Stöbert man in den Gazetten heutiger Tage, muss zwangsläufig der Eindruck entstehen, dass es Deutschland gar nicht gut ginge. Wir reden über prekäre Beschäftigung, Pflegenotstand und hintere Plätze beim Digitalisierungsumbau, und tatsächlich sind Defizite sichtbar geworden, über die es zu reden gilt. Die Frage ist nur, ob wir in einem der reichsten Staaten der Welt Grund zum Lamentieren hätten – wir sind eine treibende Kraft im europäischen Gemeinschaftsgefüge, Exportweltmeister (gemessen an der Größe, Bevölkerungsdichte und Produktivität gegenüber China und den USA) und immer noch gefragt für unsere Produkte. Da scheint es unlogisch, dass wir uns nun selbst geißeln, weil der BER nicht fertig wird, Stuttgart 21 zu einem Monster der Ideologen mutiert oder wir mal in der Vorrunde einer WM ausgeschieden sind.
Was waren wir denn zuvor? Das Land der Dichter und Denker, Erfinder der Autobahnen (wenn auch mit bitterem Beigeschmack), Wirtschaft der Ingenieure und beliebtem „Made in Germany“-Branding, Weltmeister der Herzen und später tatsächlich.
Was sind wir heute? Wenn man uns selbst fragt, sind wir die Verlierer der Globalisierung, der Digitalisierung, der verlorenen Dichtkunst und spielen Fußball auf Rentnerniveau. In der Krankenhäusern fehlen Krankenschwestern, die Wirtschaft beklagt gebetsmühlenartig einen Fachkräftemangel. Es schallt durch die Medien, als hätten alle Crewmitglieder der „Titanic“ den großen Eisberg gesehen und reden beständig auf den Kapitän ein, er möge die Richtung ändern – doch der winkt nur ab, beschwichtigt die Mannschaft und unterstellt ihr Panikmache. Ja, da ist ein Eisberg. Und nein, wir werden ihn nicht streifen und schon gar nicht frontal treffen.
Ist es wirklich so schlimm um unseren Staat bestellt, oder reden wir uns die Probleme nur ein?
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir welche haben. Aber mal ehrlich: Staaten wie Griechenland oder Italien möchten unsere Probleme mal haben. Die Schwarze Null, Vollbeschäftigung und die verzweifelte Suche nach neuen Arbeitskräften, kein Hauch von spürbarer Rezession; da träumt so mancher Südstaat von. Der Status Quo zeigt Risse, steht aber noch auf stabilen Säulen, wo andere ihre Gebilde mit Wagemut und schwindender Hoffnung abstützen müssen. Griechenland laufen die jungen, tatkräftigen Bürger weg, Dörfer wandeln sich zu Rentnerhorten. Polen beklagt, dass wir ihnen die Arbeitskräfte entziehen, Italien steht vor dem Bankrott und hofft, dass die letzten Groschen in der Tasche plötzlich Junge kriegen.
Der Vergleich von uns mit anderen EU-Mitgliedsstaaten zeigt, dass wir erstens noch Geld an anderer Nationen Not verdient hatten, direkt oder indirekt, zweitens horten wir unsere vermehrten Euros stur in der Goldkammer. Stattdessen schieben Krankenschwestern Doppelschichten, Erzieher und Lehrer sind den zu großen Schulklassen nicht mehr gewachsen, Bürger müssen für zahlreiche Dienstleistungen immer mehr aus der eigenen Tasche bezahlen, die Bahn steht mit einem Bein im Desaster seiner eigenen Sparpolitik.
Gefühlt ist es ein paradoxer Zustand, der faktisch auf hohem Niveau thront und sich doch in Untergangsstimmung suhlt. Die Antwort kann nur lauten: „Es ist kompliziert.“
Wenn man die Epochen der 80er mit denen heute vergleicht, muss man zwangsläufig einen leichten Niedergang feststellen. Die Sozialleistungen wurden stark eingeschränkt, und hier war die Agenda 2010 ein einschneidender Beschluss für das wirtschaftliche und soziale Gefüge in diesem Land. Ausgerechnet ein Sozialdemokrat hat dafür gesorgt, der Arbeiterschicht das Wasser abzugraben und der Wirtschaft einen Durchbruch in der dicken Mauer des Sozialgefüges zu ermöglichen. Die Horden der Schlipsträger konnte nun endlich die Festung der Gewerkschaftsmacht einnehmen, nachdem SPD-Vasall Schröder heimlich die Schwachstelle im Gemäuer an den Feind verriet. Somit war der Weg frei für den Umbau in ein neoliberales Zeitalter.
Die Welle der Privatisierung brach herein, die Zwei-Klassen-Gesellschaft durch die Etablierung von Zeitarbeit wurde als unumgänglich bezeichnet. Hinzu kam die Deutsche Einheit und die völlige Entfremdung zweier einst grundverschiedener Systeme, und auch die Einführung des Euro markierte einen Meilenstein in der heimlichen Verteuerung von Waren. Kurz gesagt: an unserem Wohlstand wurde kräftig gezehrt, und nun haben wir den Salat.
Es scheint den Wirtschafts“weisen“, Unternehmern, Konzernbossen und deren affinen Politikern allmählich zu dämmern, dass sie das Bollwerk ohne Rücksicht auf Verluste brüchig gespart haben. Zwar werden verstaatlichte Institutionen wie Schulen immer noch mit der vermeintlichen Wunderwaffe der Privatisierung verankert, doch führen wir hierzulande schon länger eine mit Skepsis gefüllte Debatte darüber, ob das überhaupt hilft. Zu tief sitzt der Stachel um die Wohnungssituation, die nun durch die Medien geistert wie eine soziale Apokalypse, gekoppelt an die teils miesen Gehälter und prekären Beschäftigungsmodelle.
Ja, es ist so viel passiert, und das zu Lasten des kleines Bürgers und des Mittelstandes. Noch jammern wir auf höherem Niveau wie so manch europäischer Nachbar, doch ist unsere stoische Beständigkeit einer um sich schlagenden Raubtiermentalität gewichen, die jeder sozial denkende Mitbürger nicht mehr mittragen will oder kann. Es formiert sich mittlerweile eine ernst zu nehmende Gegenwelle, die sich in sich häufenden Demonstrationszügen gegen steigende Mieten, Wählerwanderschaft und alternativen Medienlandschaften formieren. Die Leute haben die Schnauze allmählich voll von der Selbstbedienungsmentalität derer, die die Macht zum Auffüllen ihres schon üppigen Kontos ausnutzen.
Ob man in diesem Deutschland gut und gerne lebt? Noch winken viele ab, noch geht es den Leuten tendenziell gut. Doch ist eine Unterschicht entstanden, die in ihrer aussichtslosen Lage Wut verspürt oder gleich alle Hoffnung verloren hat, Vertrauen in die Obrigkeit ist nur noch eine leere Worthülse, und die manifestiert sich im Wählerwandel an die politischen Ränder. Und gerade hat der SPIEGEL in der Ausgabe 20/2019 zum wiederholten Male ein in Angst getränktes Stimmungsbild in Form einer Titelstory gezeichnet. Der Bundesadler fleezt hier satt in seinem Thron und wundert sich, dass der Sekt alle ist - „Die fetten Jahre sind vorbei“ unkt die Schlagzeile daneben und greift damit nur eine Stimmung auf, die dem Bürger schon länger bewusst zu sein schien und sich nun in Zahlen nachweisen lässt.
Zwanzig Jahre zu spät.
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