandelte sich die sonst defensive Reaktion durch die Wokeness in offensive Angriffslust.
Das hat in den letzten Jahren zu einem Umdenken in Politik und Medien geführt. Das linksliberale Milieu musste Trump nun ganze vier Jahre ertragen und konnte sich nur damit begnügen, seine eigenwillige Mimik und Gestik im Einzelnen zu diffamieren, abseits von seinen realpolitischen Entscheidungen über Mauerbau und seinem starrköpfigen Umgang mit dem Coronavirus. Leider wurde Gleiches mit Gleichem vergolten, und wenn sie nicht zu Argumenten griffen, verwiesen sie nicht selten auf ein selbst aufgesetztes Hausrecht, die Deutungshoheit – es ist nichts anderes als Revierdenken im globalen Maßstab. Man hat sich lediglich davon verabschiedet, ungebetene Partygäste mit der Faust im Gesicht zur Tür zu geleiten, sondern dreht sich weg, redet in der dritten Person, nutzt Sprachcodes, um Macht zu demonstrieren. Oder, um die Käfertaktik wieder anzureißen: Man verlässt geschlossen die Partylocation (zu dumm, wenn es die eigene Wohnung wäre). Der einfache Weg der Face-to-Face-Konfrontation ist schon länger out, heute findet Gewalt im Gewand von Psychologie und Druck, vorzugsweise im Internet, statt. Indirekt und im Schatten des WWW geradezu hinterlistig. Seltsam für eine Gruppierung, die sich philanthropisch gibt und im Gegenzug T-Shirts mit destruktiven Sprüchen wie „Ich hasse Menschen“ trägt.
Übers Ziel hinaus
Mittlerweile stutzt auch der „Mainstream“ über dieses Verhalten. Der Lisa Eckart-Eklat oder die mediale Aufmerksamkeit über den „Appell für freie Debattenräume“ ist ein Zeichen dafür, dass sich die Political Correctness langsam, aber sicher übernimmt und der tiefer sitzende Machtanspruch, der ihr unter Mithilfe der Politik und bestimmten Medien legitimiert wurde, zwiespältige Reaktionen hervorruft. Wer aber einen Anspruch auf Frieden und Diversität hegt, der ohne Wenn und Aber einzuhalten ist, wird diese Spiegelung der Perspektiven nicht gutheißen können – unabhängig von Moralverständnis oder Richtig-und-Falsch-Denkschablonen.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass der Artikel von 2016 so viel bedeutsamer ist als es den Anschein hat, wie Studenten im Oberlin-College auf jede Störung ihrer teils narzisstischen Entfaltungssucht reagieren. Und da man weiß, dass jede Trendwelle – ob gut oder schlecht – von den USA herüberschwappt, lässt sich wahrscheinlich bald nicht mehr verleugnen, dass es eine „Cancel Culture“ gibt oder geben wird. Da behauptete nämlich die Mitherausgeberin des „Missy Magazine“, Stefanie Lohaus, in einer „Hart aber fair“-Sendung: eine solche Kultur gebe es nicht. Sie leugnet, verharmlost. Auch mit ihrem Vorwurf von „rechter Rhetorik“ seitens Andersdenkender lehnte sie sich so weit aus dem Fenster, dass selbst Gastgeber Plasberg die Stirn runzelte und sich zu einer kritischen Nachfrage genötigt sah. Die Konsequenz daraus: Lisa Eckart und Dieter Nuhr bleiben im Programm, Podcasts und Artikel befassen sich immer ergebnisoffener mit dem Reizthema.
Wir können in diesem Punkt ein Zwischenfazit ziehen, nämlich dass die Entwicklung weg von alten Rollenbildern und Verunglimpfungen von Minderheiten noch nicht abgeschlossen, aber auf einem guten Weg sind. Es gäbe noch Handlungsbedarf, doch kann man dies mit einer gewissen Besonnenheit angehen, denn sind wir heute weit davon entfernt, eine Minderheit oder benachteiligte Gruppe von Menschen nach althergebrachter Weise zu erniedrigen. Warum die linksliberale Bildungsschicht jedoch immer noch an ihrer Sicht festhält und diese Entwicklung als zu schwach empfindet, erschließt sich mir einfach nicht. Einen Erklärungsversuch dazu möchte ich trotzdem in den nächsten Teilen der kleinen Blog-Reihe wagen.
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