Ich hatte ca. 100 Euro im Portemonnaie. Das Wetter wurde mittlerweile zu einer zweischneidigen Angelegenheit, weshalb wir uns erst für Sonntag entschieden hatten, dann aber die Meinung änderten und spontan am Samstag Nachmittag loszogen. Da schrammte laut der Wetterkarte ein Regengebiet an der Kurstadt vorbei, könnte Schauer bedeuten, danach aber viel blauer Himmel. Jup, nehmen wir.
Eigentlich soll man die Feste feiern wie sie fallen. Und trotzdem tippten wir ein paar Male auf die Wetter-App. Irgendwo schlüpfte die Ankündigung durch, dass es kälter wird. Frisch und windig. Und wir in dem Alter angekommen, wo einem das nicht mehr egal ist. Kalte Winde, die den Ischias kitzeln. Der reagiert empfindlich und zieht sich zusammen, schmerzt und verkrampft sich. Dazu meine Verfrorenheit wegen der Schilddrüsengeschichte. Wenn man nicht so sehr darauf aus ist, unbedingt irgendwo hin zu wollen, winkt man auch schon mal ab und sagt sich: „Muss jetzt nicht unbedingt sein.“. Aber der „Worschdmarkt“, der musste jetzt sein. Ich will´s nochmal krachen lassen, vor dem O(ktober), wenn uns die Landes- und Bundeshempels uns wieder mit dem Instrumentenkasten oder neuen Preisideen die Tour vermiesen dürften. Wer weiß, was kommt, wer weiß, ob und wann man mal wieder 100 Euro auf den Kopf hauen kann oder darf.
Und ich fühle mich irgendwie verpflichtet, den Veranstaltern eine gelungene Wiederaufnahme des alljährlichen Festes zu bescheren. Zwei Jahre war Pause – klar, wegen Corona(lockdowns from hell). Was sonst? Im Vorfeld hört man über die sozialen Kanäle nur vieles über die Wies´n. Man „freut“ sich schon wieder über die zahlreichen Lederhosen- und Dirndl-Leichen, die die Natur und Bahnhöfe vollkotzen. Maßlos mehrere Maß Bier saufen. Magensaft und Gerstensaft. Ja, ich mag es auch nicht gerne sehen, geschweige denn bei mir selbst. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich in meinem Leben wegen Vollsuff gekotzt habe. Sonst kannte ich immer mein Maß mit der Maß. Mehr als drei schaffte ich in guten Zeiten nicht. Dabei war ich nie auf dem Oktoberfest gewesen. Maß trank ich nur bei uns daheim, in den Stammkneipen, und da heißen die Literkrüge auch „Stein“. War eh nie so mein Ding. Du bekommst ein sauber gezapftes Helles mit schöner Schaumkrone drauf, und wenn du das Ding nicht in gefühlt 10 Minuten ausgesoffen hast, bleibt noch der schale, kohlesäurenfreie Wassersaft mit abgesetztem Bitterhopfensirup übrig. Den würgst du dir noch rein, weil du ein frisches willst. Nee, danke, ich war eher für den Meter. Kleine Gläser im Holzbrett, die man schnell abpumpt. Ex und hopp, zu dritt oder viert. Und dann noch mit Altbier gefüllt, da schwelgt man gerne in feuchtfröhlichen Erinnerungen. Als Schnapsleiche bin ich allerdings noch nirgends gelandet, nur nachts im Bett Karussell gefahren, bis der Alko-Rider mich Richtung WC schleuderte.
In Bad Dürkheim dagegen ist das „Dubbeglas“ das Behältnis des pfälzischen Saufkultes. Neben d´Wies´n als größtes Volksfest der Welt ist der Wurstmarkt das größte Weinfest der Welt. Staubige Flaschenkisten statt Bierfässer. Riesling statt Weißbier. Mehrere Weinstände vom Weingut XY statt Riesenzelt als Aushängeschild für die Festivität. Das Festzelt mit Live-Musik gibt es noch oben drauf. Drum herum sehr viel Kirmes - Fahrgeschäfte, Spielestände, Fressbuden noch und nöcher. Nach außen gedrängt, abseits des „Unterhaltungs-Mainstreams“ die typischen Verkaufszelte – Gundel-Pfannen, Schmuck, Klamotten, das Quasi-Perpetuum-Mobile unter den Bügeleisen mit abgetrennten Dampfkammern, wird angepriesen mit dem Slogan „Noch nie war Bügeln angenehmer“. Artikel, die dich eventuell in naher Zukunft via Werbevideo auf dem Minifernseher im Edeka-Regal penetrieren werden: „Das ist ja unglaublich! Und dazu noch gratis fünf praktische Kleiderbügel mit dem innovativen Stapeldesign dazu! Und das alles für nur elfunddrölfzig-Euro-fünfundneunzig!“. Nur echt mit der „Dauerwerbesendung“-Einblendung.
Solche Spezialartikel findest du als Vergleich auf südeuropäischen Märkten kaum. Die haben „nur“ Haushaltszeug, Kleidung und Fressalien zu bieten. Da wir gerade zwei Wochen zuvor in Carqueiranne einen dieser Märkte abgeklappert hatten, war der Unterschied zu den deutschen mal wieder interessant. Im Süden bieten sie dir das allerdings wöchentlich an, während bei uns solche Stände auf die Volksfeste abgeschoben werden. Und dort noch an den Rand des Areals gedrängt, die doppelten Außenseiter. In mancher Hinsicht kein Wunder, bei dem teils skurrilen Angebot.
Gut. Back to the mainstream. Bei den Fahrgeschäften der Standard, Stand 2022. Ich freute mich sehr darüber, dass „Break Dance“ immer noch existiert. Die Lightshow mit LEDs ein bisschen aufgepimpt, aber immer noch derselbe Fahrspaß wie in meiner Jugend. Natürlich gibt es auch eine Wildwasserbahn, die im kühlen September nicht so gut besucht ist. Daneben das große Riesenrad, und da wollte ich mal wieder rein. Trotz Höhenangst. Die wollte ich mal wieder austesten – wie schlimm ist es noch? Ich hatte doch Fortschritte gemacht, Jahre zuvor hätte man mich in keine Seilbahn gekriegt. In Riesenräder sowieso nicht. Doch heute wollte ich es wissen. Stieg in die Kabine, setzte mich in die Mitte. Bloß nicht über die Türen runtergucken. Beim ersten Anstieg und einer viertel Umdrehung des Rades blieb das Ding stehen, unten stiegen noch Gäste zu. Da waren es schon locker über fünfzehn Höhenmeter, also über meiner bisherigen Schmerzgrenze. Ich starre erst nur nach unten, auf den Boden der Gondel, dann nach vorne, durch das Plexiglas in die Ferne und fühle mich erleichtert, weil man einen herrlichen Blick auf die an die Stadt angrenzenden Weinberge hat. Darüber die blaue Stunde mit teils knallroten Wolken. Hätte ich in dem Moment meine Knipse dabei gehabt, hätte ich alle Höhenangst wohl kurz vergessen gehabt. Bilderbuch-Motiv.
Nach zwei weiteren Komplettrunden ist der Spaß schon wieder vorbei, und ich recke nach dem Aussteigen die Fäuste nach oben. Ich bin stolz auf mich. Habe das Ganze ohne Drehschwindel gut überstanden, habe keine Gedanken daran verschwendet, dass die Gondel vom Gerüst fallen könnte. Fünfzig Meter freier Fall. Platsch. Ende. Auf den letzten Metern vor dem Aufprall noch neidisch zum Free Fall Tower rübergeguckt, der die Vertikalreise auf den letzten Metern abbremst. Bei mir eher nicht. Platsch und Matsch, ungebremst. Nein. Gedanken abschütteln. Nichts war passiert. Nur im Kreis drehen und nach einigen Minuten unten heile wieder aussteigen. Stolz. Mehr die Fahrt genossen statt sie mit gefährlichen Gedanken zur Tortur gemacht. Yes! Nun kann ich nach Dubai und die Wolkenkratzer besteigen. Nein, Quatsch, das wäre wohl zu viel verlangt. Ethan Hunt, übernehmen Sie, ich bleibe erst mal bei meinem Riesenrad.
Was anderes sind wir nicht mehr gefahren. Für mich sind die heftigen Nackenschleudern mittlerweile Gift, für HWS und Mageninhalt. Ich bräuchte mich dann nicht ins Koma saufen, kotzen würde ich auch so. Und billiger. Dazu noch Gefühlsprobleme durch abgeklemmte und durchgeschüttelte Halswirbel. Will ich nicht. Ich hatte schon eine Rindswurst im Brötchen und holländische Pommes mit Indisch Curry vertilgt. Die sollten dort bleiben, wo ich sie genussvoll hingeschluckt hatte. Und ich will jetzt gerade nicht zum Arzt, weil ich mich in blinder Nostalgie Fliehkräften von 6, 7G aussetze. Mein Gott, ich werde alt.
Also versuchte ich mich noch ein bisschen im Schießen. An einem Stand sind die weißen Röhrchen nun länger geworden, und man wird dazu aufgefordert, die vollständig wegzuballern. Wenn man so will: von der Bildfläche zu entfernen, zu pulverisieren. Bei 6 Euro für 8 Schuss eine ziemliche Hürde, früher hatte man nur die halb so langen Röhrchen deutlich treffen müssen und bekam dafür die bunten Plastikblumen. Meiner besseren Hälfte hatte ich so mal einen kleinen Strauß geschossen, doch nun gar nichts. Nur ein Röhrchen halbiert und danach nichts mehr getroffen. Verarsche, wenn man so will, abgesehen von meinen Zieldefiziten.
An einem anderen Stand dann Ballern auf eine Zielscheibe. Auch daran versuchte ich mich, und perforierte mit den ersten Schüssen die Außenbereiche. 5 Ringe, dann mal 6, danach 2. Bis mir mal auffiel, dass ich völlig falsch zielte. Kimme und Korn, da muss man schon richtig reinschauen. Flashbacks in meine Vergangenheit, Truppenübungsplatz und Schützenvereine. Irgendwas mache ich gerade falsch. Aha. Blickwinkel. Anders gucken. Und plötzlich: 10, 20, 30 Punkte... zehn Mal Volltreffer. Als Belohnung gab es ein Foto, eingerahmt in einen billig bedruckten Papprahmen. Egal, das ist heute mein Lebkuchenherz für uns beide.
Die Dunkelheit brach letztlich herein, und sie hatte noch Lust auf eine Waffel. Kirschen und Sahne drauf. Zum Abschluss. Es wurde sehr kühl. Zeit, zu gehen. Wir nahmen neben dem Stand an den Bierbänken Platz, und der Waffelstand ist nie besonders gut besucht. Von den Bierbänken aus kann man ein bisschen den Blick durch die Menge schweifen lassen, und das Gästeaufkommen hatte sich noch mal deutlich nach unserer Ankunft erhöht. Die Schritte werden immer wackeliger, vor uns saßen ein paar junge Hüpfer und blökten sich scheckig im gefühlt zweiten Vollrausch in ihrem Leben an.
„Wieee kamma nuää des pure Zeuch saufe, häää?“
„Altaa, die Korze sinn doch leggäää!“
„Mer sinn in Dääärkem unn du saufsch kään Schorle??“ (Quiekstimme bei Schorle)
„Nääää, geeehd ned in misch!“
Ich grinse. Kenn ich. Damals. Die Nachwuchs-Saufphilosophen sind noch dieselben wie zu meiner Zeit. Und die, die bei Schnaps (Korze) ganz schnell knülle sind. Ich hatte nur ein halbes Dubbeglas Rieslingschorle intus, musste noch fahren. Ließ meinen Blick durch die Menge schweifen und freute mich, dass so viele so unternehmungslustig sind. Egal, ob das nun die Absicht auf Komasaufen heißt oder einfach mal wieder unter Leute gehen. Dazwischen immer wieder Martinshorn. Die haben dort die Ultimativlösung gefunden, die Schnapsleichen aus den Ecken von Zelten und Fahrgeschäften zu fischen – statt sich wie früher durch die Massen zu wurschteln, ohne dass sie die Leute bemerkten, haben sie jetzt einen Rollwagen mit aufmontierter Trage dabei. Im Rollwagen selbst ein selbstgebautes Martinshorn mit Blaulicht. Damit kommen sie viel besser durch die Menschenströme, die auch sofort Platz machen. War mir neu - gibt es das schon länger? Geile Idee.
Zurück zu meinen Gedanken. Die Menschen, die endlich wieder Spaß haben (dürfen). Ich denke schon wieder etwas sorgenvoll an die Zeit ab dem 1. Oktober. Momentan herrscht endlich mal wieder etwas Frohsinn vor, und in diesem Wulst von tausenden Menschen sind mir nur zwei Maskentragende aufgefallen (abgesehen vom Rettungsdienst). Ja, irgendwie ist mir das wichtig zu erwähnen, weil es dann sehr interessant wird, was nach September passieren wird. Die Leute kennen jetzt das alte Normal wieder, und ich hatte nicht den Eindruck, dass sie auch nur einen Gedanken an den Corona-Herbst verschwenden würden. Hauptsache Spaß, endlich wieder leben. Die Sorgen mal kurz vergessen, Höhenängste austesten, sich einen Scheiß um Corona kümmern, fettige Rindswurst und Pommes essen. Auf Twitter ging, als ich abends zuhause das erste Mal wieder seit Mittag aufs Handy starrte, die Party der Grünen durch die Trenddecke – Claudia Roth und Katharina Schulze, also mit die obersten Scharfmacherinnen zu Impfpflicht, Ungeimpftenausschluss und Maskentragen, saßen im Dirndl lappenfrei im VIP-Bereich eines Festzeltes in München und hoben ihre Maß zum Selfie. Die Leute voll wieder im Empörsaft. Lauterbach lässt sie gezwungenermaßen gewähren, aber bitte testen, testen, testen. Tweets zum Facepalmen. Wehe, die wollen uns im Herbst nur einmal die Maske aufschwatzen oder uns vom Schlittenfahren abhalten. Ihr könnt uns mal. Oans, zwoa, Doppelmoral. Söder hingegen ist mir für den Festmoment wieder kurz sympathisch, erwähnt, dass „die Zahlen wahrscheinlich wieder steigen“, winkt aber dabei ab.
Unabhängig von den Sorgen um Energiepreise und Corona-Politik hatten wir einige Stunden kopfbefreiten Spaß, den wir so lange nicht haben konnten.
Und hoffentlich nicht das letzte Mal haben werden.
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