Fühlen Sie sich in letzter Zeit auch so eng um die Halsregion? So, als ob Ihnen jemand ein Halsband angelegt hätte, wie bei einem Hund, dem man die Leine jederzeit anlegen könnte, damit Sie bei Fuß laufen und keine Mitmenschen anfallen? Ich jedenfalls fühle mich allmählich so, und auch, wenn sich das Staatsgefüge auf dem Papier nicht sonderlich verändert hat, hat sich das gesellschaftliche Miteinander entsprechend verändert.
Es geht um die Definition und dem Ausleben der Freiheit, und wie sich dies gerade bedenklich umdeutet. Die Jahre der Dekadenz scheinen zu enden, in der man Freiheit so weit strapazieren konnte, dass sie der Anarchie – wenn man den Mahnern und Katastrophenverkündern glauben soll - bedenklich nahe kam. Das Internet beschleunigte dieses Prozess und die Bedenken darüber auffällig schnell; der virtuelle Raum war bisher keiner der Warnungen und Einhegungen, sondern die Plattform der Möglichkeiten und Grenzenlosigkeit. Wie weit kann man gehen? Wie viel Dreistigkeit kann man sich erlauben? Wer Grenzen setzt, ist ein Miesmacher.
Wenn man versucht, es neutral einzuzäunen, gab es bisher kaum Tabus, die man sich selbst zog. Das Internet und seine vorherrschenden Bereitsteller von Portalen, um dieses Freiheitsbedürfnis auch zu befriedigen, hatten bis vor kurzem keine nennenswerten Grenzen definiert und bewegten sich selbst in den Grauzonen des Sagbaren, indem sie selbst jenen eine kaum einzudämmende Plattform boten, die man in der realen Welt bisher stummschalten oder gar – basierend auf der jeweiligen Gesetzgebung – sanktionieren konnte. So fiel es etwa Rechtsradikalen leicht, sich unter der Oberfläche der Wahrnehmung des Normalbürgers zu vernetzen, was wiederum die Aufklärungsarbeit des Staatsschutzes erschwerte. Und wenn es keine Rechtsradikalen waren, setzten sich auch die Normalbürger einen eigenen Rahmen, der nicht oder viel weniger einer gruppendynamischen Verhaltensregelung unterliegt. Ob das immer so angebracht war – darüber müssen wir heute noch reden.
Das Internet ist nichts anderes als der persönliche Schonbezug für die eigenen Befindlichkeiten gegenüber den Mitmenschen oder starren Regelungen. Dieser Filter ermöglicht vieles, und es kommt nicht von ungefähr, dass wir nun unter Stichworten wie „Hass“ und „Hetze“ unsere persönlichen Grenzüberschreitungen definieren müssen. Solche Worte sind harte Worte, und wir wissen heute nur zu gut, dass differenziertere Begriffe kaum Wirkung entfalten.
Doch sind, wie erwähnt, diese quasi-dekadenten Jahre vorbei. Die staatlichen Institutionen scheinen genug der Entkoppelung der Freiheit aus ihrem Einflussbereich zu haben, da das Internet häufiger als sonst Spielwiese für pathologische Quertreiber und Vogelfreie ausgemacht worden war. Der Staat musste also Google, Facebook und Co. in die Verantwortung ziehen, und sei es nur als eben jener stumme Bereitsteller für die Auslebung dunkler Fantasien vereinzelter Abweichler, die sich etwa kannibalistischen Gelüsten hingeben oder ihre menschenfeindlichen Manifeste unwidersprochen in die Welt posaunen können. Dies ist, um der Realität Vorschub zu leisten, eine Abstrahierung des Freiheitsbegriffes. Wenn sich etwa zwei Kannibalismusfans selbst aufessen WOLLEN – wer wollte es ihnen mit Bezug auf dem Recht auf Eigenverantwortung verbieten außer die Angehörigen, die vielleicht unwissend mit solchen Tabus konfrontiert werden? Ein grenzwertiges Thema, durchaus, aber rein rechtlich betrachtet uneindeutig.
Hass und Hetze und Mordaufrufe an öffentlichen Personen sind allerdings ein anderes Kaliber, weil freie Entscheidungen hierin keine Rolle spielen. Und trotzdem sind Kontext und Hintergründe immer noch ein hohes Gut, dem man sich in der Eindämmung dieser absolutistischen Dekadenz nicht verschließen sollte. Auch wenn aktuell eine Form von milder Massenpsychose wie etwa der Extremisierung von narzisstischen Persönlichkeitsbildern den virtuellen Raum dominiert und somit auch die Realität beeinflusst, herrscht auch eine Gegensteuerung vor, die mehr zum Verzicht dieser Scheinfreiheiten aufrufen wollte. Durchaus angebracht, jedoch auch schnell ins Gegenteil kippend.
So verlassen wir gerade den Raum der Appelle, der Aufklärung. Und sehen uns genötigt, mit Zwängen und Spitzfindigkeiten einen freiheitlichen Rahmen zu ziehen, dem sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung nicht unterordnen mag, weil er zu eng gezurrt wird. Synchron zu den dringlichen Themen, die der Zeitgeist formte, wird dieser Freiheitsgedanke bedenklich umgekehrt – nun debattieren wir mehr oder weniger über Freiheit, die man sich erst verdienen müsse und übergehen somit sogar demokratische Prinzipien, obwohl uns auch unkorrektes Verhalten bis zu einem gewissen Grad erlaubt ist und es legitim wäre, dies bei der Konsensfindung zu berücksichtigen. Der Staat macht sich diese Bedürfnisse nach Verzicht und Regelsetzung sogar zu eigen, nach dem Jahren des Kontrollverlustes, der die Flucht des Bürgers in den virtuellen Raum automatisch bedingte. Erst noch als Begleiter der selbstverwalteten Regelsüchtigen, nun als adaptierender Nachzügler, sich auch sogleich als neue Obrigkeit gerierend.
Die virtuelle Bürgerwehr gegen einen drohenden Rechtsruck hat also ganze Arbeit geleistet und an den wichtigen Schaltstellen ihre Sitten- und Moralwächter aufgestellt, als noch der Staat lange Zeit die Triebe des Neulands nicht verstand und selbst als Sonderling die Autonomieverwaltung des Bürgers bestaunte. Er lieferte dieser wohlfeilen Form der Autonomie via Gesetz und öffentliche Floskeln nun die Erlaubnis. Es mussten „nur“ noch die Milliarden-Multis eingehegt werden, die sich bisher etwas mundfaul gaben, wenn es um Meinungsfreiheit und strafbare Inhalte ging. Durch ihre machtvolle Reichweite standen sie auch in der Verantwortung für Hasskriminalität bis hin zu Mordanschlägen, und wenn sie Absprachen zu Gewalttaten ohne Intervention zuließen, war der Vorwurf der Verantwortungslosigkeit nicht fern.
Dies hat sich massiv gewandelt. Zwar fungieren sie nur als Moderator im zwischenmenschlichen Bereich, verfolgen heute jedoch auch die Durchführung bestimmter Agenden globalen Ausmaßes. Für viele, die ähnlich kritisch denken wie ich, ist das kein neuartiges Gebaren, in seiner sprunghaft angestiegenen Intensität allerdings schon. Die ersten Aha-Momente mochten erst mit Corona und einem offenkundig impffreundlichen Narrativ aufgeploppt sein, doch kam die Gewissheit erst durch den plötzlichen Kriegseinsatz Putins gegenüber der Ukraine. Plötzlich entscheiden nun auch die Techriesen darüber, welche Definition über Hass, Hetze und „Falsch“informationen zu lauten hat. Youtube sperrt weder die Leitmedien noch deren Fürsprecher bzw. Nachsager, sondern jeden, der die vorgegebene Marschrichtung anzweifelt oder auch nur relativierende Argumente vorbringt.
Es bleibt indes intransparent, ob die Zensierenden stur nach Drehbuch oder gar selbst aus Überzeugung handeln. Vermutlich ist an beidem etwas dran. Die Gestaltung des NetzDG in Deutschland erfuhr erst mit dem Ukrainekonflikt eine Rigorosität ungeahnten Ausmaßes, was sich zuvor in Teilen schon mit Corona abzeichnete. Vieles der Kritik zeigt vor allem Wirkung, wenn sie wie mit Signalfarbe als „rechts“ markiert wird – scheinbar nur der Wunsch jener, die Meinungen nicht mehr sehen und hören zu wollen, die nicht ihrer eigenen entspricht. Und die eventuell von den Löschern aufgrund dieser Markierung ins Visier genommen wird. Es ist anzunehmen, dass weder der Staat noch die Zensurunternehmen genau wissen, wen sie da zum Abschuss freigeben – die Sittenwächter im Hintergrund allerdings schon, die etwa Wikipedia oder auch Twitter eisern als „ihre“ Plattformen betrachten. Dabei wird die Doppelmoral das Zünglein an der Waage, denn wird eine gleichwertige Hassrede unter verschiedenen Ideologien unterschiedlich behandelt.
Es scheint also egal, ob kritische Stimmen tatsächlich eine politisch rechte Ideologie transportieren wollen oder nicht. Schon die Etikettierung als „rechts“ ist ein effektives Mittel geworden, jeden Kritiker und Hinterfrager von der Bühne zu verbannen. Sie definieren es dabei als „Erhalt der Freiheit“. Doch als letztens Alt-Bundespräsident Gauck bei Maischberger den Freiheitsbegriff an eben jene Verzichtsparole („...Frieren für die Freiheit...“) knüpfte, schien schon vorher bei jenen Konsternierten die Frage im Raum zu stehen, ob und warum nun eine Rhetorik dominiert, die dem chinesischen Unrechtsstaat in nichts nachsteht. Hier labelt man Putin zum lange aufgebauten Aggressor, und dort wird China mehr oder weniger als Vorbild gebraucht, obwohl man irgendwie auch Probleme mit deren Verständnis von Menschenrechten und dem Staatssystem hat. Absurderweise wird die angesprochene Dekadenz in dem Punkt auch noch zum Brennglaseffekt in der Ungleichbehandlung vor demokratischem Recht und Gesetz.
Die Unverschämtheit und Widersprüchlichkeit, die sich in den Entscheidungsprozessen in den letzten Jahren durchgesetzt hat, ist nun zu einer Zäsur in dieser zweifelhaften Entwicklung geworden, in der das Herrchen seinem Hund nur die Leine abnimmt, wenn er keine Gefahr für andere Mitmenschen mehr sieht. Doch dass ein Hund, der als potentiell gefährlich gilt, auch das Spiegelbild des Verhaltens seines Herr(is)chen ist, müsste eigentlich jedem klar sein.
Nein, stattdessen klopft man dem Halter auch noch auf die Schulter, wie gut er doch sein Tier erzogen hat.
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