Wissen Sie schon, welche Partei Sie wählen?
Bis zum heutigen Tag war ich mir selbst nicht sicher gewesen, man hadert mit allen Entscheidungen, denn man hat nur die beiden Kreuze, die gefühlt so viel bewegen wie eine Ameise, die einen Panzer anschieben will. Als dann schon mal pro forma in irgendeiner Quizsendung erste Hochrechnungen, drei Tage vor der ersten Hochrechnung, abgebildet waren, denkt man sich irgendwas zwischen Verarscht-sein und schelmischem Grinsen aus. Was das sollte (Testlauf für Sonntag? Betrug?), trägt wohl eher zur Verwirrung denn zu neutraler Auffassung des Wahlgeschehens bei.
Ich denke mir allerdings: Was soll´s...
Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, habe ich kaum Nachteile von der Politik der letzten anderthalb Jahre erfahren. Ich konnte meiner Arbeit nachgehen (systemrelevant!... was auch immer das bedeutet...), ich hatte das Privileg, eine meiner Wunschträume vollendet zu sehen. Die Menschen zogen sich zurück, vergruben sich in ihren Häusern, mieden mich, weil ich wie alle anderen der Viren-Antichrist war. Und noch vor der Krise musste ich mir eingestehen, dass ich eine Aversion gegen Menschenmassen entwickelt hatte. Die waren plötzlich sehr ausgedünnt, in der Flaniermeile, beim Einkaufen, in Parks oder gar an beliebten Ausflugszielen. Erst gestern wurde mir das wieder bewusst, als wir in den Weinbergen erlebten, dass die Menschen bei Bilderbuchwetter gerne wieder draußen saßen, ihre Weinschorle tranken, lustig drauf und laut waren.
Die Aversion kochte wieder in mir hoch. Zu viele Menschen und zu viel Verkehr, der in Teilen die Wanderung mit einer rauschenden Dauertonkulisse durchsetzte. Dazu das Gekreische von Gruppen, die die Pfälzer Lebensart dadurch auffrischten, sich in einen offenen Anhänger mit Plane zu setzen, der von einem kernsanierten Oldtimer-Trecker gezogen wurde und schon massiv angesäuselt die Landschaft mit ihrem Quieken und Kreischen beglückten. Sie schienen es zu genießen, auf mich wirkten sie irgendwie bemitleidenswert. Gucken Sie nicht so – ich halte eben nicht so viel davon, dass man auf diese Eventindustrie zurückgreifen muss, um Spaß zu erleben.
Nicht, dass ich es ihnen nicht gönnen würde, wieder Spaß zu haben. Aber ich war froh, etwas abseits am Waldrand auf einer Holzbank zu sitzen und der Trubel weit weg und kaum zu hören war. Andere gönnten sich einen geführten Spaziergang mit Weinglas to go, und du weißt: wenn die abends die Runde durch haben und sich dem Wesentlichen, also sich durch alle ihnen vorgesetzte Weinsorten durchzuackern (was quasi der Kern des Anliegens solcher Führungen ist) zugewandt haben, sind sie schnell knülle und fallen schnell ins Bett. Oder wahlweise in den nächsten Busch, der ihnen beim Schlangenlauf im Wege steht.
Es gibt ja noch andere. Die, die dich wirklich gerne grüßen, wenn sie an dir vorbei spazieren. Die dich wissen lassen: du bist nicht allein, weder in dem, was du tust, noch in dem, was du über die denkst, welche da gerade im Trecker sitzen und im Rausch die Gegend vollblöken. Solche haben sich auch schnell in alle Winde verteilt, bleiben von den Saufzentren weg und wandern dort hin, wo die Ruhe noch blühen darf.
In Deutschland hast du diese Ruhe zu selten. Man wird sowieso in aller Vielfalt eingehegt, und der Freiheit sind im Prinzip schon Grenzen gesetzt, die du nur mit minutiöser Planung und lokaler Kenntnis zumindest teilweise ausleben kannst. Die Unterschiede wurden mir gerade gestern wieder bewusst, da wir uns gerne in die Weinberge verziehen, um dem Stadttumult zu entkommen. Selbst in den bei uns angrenzenden Riedebenen ist an solchen Tagen viel los, kaum ein Unterschied zum Schlendern durch Fußgängerzonen. Jetzt, wieder. Die Pandemie scheint in den Köpfen der Maßnahmenabnehmer und Geimpften nun vom Tisch. Sie strömen wieder ins Freie, scheren sich kaum bis gar nicht mehr um Regeln oder übertriebene Vorsicht, die sie zuvor so akribisch bis übermotiviert eingehalten hatten. Nun wird es wieder schwieriger werden, uns an Orte zu verdrücken, wo bei schönem Wetter die Massen nicht ihr Seelenheil in einem Spaziergang oder Sauftouren suchen. Die Masse, die sich zuvor so vorbildlich ins eigene Heim verzogen hatte, sammelt sich nun wieder draußen, die Strömungen werden nun wieder zu der Masse, die sie einst gewesen war.
Es wird also wie immer sein. Meine insgeheime Hoffnung, alle würden sich an die Selbstisolation gewöhnen und wegbleiben, wird sich natürlich nicht erfüllen. Das lässt sich auch prima auf die Wahl übertragen – Träume sind Schäume. Ich wäre wirklich für einen Systemwechsel. Weg mit dem alten Filz, egal ob schwarz, grün oder rot. Selbst blau hat sich von den Annehmlichkeiten des Politikbetriebes anstecken lassen. Für mich sind die sowieso ein No-go. Man sagt, sie wären momentan die einzige, richtige Oppositionspartei, und wenn man ihnen den Status so weit zugesteht, dann wäre ich verrückt, es auch noch in Zement zu gießen. Ich hatte mich zuvor nur auf eines festgelegt: ich werde eine der Sonstigen wählen. So viel Wahlempfehlung will ich noch öffentlich geben.
Auch hier galt das Ausschussverfahren, wie bei der Planung der Wanderlocation. Es dient lediglich dazu, innere Ruhe zu finden. Etwas, das man mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Etwas, das sich mit deinen eigenen Interessen deckt. Und wenn es nur der Checklisten-Effekt ist, der nach der Wahl nichts mehr wert sein wird, entweder verpufft oder im Konsens verwässert. Es tut dann nichts mehr zu Sache, aber kann man sich leicht damit herausreden, dass die Mehrheit diesen Filz nicht loswerden will und man sich selbst von schönen Worten hat vereinnahmen lassen. Was hinten raus kommt, wenn die Koalitionen geschmiedet und die Verträge aufgesetzt sind, hat dann aller Erfahrung nach nichts mehr mit den blumigen Ankündigungen zu tun, die mir nutzen würden. Da wir uns jedoch nur noch im Kreis bewegen und unseren Gewohnheiten beim Kreuzchen-setzen Vorschub leisten, will ich wenigstens so aus diesem Kreis ausbrechen, indem ich meine Stimme einer Minipartei gebe. Irgendeiner Partei, die unbedarft ist, vielleicht noch idealistisch oder einfach nur ein Worthülsen-Gegenentwurf zu den etablierten, mit der Macht verwachsenen Altparteien markiert. Das ist noch der Rest an Idealismus, dem ich mich zugehörig fühle.
Man weiß, dass es keinen Sinn hat, aber man will sich nicht als Nichtwähler oder emotional aufgeladener Wähler der Extreme zuwenden oder sie gewähren lassen. Als politisch Heimatloser kann man sich dazu von den Selbstzwängen befreien, den alten Zeiten nachzutrauern, in denen ich fast schon ohne nachzudenken mein Kreuz bei der Partei setzte, die mich laut Parteibuch repräsentierte. Dies ist heute nichts mehr wert, da können sich die Laschets und Scholzes und Baerbocks noch so oft in Trielle setzen und ihre Parteifassaden in die Kamera spucken. Es interessiert mich nicht mehr. Grün ist nicht mehr grün, schwarz ist nicht mehr schwarz, rot ist nicht mehr rot. Von mir aus können sie sich anmalen, wie sie wollen – sie sind nicht mehr das, für was sie mal standen.
Wenn die da oben sich in ihrer Flexibilität und dem Machtanspruch so sehr dem politischen Gegner angleichen, kann ich auch flexibel sein. Das ist wohl mehr oder weniger deren Kalkül, das sie dem Wähler zuzuordnen scheinen, sie rechnen mit unserer Berechenbarkeit und Loyalität. Immer noch. Die Rechnung hatte man ihnen schon vor vier Jahren präsentiert, als man sich über das Wahlergebnis der AfD schockiert zeigte. Gewundert haben dürfte es indes niemanden, nachdem die Flüchtlingsdebatte hochgekocht war und die offene-Scheunentor-Politik die Gemüter spaltete. Was wir seitdem haben, ist ein völliges Auseinanderdriften, genährt durch Fehleinschätzungen und teils ideologisch geschwängertem Blödsinn, gefüttert von Hasttagkampagnen und überstürzter Emotionalität. Die Parteien haben sich in der Mehrheit davon anstecken lassen und wollen natürlich nur eines: die Geschichte nicht wiederholen. Und wählen dabei Mittel, die drohen, die Geschichte zu wiederholen.
Und ich? Ich halte mich da raus. Ich habe zwar eine Meinung, aber irgendwem, ob links, ob rechts, gefällt das nicht. Warum sollte ich dann noch versuchen, mich zu erklären? Es bedeutet nur Stress, und den kann ich gerade am wenigsten gebrauchen. Die Krise, auch andere Krisen (persönlich wie politisch), haben mich viel Substanz gekostet, und bevor ich mich völlig kirre machen lasse, trete ich aus dem Scheinwerferlicht heraus. In dieser Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit kocht man lieber sein eigenes Süppchen. Wenn man sich in einer Firma nicht mehr wohlfühlt, sollte man kündigen. Was ich hiermit getan habe und auch weiterhin tun sollte. Und wenn das bedeutet, einem Söldnertum zu verfallen und keine „corporate identity“ mehr zu entwickeln. Ich habe schlicht die Nase voll von Gruppenzwängen und Schuldfragen. Ich kenne mich selbst am besten und brauche dafür keine Deppen, die meinen, meine Persönlichkeit durch ihre eigenen Hirngespinste als „gut“ oder „schlecht“ einsortieren zu müssen.
Raus aus der Mühle. Und so bleibt uns wieder nur übrig, unsere Energie darauf zu beschränken, wie man sich aus der Masse stehlen kann. Man kann alles nur noch teilnahmslos und desillusioniert zur Kenntnis nehmen und sich da irgendwie hindurch lavieren. Und selbst wenn Laufschriften in Quizsendungen die reine Verarsche offenbaren würden oder die Angry Kids freitags ihren Idealismus unreflektiert in die Welt hinausschreien dürfen und so die Ruhe der Weinberge stören. Mir alles wurscht geworden. Ich gehe morgen wählen, bin mit mir selbst im Reinen, und selbst wenn ich die Ameise bin, die vor dem Panzer sitzt. Mit diesem Sinnbild entlasse ich Sie in die Wahllokale.
Bildquelle: Monty Python
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Oliver (Montag, 27 September 2021 01:40)
Einer der besten Kommentare, die ich zur Wahl gelesen habe, Danke!
Sascha (Montag, 27 September 2021 17:53)
@Oliver
Danke für dein Lob!