Manchen Tag juckt es mich, einfach aus Interesse und aus Jux und T(r)ollerei, auf Twitter in der Weltverbesserer-Bubble hinüber zu schielen. Manchmal kann ich mir das tatsächlich mal antun, weil man einen guten Tag erwischt hat und weiß, dass einem der Gegenwind ziemlich egal sein wird. Beim „Graslutscher“ kann man das prima tun, oder wie an dem Tag, nachdem die Wahlergebnisse der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Plattform-like aufgearbeitet wurde. Ein bisschen happy war die Links-Bubble schon, dass die FDP so massiv abstürzte und die AfD wieder Stimmen verlor, beide aber leider, leider nicht unter fünf Prozent fielen.
Der eigentliche Anlass für meine Anekdote war schließlich die Linkspartei, und das Geplapper ging wieder in Richtung Wagenknecht und Dagdelem, wegen jenen so manche(r) die Partei nicht wählen würde. Bei einem von ihnen hakte ich mich dann ein und brachte meine Gegenmeinung ins Spiel. Es war offensichtlich, welcher Gruppierung diese Person zuzuordnen ist – die „93“ im Profilnamen war das Geburtsjahr. 28 Jahre alt, wahrscheinlich Student oder nicht lange zuvor Studium abgeschlossen. Ich hatte also einen dieser „Lifestyle-Linken“ am Wickel.
Ich mag jetzt nicht jede Einzelheit ausbreiten, jedenfalls regte er sich tierisch über Sahra und Sevim auf. Seine „Argumente“ waren, wie üblich, auf weniges heruntergebrochen: Schwurbel, rechtsradikal, Putintroll. In einem Tweet. Auf mich wirkte das wie eine Jurybewertung, bei der Juroren die Tafeln mit eben solchen Begriffen hochhielten.
Sahra castet über Corona - „Schwurbel“.
Sahra castet über Flüchtlingspolitik - „rechts“.
Sevim castet über Waffenlieferungen - „Putintroll“.
Es mir also ein Leichtes, ihm direkt den Spiegel vorzuhalten. Sinngemäß setzte ich ihm also meine „Rechtsparanoia-These“ vor, also dass er und seinesgleichen irgendwelchen Nazi-Gespenstern nachjagen, wo keine sind. Reaktion darauf: „Du Clown“ und „ich verschwende doch mit so einem nicht meine Zeit.“, also umgehende Diskursverweigerung, woraufhin ich ihn noch ein wenig piesackte und ihm indirekt die Fähigkeit absprach, ein Linker zu sein. Er wollte mir daraufhin erklären, was links sei. Ja, wirklich. Mir, der schon zu Zeiten mit Punks abhing, als er noch lediglich eine Idee seiner Eltern gewesen war. Und so jemand weiß natürlich, dass Sahra Wagenknecht rechte Parolen schwingen würde, weil die das ja auch so sagen. Da weiß man, wohin das führt, also haute ich ihm noch schnell eine unflätige Bemerkung um die Ohren. Er solle sich mal den Schnuller abgewöhnen, dann erkläre ich ihm mal, was links ist. Ergo: Block.
Unabhängig von dem ewigen Dilemma, dass sich Linke überall in Europa wie von selbst auflösen, ziehe ich mir den Schuh nicht an, als erster rumgehetzt zu haben. Provoziert ja, aber sicherlich nicht persönlich geworden. Es scheint ein Automatismus gegriffen zu haben, statt eines Argumentes gleich die Dumm-Dumm-Geschosse der Gegnerniedermachung abzufeuern. Obwohl... das war noch vergleichsweise harmlos, da liest man zuweilen ganz andere Sachen. Ich denke kurz darüber nach und komme zu folgenden Schlüssen – ganz nüchtern betrachtet und nicht angepisst:
- Er kann gar nicht wissen, wie ich links definiere. Das Akademiker-Links ist ein ganz anderes als das Arbeiter-Links. Wir hatten und haben nie im bolschewistischen Sinne links gedacht, eher als ständigen Kampf darum, die Stellung der Arbeiterklasse nicht schlechter werden zu lassen als uns zustand. Doch leider sind wir durch die neoliberale Durchsetzung von Bildung, Wirtschaft und Gesetzgebung in die Falle geraten, immer näher am Abgrund zu stehen denn relativ sorgenfrei unserem Alltag nachzugehen. Die Macht der Gewerkschaften wurde stark zersetzt, der „american way of life“ lenkt seit einigen Jahren die Geschicke. Und das bedeutet Geld und Macht in Raubtierdimensionen, Zusammenhalt erodierte zunehmend, um die Macht der Eliten zu verfestigen. Ein Problem, das die Akademiker gar nicht betrifft.
- Er ist höchstwahrscheinlich ein Emporkömmling dieser Kaste, die auch nie in dem Maße Gemeinschaftssinn erfuhr wie wir. Heute zeigt sich dies eher durch Zweckgebundenheit denn über reinen Beziehungsaufbau.
- Dass Wokeness als links-akademische Ideologie kein Arbeiter-Links bedeutet, dürfte bekannt sein. Es beschränkt sich auf die individuelle Identität im Allgemeinen, nicht im übergeordneten Sinne einer Sache oder Bevölkerungsgruppe. Der Gemeinsinn definiert sich nur über die Addition der Individuen, am besten etwas Unkonventionelles wie etwa bei der sexuellen Orientierung.
- Ich kenne den Uni-Stoff nicht, der gelehrt wird, aber ich muss davon ausgehen, dass die Arbeiterklasse darin nicht ausreichend behandelt wird. Da man häufig von Kolonialgeschichte und Gender Studies als bevorzugte Lernformate hört, dürften solche Stoffe mehrheitlich oder gar exklusiv im Programm stehen. So kann auch keinerlei Wahrnehmung für unser Arbeiter-Links entstehen.
- Die theoretisierte Nahebringung von links wird allzu häufig über Referenzen von autoritärem Kommunismus (Marxismus-Leninismus) wie dem in der Sowjetunion oder der DDR vermittelt. Ein rotes Tuch in unserer lange konservativ-rechten Staatsform, was letztlich jede linke Strömung als bedrohlich wahrnahm.
- Weiterführend sind die Realitäten ein anderes Abbild einer westlichen Gesellschaft, die man nicht über die Theorie kennengelernt hat. Die arbeitende Klasse wirkt dadurch wie ein Fremdkörper, wahrscheinlich proletenhaft abstoßend, schmutzig, banalisiert. In der gutbürgerlichen Mitte fremdelt man also mit der heimischen, aber ihnen nie wirklich bekannten Gruppe.
- Ihr Denken ist eher global oder zumindest im Staatenverbund verortet. Häufig sind wohlfeile Ideale von Grenzniederreißungen ihre Motivation.
- Das behütete Leben bedingt auch ein hohes Maß an Konfliktscheue. Sie raufen in Kindesjahren weniger als wir das taten und wirken mitunter altklug – natürlich im Sinne der elterlichen Erziehung. Sie schlagen ihre Gefechte also auf der intellektuellen Ebene (und das nicht mal besonders klug).
- Die großen Empörungsstürme, also auch wie oben beschrieben, resultieren für mich aus jahrelang aufgestauter Hemmung und unterdrückter Wut, die sich irgendwann im Erwachsenenalter als Implosion entlädt. Dieser Aggressionsstau schlägt nun wilder um sich als jeder Vollzeitprolet es je könnte.
- Für meine Begriffe ist deren Links nicht dem klassischen Links entsprungen. Dafür ist zu viel Gutbürgertum eingebettet, so dass man nur eine klischeebehaftete Vorstellung westlichen Links-seins bekommt. Spezielle Modelinien sprechen schon eine deutliche Sprache, knallige Haarfarben sind obligatorisch, und entsprechende Accessoires gibt es heute fertig zu kaufen. Zudem verschmolz Punkstyle immer mehr mit anderen Moden wie der der Gothic-Szene, geschweige denn mit dem Mainstream, der den Außenseiterstatus mehr oder weniger karikierte. Das ist teuer und sicher nichts für „Haste ma ne Mark?“-Streetpunks. Daher halte ich den Begriff „Lifestyle-Linke“ für durchaus angebracht.
- Antifa-Linke mögen zwar im Grundsatz immer noch die Gleichen sein, doch im Verbund mit solchen „Lifestyle-Linken“ und der kaum noch streng ziehbaren ideologischen Grenzen innerhalb Links und der Mitte (selbst CDU und FDP machen sich teils damit gemein) werden Positionen geteilt, die nur noch dadurch kennzeichnet, wer für und wer gegen das System aufbegehrt und zu welchem Anlass. „Systemfeinde“ sind nun die „Querdenker“, werden jedoch vom System stark bekämpft. Zum Vergleich: Punks nahm man von staatlicher Seite in meiner Jugend nicht so sehr zur Kenntnis.
Der Vorfall war mir nicht fremd. War niemandem fremd, der sich selbst als Linke(n) sieht und sich plötzlich solch besserwisserischen Akademiker-Linken gegenüber sah. Sie interessieren sich auch nicht für das breitere Spektrum von Links, das von früher und was sie daraus lernen könnten. Im Grunde passen die Schablonen dieses Twitterers zu meinen in der Grundform schon zusammen, aber eben nicht komplett deckungsgleich. Für mich ist dies kein Problem, für sie gereicht aber jede Mini-Abweichung dazu, den Nicht-ganz-so-links-Definierten-wie-sie-selbst zu einem Nazi zu stempeln. Wörtlich hatte er Wagenknecht nicht direkt als solche beschimpft, aber man riecht förmlich, dass er es tun würde, wenn das Narrativ das entsprechend sprachregeln würde.
Schwamm drüber. Der abschließende Block und das vorherige Überreagieren sind dann nur solche Reaktionen, die ein Muster erkennen lassen. Bisher habe ich selbst noch niemanden geblockt, einfach auch deswegen, weil ich nicht in diesem rigorosen Handlungsprinzip verhaftet bin. Klar, es sind „nur“ so viele undifferenziert denkende Menschen da draußen, die im Internet mal das tun können, was sie sich im realen Leben nicht trauen. Diktator spielen. Aber hey – man kann das auch unterhaltsam finden und sich nicht groß darüber aufregen.
Apropos Spielen: Da kommt mir gerne der Querverweise zu modernen Video-Rollenspielen. Mag ich gerne, der Story wegen. Die brüsten sich auch häufig damit, nicht-lineare Geschichten zu erzählen, in denen man moralische Entscheidungen zu treffen hat. Und wenn man darin vor der Wahl steht, eine gute, neutrale oder böse Entscheidung zu treffen, folge ich meinem Herzen und nicht meiner Sensationsgier oder einer angeblich dunklen Seele, die mal virtuell die Sau rauslassen darf. Also wähle ich in der Regel die gute oder neutrale. Wobei solche Multiple-Choice-Momente mir manchmal zu schablonenhaft erscheinen.
Und dass es noch schlichter geht, sieht man aktuell an Sahra, der jetzt der Prügelknabenstatus zukommt. Sie hatte immer schon (das ist aber weithin bekannt) eine neutrale Meinung zur Ukrainekrise und Russland, natürlich interessiert das niemanden, weil sie eben die Baerbock´sche Parole „Russland ruinieren“ nicht nachplappert. Manche sagen ihr einen Lauterbach-Status zu, zu gerne in Talkshows zu hocken, allerdings mit einem Unterschied: Lauterbach darf sich darin wohlfühlen, Wagenknecht hingegen weiß, dass sie mit viel Gegenwind zu kämpfen haben wird. Und wurde bisher nie wirklich ausfällig. Alleine schon deswegen bewundere ich die Frau, die wohl auch gerne mit den von ihr ernannten „Lifestyle-Linken“ ins Gespräch kommen würde. Aber die würden sie ebenso blockieren wie mich, einfach nur, weil wir eine andere Meinung vertreten und in der Sache nicht weiterkommen, wenn so viele da draußen ihre Köpfe auf Durchzug schalten. Und sich dann wundern, dass sich Russland eben nicht in den Ruin treiben lässt und wir jetzt den Mist ausbaden müssen.
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Publicviewer (Samstag, 21 Mai 2022 23:00)
Guter Bericht.
Man sollte aber nicht vergessen, dass die Wagenknecht ebenfalls immer nur mit gebremsten Schaum renbelliert.
Das sie bpws. forderte, das alle sich testen lassen sollen( von wegen "Gleichbehandlung" und dgl. ohne zu bemerken, dass ein PCR-Test keine Infektion feststellen kann oder gar jemals wirklich etwas gegen die Impfung verlautbart hatte, als es eben angesagt gewesen wäre.
Sascha (Sonntag, 22 Mai 2022 06:18)
@publicviewer
Als Politiker/Prominenz sollte man auch das Feingefühl haben, um auszuloten, was im Mainstream sagbar ist und was nicht. Bestes Beispiel war doch ihr Ungeimpftenstatus, danach bekam sie Corona, und erst ab da war Ruhe im Karton. Würde sie sich jetzt als Totalimpfgegnerin hinstellen, wäre sie weg von Fenster, aber so kann man immer noch das Prinzip Eigenverantwortung der anderen bauchpinseln und ihnen die Heuchelei wortlos vorsetzen. Im Grunde passiert in der Presse jetzt auch erst das Zweifeln zum Ukrainekrieg - das Vorpreschen mit Solidarität und so zersetzt sich jetzt. Und schon hat Wagenknecht wieder mehr Lobby, egal was die Twitterdeppen behaupten.
Lautenist (Sonntag, 22 Mai 2022 10:00)
Bravo! Eine sehr gute Analyse (nicht nur) der Linken und woken Diskussionskultur - oder genauer deren Verweigerung, die in einer Diskussion auf Sieg anstelle von Problemlösung oder Ideenaustausch setzt.
epikur (Sonntag, 22 Mai 2022 16:16)
Ja, "links" zu definieren ist kaum mehr möglich.
Ich halte es nach wie vor so (banal ausgedrückt), dass Linke sich vor allem für die Schwächeren (Arme, Obdachlose, Rechtlose etc.) einsetzen und die Rechten auf die Schwächeren einprügeln, um ihre Interessen durchzusetzen.
Deshalb konnten in der Geschichte Regierungen und Konzerne mit Rechten immer mehr anfangen als mit Linken. Regierungen und Konzerne haben Rechte überall für ihre Zwecke benutzt. Seien es rechte Milizen/Todesschwadronen in Lateinamerika (Kolumbien). Nazis in deutschen Geheimdiensten (NSU). Oder rechte Mörderbanden, die Gewerkschafter und Menschenrechtler umbringen (Indonesien). Auch Asow-Regiment in der Ukraine ist natürlich eine Splittergruppe linker Marxisten...
Publicviewer (Sonntag, 22 Mai 2022 17:46)
@ Epikur
Du hast den Kampf gegen die Religionen und den Kapitalismus/Imperialismus vergessen.
Betriebe in Genossenschaften umgewandelt und die Gesundheitsversorgung und Infrastruktur kostenlos für alle Bürger sein.
Das waren in aller Kürze die Grundpfeiler linker Ideale auf die wir uns damals mit allen verschiedenen linken Fraktionen geeinigt hatten.