Haltung zeigen. Überall. Jederzeit. Nachdem sich Putin doch entschlossen hat, anzugreifen, werden nicht nur die Ukrainer mit Raketen bombardiert, sondern wir hier mit allerlei Haltung. Haltung hier, Haltung dort. Der Westen gefällt sich darin, Haltung zu zeigen. Es ist momentan wie im besten Motivationsseminar, und der Coach, der auf der Bühne seine fünfzehn Minuten auskostet, ist an dem Punkt in seiner Rede angekommen, wo er bedächtig tut. Hebt den Finger, die Stimme wird leiser: „Nehmen Sie Haltung an. Denn nur Haltung macht Sie glücklich. Haltung ist das einzig Richtige.“
Und der Westen macht mit. Brust raus, Bauch rein, aufrecht stehen. Dastehen, als könne sie kein Orkan der Welt von der Stelle bewegen. Nur leider mit dem Unterschied, dass es nicht überzeugt. Es klingt mitunter wie schlechtes, autogenes Training, das man anderen aufbrummt, weil man zuvor zu hysterisch geworden war und die Umwelt verrückt gemacht hatte. Mit tausenden Menschen am Alexanderplatz zu stehen und Haltung zu zeigen ist natürlich kein Anlass, diese Haltung in der Sache in Frage zu stellen. Aber wie so häufig in letzter Zeit zu beobachten ist die Heuchelei ein Mitwesen des Haltung-zeigens – mir reichte nur ein Foto, daran wieder erinnert zu werden.
Karl Lauterbach war es mal wieder, der seinem Opportunismus freien Lauf ließ. Erst redete er die Ukrainekrise klein und erkor Klima und Corona zu den schlimmeren Krisen, keine 24 Stunden danach selfie-te er sich unter eben jenen Tausenden, um seine Haltung in blau-gelb zu demonstrieren. Gerade das, was ihm wieder hilft, im Gespräch zu bleiben. Noch mal angemerkt: Er hatte Großdemos als Superspreaderevent gelabelt, nun stand er selbst in einem. Für die Haltung weicht wohl sogar Corona den Hotspots, damit das Karlchen sich solidarisieren kann.
Das mit der Haltung wird allmählich überstrapaziert. Ständig wird man zur Haltung genötigt. Und häufig zerquetscht man damit die Grautöne unter der Last des Haltungsdrucks – sei dafür oder dagegen. Aber eigentlich dürfen Sie nur dafür sein. Für deren Meinung. Alles andere ist der ultimative Freibrief zur Ausgrenzung. Kennen Sie? Ja, klar, da war (bzw. ist noch) was. Ungeimpfte. Müssen draußen bleiben, wo man sie nicht sehen will. Das verstummt gerade unter der Putin´schen Kriegs“lust“. Nun kann man Russen gegenüber prima seine Haltung zeigen, indem man sie ausgrenzt. Und das diesmal nicht, weil sie sich kein Therapeutikum spritzen ließen, sondern weil sie Russen sind. Das heißt für mich, dass der letzte Puffer der relativierenden Moral nicht mehr zum Abwiegeln taugt, wenn man mal wieder die Vergleiche unserer Geschichte bemühen müsste. Wer jetzt, als Reaktion auf den Krieg, Russen pauschal boykottiert und nicht mehr im Freundeskreis/Betrieb sehen will, hat nun den puren Judenvergleich an der Backe. Ohne Wenn und Aber.
Richtig interessant wird es, dass solcher Aktionismus vorrangig bei der Rotpunkt- und Boosterfraktion zu beobachten ist. Sei es direkt auf die Russen gemünzt, oder auf alle, die auch nur daran denken, Putin und Biden gleichermaßen mit Teufelshörnern zu bekritzeln. Wieder sind wir in der Gut-Böse-Blase drin, der westliche Empörium setzt zum nächsten Kreuzzug an. Und wieder wird die gesellschaftliche Teilhabe an eine Haltung gekoppelt. Da reimt sich wieder vieles in historischer Hinsicht, und es ist die nächste Stufe der Aussonderung von unliebigen Meinungen und dem Druck der Anpassung.
Warum ich mich dieser Haltung nicht anschließen will, fragen dann die Empörten, wenn sie es überhaupt wissen wollen? Das ist ein wenig komplizierter als sich emotional berührt in eine Haltung zu stürzen. Das wandelt sich ganz schnell zur Heuchelei, etwa wenn man das Kinderleiden dafür instrumentalisiert, aber sich einen Dreck um die in Afrika oder im eigenen Land zu scheren. Die EU allen voran, nachdem sie rotzfrech russische Medien verbat. Das impliziert immer, der Westen würde immer korrekt berichten, was nachweislich öfter denn selten nicht der Fall ist. Also bringt mich so etwas immer dazu, auch von einer pauschal westhörigen Haltung Abstand zu nehmen. Mein persönliches Wertegerüst verbietet es mir, Putin nun alleine zum Bösen zu stempeln, ohne die Gräuel der USA (respektive NATO) zu erwähnen oder die Heuchelei der EU zu entlarven. Und wer unsere Werte so hoch hält und trotzdem andere Medien verbietet, hat ein Demokratieverständnis wie Russland vor ´89.
Karl Lauterbach und Opportunismus – so allmählich grassiert das Virus nun auch völlig unter dem staatshörigen Teil der Bevölkerung. Letzte Woche wunderte ich mich dazu noch stark darüber, wie sehr die Rotpunktfraktion ihre Scheuklappen festgezurrt hatten, als sie sich sehr schnell mit der Ukraine solidarisierte. Es scheint aber normal geworden zu sein, dass man völlig geschichtsvergessen die Launen des Augenblicks aufgreift, ohne sich auch nur Gedanken darüber zu machen, warum manche nicht auf den Zug mit aufspringen. So wie ich. Und mein Grund lautet: die Ukraine ist deutlicher von Rechten unterwandert, als so manchem Volksverpetzer gerade bewusst zu sein scheint. Der offenkundige Opportunismus eines Lauterbach, auch des Volksverpetzer-Kollektivs, führt dazu, zweierlei Maß anzuwenden – bei uns ist jeder Nazi zu viel, in der Ukraine will man davon ob der neuen Situation nichts hören. Dazu taugt die Ukrainekrise ebenso. Mir soll noch ein einziges Mal jemand sagen, dass man nicht mit Rechten nicht spazieren bzw. demonstrieren gehen soll. Jetzt kann ich ihnen, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, postwendend ihre Demos um die Ohren hauen, wenn auch nur einer, der sich für das Asow Regiment ausspricht oder dies unter den Teppich kehren will, auf ihren Versammlungen zu finden ist.
Haltung hin oder her. Das sind nur ein paar Brocken, die deren Haltung als Haltungsschaden kennzeichnen. Zu viele stehen windschief in einer steifen Brise und denken, sie hätten die Moral für sich gepachtet. Also sieht man die Minderheit, die nicht im gleichen Neigungswinkel Haltung zeigen, als falsch an. Die Berliner Faktenverchecker machen sich mindestens zu Relativierern des ukrainischen Rechtsrucks. Damit ist es wohl amtlich: die Antifa unterstützt oder duldet Nazis. Behaupte ich jetzt einfach mal so. Weil sie in ihrer Rage das Denken abgestellt haben, würden sie auch noch jubelnd den totalen Krieg fordern, nur um Putin öffentlich zu vierteilen.
Es ist fast schon zynisch, wenn man sich dafür bedanken muss, dass sie nicht noch über Ungeimpften eine Atombombe fallen lassen würden. Momentan tut es ja der Boykott als Ersatzbefriedigung. Wodka aus den Regalen zu verbannen trifft eigentlich nur hiesige Feinkostläden, vorzugsweise russische – Wodka Gorbatschow ist ein schon lange eingedeutsches Produkt, abgefüllt bei Henkell in Wiesbaden, gleich neben guten, westlichen Sekt- und Weinmarken. Dieser Boykott hätte vielleicht damals, im Sammelsurium von Nationalstaaten, noch effektiv sein können, aber in einer globalisierten Welt, in der sich der Westen sowieso alle möglichen Marken einverleibt, nimmt man auch in Kauf, hierzulande Arbeitsplätze vernichten zu können. Und das nur, weil die in Rage Geratenen alles Russische nun offen canceln, verbieten, säub... ach, lassen wir das. Sie merken es nicht.
Ähnlich wie beim C-Thema wird sich über Kollateralschäden keine Gedanken gemacht. Und ähnlich rigoros wird sofort abgesteckt, was man zu sagen und zu denken hat. Das lässt sich in vielerlei Hinsicht wieder ablesen, dass der Konflikt von jenen völlig undifferenziert aufgegriffen wird, die zuvor Solidarität für die vulnerablen Gruppen einforderten und jetzt schon für eine Impfpflicht trommeln, die doch eigentlich nicht kommen sollte. Sie reden von Frieden, haben aber kein Problem damit, die russische Bevölkerung mit ihren Boykotten zu überziehen, egal wie die zu Putin stehen mögen. Wer zufällig auf der falschen Seite des Grenzzauns steht, hat halt Pech gehabt. Das fing schon Jahre zuvor an, bei den Flüchtlingen, bei Corona, jetzt bei der Ukraine. Und wie immer sind die ersten Opfer das rationale Denken und die Wahrheit, wo subjektive Moral und Identifikation über alles andere befindet.
Es ist fast, als hätten sie, gezwungenermaßen, wegen Corona, die bisher vor sich hingeköchelnde Ukrainekrise auf Eis legen müssen, und als dann ein einzelnes Satellitenbild für einschneidende Schlagzeilen sorgte, kann man fast behaupten, dass Corona seinen Schrecken verloren hat und man den nächsten Aufhänger brauchte, um die Leute bei Laune zu halten. Wie könnte man das besser erreichen als mit einer Thematik, die noch lange kein Ende gefunden hatte? Und schon wieder gewinnt man den Eindruck, dass sich mit dem Narrativ Dinge verselbstständigen, weil die Meute brav drauf anspringt. Man kann nicht mit dem Finger auf andere zeigen und sich moralisch davon reinwaschen, wenn man sich auf die Seite derer schlägt, die ebenfalls Dreck am Stecken haben. Und das ist, nüchtern betrachtet, viel mehr Dreck. Man braucht es nur wieder von der neutralen Seite aus zu betrachten – wo sind die USA wieder überall eingefallen? Ist das zu unterstützen? Haben wir da auch alles gecancelt, was aus den USA kommt? Ist die USA tatsächlich das Maß aller Dinge, was Politik, gesellschaftliches Leben und Werte betrifft?
Und die Medien fungieren dabei wieder als Stichwortgeber. Den Oberhammer spendieren dabei erwartungsgemäß die Springer-Medien, die schon zuvor mit die ersten waren, die am liebsten gestern Russland in die Steinzeit bomben wollten. So jetzt auch wieder Mathias Döpfner. Und dieses Mal sind sie sich erstaunlich einig mit anderen Verlagshäusern, etwa dem Spiegel. Und hier wird es interessant: Der Spiegel war es doch, der mit seinem „Stoppt Putin jetzt!“-Titelbild für harte Kritik gesorgt hatte. Auch beim Spiegel passierte es, dass wegen Relotius zu einer Lesergesprächsrunde geladen wurde, wo ehemalige Leser ihre Kritik äußerten. Die ihr Abo wegen der damaligen Kriegshetze gekündigt hatten.
Heute hingegen würde man das Magazin wahrscheinlich dafür feiern. Wie sich Zeiten ändern. Bester Opportunismus, der nun voll aufgeht. Aber in diesen Zeiten hat man es wohl geschafft, die Mehrheit der Bevölkerung für das einzuspannen, was man sich in den Redaktionsfluren so insgeheim zu wünschen scheint. Der Spiegel ist mit Corona jedenfalls gescheitert – wie oft das Blatt versucht hatte, Streeck und andere Virologen außer Drosten und Co. in die Kategorie „Idiot“ zu schieben, brauchen wir nicht mehr zu erwähnen; heute sieht die Sachlage immerhin anders aus. Nun also wieder die Ukraine und Putin. Nun können sich BILD und Spiegel die Hand reichen - dort, wo die Haltung zu Putin in dieselbe Windrichtung zeigt. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis sie unisono zum Angriffskrieg blasen. Dann werde ich wieder Haltung zeigen, und die ist nicht windschief. Denn wer wirklich für Frieden ist, sollte vorsichtig sein, ob man mit Boykotts, Bücherverboten und Kriegsgeschrei sich nicht mit jenen gemein macht, die Leid über jeden Menschenbürger bringen, egal ob das Amis, Russen, Deutsche oder Ukrainer sind.
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epikur (Montag, 07 März 2022 01:12)
Das ultimative Böse ist dann: "der ungeimpfte Russe".