Deutschland verliert seine Kunstfertigkeiten, und es trägt auch aktiv dazu bei. Als Hobbyfotograf und ehemaliger Freizeitmusiker habe ich die Erfahrung schon machen müssen, was dies bedeutet. Bemühungen, alte und hohe Künste aufrecht zu erhalten, sind natürlich vorhanden, allerdings lässt sich das Verkümmern der Kunst in vielen Aspekten ausmachen.
Anlass für diesen Text war nun der Konzert-Abbruch von Helge Schneider in Augsburg. Da ich in der Vergangenheit selbst schon öfter auf der Bühne stand, kann ich seine Gründe für die Beendigung des Auftritts schon recht gut nachvollziehen. Selbst wenn man sich ein wenig wie ein Dienstleister für das Publikum betrachten muss, wenn man als Musiker oder Kabarettist von der Bühne aus auf hunderte oder tausende Menschen hinspielt. Das Dienstleistungsprinzip lässt sich nun auch auf viele andere Bereiche anwenden, was in heutigen Zeiten eine seltsame Situation aufgebaut hat. Es scheint, als wäre der Inhalt in den Hintergrund geraten und die Bedienung des Publikums und das Ambiente zur höheren Maxime geworden. Die Musik gerät ebenso zum Nebenprodukt, die Themen des Kabaretts sind nur das Ventil für die jeweiligen „Hofnarren“ auf der Bühne.
Dies ist nun lediglich das Prinzip der Popkultur, die sich seit den 50er Jahren Bahn bricht. Wir kennen die Bilder von kreischenden und in Ohnmacht fallenden Frauen während eines Elvis Presley-Auftrittes, wo der Kult um das Hüfte-Schwingen umgeht, verbunden mit der emotionalen Breitseite seiner Songs. Das Prinzip, via die performende Person die Emotion der Lieder optisch zu betonen, treibt heute mit Videobildschirmen oder Pyrotechnik ganz eigene Blüten. Die Basis, also was Songs durch das pure Hören in Menschen auslösen können, wird mit Effekthascherei zu epischer Breite aufgeblasen.
Dazu eignen sich alberne Hymnen wie die des Helge Schneider natürlich weniger. Die Essenz, seiner Art von Musik zu begegnen, kann man schlecht mit Strandkörben auf Abstand und umherschweifendem Bedienpersonal in Einklang bringen. Helge ist heute eine Koryphäe in der Spaßwirtschaft, und wenn ein Künstler mit dieser Form von Alternativkonzept nicht zurecht kommt, dann soll man das auch so akzeptieren. Oftmals erkennt man die Unsinnigkeit der Konzepte erst, wenn man sie vor Ort erlebt. Dazu halte ich Aussagen wie die der Sprecherin des Veranstalters, Birgit Gibson, für viel zu weit von der Lebensrealität eines Künstlers entfernt und geradezu übergriffig, wenn nicht gar dummdreist. Und dazu: Mit der Behauptung, dass es an Schneider selbst gelegen haben müsste, qualifiziert sich die Frau eher für einen Posten bei der Börse oder irgendwas anderem mit passender Arschloch-Qualifikation.
Bedienpersonal, das ständig durch die Reihen huscht, um Getränkebestellungen aufzunehmen und Zuschauer, die nur mit halbem Ohr dabei sind, kann schnell zu etwas Beiläufigem verkommen, wie eine Stehparty, bei der man sich mal kurz umdreht und dem kleinen Ensemble Beifall klatscht, wenn es gerade eine Sonate beendet hat. Ähnlich wie ein Hausband in einer Bar, die man nur als Hintergrundgedudel zur Kenntnis nimmt. Wer damit klar kommt, erleidet auch keinen Schiffbruch dadurch. Doch interagierte Helge Schneider schon immer mit dem Publikum, und natürlich ist es ein anderes Ambiente, wenn ein voll bestuhlter Saal mit Menschen gefüllt ist und die ihm ihre volle Aufmerksamkeit schenken. Das ist nicht nur für das Ego des Künstlers gut, sondern auch eine Symbiose zwischen beiden Lagern vor und auf der Bühne. Das Strandkorb-Prinzip jedoch erfüllt nur den Zweck, sich irgendwie im Einklang mit den Pandemieverordnungen ein Konzert zurecht zu schustern und ist als Behelfslösung weder Fisch noch Fleisch.
Da muss sich auch der Veranstalter fragen, ob und wie er seine Konzepte gestalten will. Dass es machbar ist, zeigen derweil der Öffentlich-Rechtlichen und deren Hauskabarettisten und -comedians. Hier sitzen die Zuschauer im Freien, als hätte es Corona nie gegeben. Braucht es nun unsere GEZ-Anstalten, unter deren Ägide Kunstorganisationen wie die „Kleine Affäre“ in Hattingen uns doch wieder mit einer alten Normalität beglücken können? Und welche Rolle spielten die Veranstalter des Helge Schneider-Auftrittes? Abgesehen von Hygienekonzepten sollte das Ambiente wohl einen luxuriösen Einschlag erhalten. Dabei dürfte das Event eher den Künstler zur Nebensache gemacht haben, die Zuschauer hätten auch zuhause auf der Couch eine Live-Übertragung ansehen können. Und sich derart vergleichbar für 100 € in einen Strandkorb zu fleezen?
Wie die Faust auf´s Auge passte dazu der nächste „Skandal“-Auftritt von Nena. Hier hat die Künstlerin nicht selbst den Stecker gezogen, sondern das Ordnungsamt, auch wohl als Reaktion auf Nenas Appell, die Hygienemaßnahmen zu missachten. Nach ihrem trotzigen Aufruf, ihr den Stecker zu ziehen, wollten ihr die Leute im Hintergrund den Gefallen natürlich prompt tun. Es stand außer Frage, dass man Nenas kritische Haltung zur Corona-Politik nur zu gerne zum Anlass nahm, sie stummzuschalten – sie selbst hat dies jedoch auch provoziert. Ich sehe darin einen Symbolakt der Rigidität, mit der regierungsaffine Menschen und Institutionen mittlerweile selbst durchgreifen. Ein Selbstläufer, den man in Regierungskreisen grinsend zur Kenntnis nehmen dürfte.
Dieser Sommer ist bezüglich der Doppelmoral ein leuchtendes Beispiel dafür, welchen Stellenwert Großveranstaltungen im öffentlichen Bewusstsein haben. Die Konzepte, um Veranstaltungen möglich zu machen oder nicht, scheinen heute eher nach wirtschaftlichen oder moralischen Kriterien bemessen zu werden und sind teilweise nicht zielführend oder gar unsinnig. Die EM durfte stattfinden, beim diesjährigen CSD feierten zig tausend Menschen dicht an dicht, oft ohne Masken, auf den Straßen. Parallel dazu wurden „Querdenker“-Demos im Vorfeld verboten. Man muss wohl dieser Tage aufpassen, unter welcher Flagge man auf die Straße oder die Bühne gehen will – es kann sein, dass es den Behörden oder Veranstaltern nicht passt, was man zu sagen hat.
Dass der Frust in einer Branche umgeht, die von Massen lebt und nun schon seit einiger Zeit nicht mehr ihrem Beruf nachgehen darf, ist mehr als nachvollziehbar. Wer mit einem Vertrag mit TV- oder Radiosendern ausgestattet ist, hat momentan seine Schäfchen im Trockenen. Doch viele Selbstständige, Solo-Künstler, der lediglich vom Netzwerken und beständigen Kampf um Auftritte leben muss, haben entweder den Job gewechselt, die Segel gestrichen oder den Freitod gewählt. Oder postulieren die offizielle Linie und stellen Künstlerkollegen gleich in die rechte Ecke.
Dass Helge Schneider oder Nena mit ihren Erfolgen noch nicht am Hungertuch nagen müssen und somit nicht der Verzweiflung nahe, verschafft ihnen natürlich ein gewisses Standing und Ausdauer ohne ständige Einnahmen außer den Tantiemen und anderen vertraglich garantierten Zuwendungen. Während die kritischen Bemerkungen und Auftrittsabbrüche beim Jazz-Komiker noch verhalten sind, hat sich Nena mehrmals sehr deutlich gegen die Corona-Politik ausgesprochen und wird aller Voraussicht nach nun Auftritte, ihren Ruf und Lebensstandard einbüßen müssen. Dass selbst Schneiders sehr neutrale Aussagen von Komikerkollegen und den üblichen Zwitscherheinis schon mit einem etwaigen Populismus belegt und gleichgesetzt werden, ist nichts Neues mehr. Aber auch hier lässt die Qualität sowie die Tonlage der Empörung teils wieder sehr aufhorchen – man ist mittlerweile einiges gewohnt, doch mit jedem Vorfall treibt sich der Hass in neue Höhen hinauf.
Dass nun alle restlichen Konzerte der Festivalreihe abgesagt wurden, ist schon als logische Konsequenz zu verstehen. Die Künstler scheinen immer mehr zu erfahren, dass sich die Kunst unter diesen Bedingungen nicht entfalten kann. Dass „Käfige“ aus Getränkekisten kein ordentliches Live-Feeling generieren können, dass Strandkörbe zu Lasten der Aufmerksamkeit gegenüber dem Künstler gehen und es dazu befremdlich ist, von der Bühne aus das beobachten zu müssen. Mir sind auch schon Gigs passiert, da hingen die Gäste eher auf der Couch herum und latschten kreuz und quer durch die Halle. Da gehört schon ein dickes Fell dazu, das trotzdem durchzuziehen und es genießen zu können.
Dass es mit der Kunst sowieso nicht rosig aussieht, davon will ich jetzt nicht weitschweifend anfangen. Nur so viel: Für mich hat die Popkultur als hervorstechendste Kulturform in den letzten Jahren stark gelitten, die westlich geprägte noch am stärksten. Der marktwirtschaftliche Unterbau, die Risikoscheu und (auch hier) die Schere im Kopf und die damit einhergehende Selbstzensur hat die Kunst in ihrem herausstechendsten Merkmal beschnitten und banalisiert. Was übrigbleibt, ist eine Abfolge von künstlerischen Alibiakten, mit denen sich Bürger als Ersatzhandlung vom Alltag zeitweise verabschieden können, aber nichts Einprägendes oder Besonderes mehr im Kopf behalten.
Wer kann also behaupten, dass er/sie bei all den ähnlich ablaufenden Events noch etwas für die Nachwelt im Kopf behielte? Wir wandern sinnentleert durch die Gassen der Kultur und akzeptieren alles, was mit dem Begriff gelabelt ist, für die Ablenkung vom harten Alltag. Und dafür ist man weniger anspruchsvoll und hat keine Lust, sich noch über das Erlebte auszutauschen oder gar tiefgreifende Gespräche zu führen. Nachvollziehbar mag es sein, aber es wird dem Wesen der Kunst und Kultur schlicht nicht mehr gerecht.
Es war ein Land der Dichter und Denker, dieses Deutschland – Hochkultur, wohin man sah. Heute muss man sich mit einem halben Helge Schneider-Konzert zufrieden geben oder die richtige Gesinnung vertreten, wenn man überhaupt noch an der Kultur teilhaben will. Das liegt nicht nur an den Kulturschaffenden selbst, sondern auch an dem, wie und was heute der Öffentlichkeit als erfolgversprechend angepriesen wird. Es ist ein System, das sich selbst speist, aber auch selbst wieder frisst. Und so ist dieses System ein bisschen fadenscheinig und dumm.
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Cetzer (Montag, 02 August 2021 20:47)
Zu "Live" sollte ich mich nur zurückhaltend äußern, höre nur noch Konserve; Mein letztes Live war ~2001, Kabarett, Mindener Stichlinge.
"mit der Kunst sowieso nicht rosig aussieht"
Vielleicht mal einen Blick über den Zaun werfen, zu den Hochspringern(Männer): Weltrekord 2,45m im Jahre 1993. Nach Aussage eines Experten wird nie ein Mensch die 2,50m überspringen, von Plateau-Schuhen mit Treibladung und Genmanipulation (Heuschrecke mit 10%Mensch) mal abgesehen. Genau so wenig wird Beethoven in der Disziplin "Symphonie" übertroffen werden oder Degenhardt als politischer Liedermacher mit Gitarre.
Wir sind in ganz vielen Bereichen am Ende des Menschenmöglichen angekommen, was gar nicht mal so schlimm wäre, wenn es nicht diese unverschämten Anspruch vom mehr, besser, mehr, besser... gäbe. Im obigen "rosig" steckt auch ein bisschen dieser Erwartungshaltung - GRAU ist alle Wiederholung, alles Strecken nach dem schon lange Erreichten.
"System ein bisschen fadenscheinig und dumm"
Der Dumme August war der Schlaueste im ganzen Zirkus, aber dann kam die Lobotomie.