Wer in letzter Zeit mal in sich gegangen ist, was seine eigene politische Standortbestimmung betrifft, wird sich vielleicht entweder politisch heimatlos oder irgendwie verwirrt gefühlt haben. Denn ab und zu sind Neubewertungen der eigenen Ideologie schon nötig. Einerseits hat sich die politische Landschaft stark gewandelt, dass man nicht in einem Anflug von Gewohnheit sich selbst oder andere einer bestimmten Strömung zuordnen könnte. Andererseits verändert das Alter auch die Einstellung zur Politik oder der Gesellschaft – Gründe dafür sind vielfältig, sei es die Lebenserfahrung, die innere Einstellung, die externe, historische Dynamik.
Wer als alter oder alternder Handwerker vor zwanzig Jahren noch die SPD wählte, hätte es sicherlich nie für möglich gehalten, eine innere Abscheu gegen sie zu entwickeln. Zu viele Wähler fühlten und fühlen sich von der Partei verraten und verkauft, und trotz des immer noch vorherrschenden Wunsches, dass die Partei endlich von ihrer Hartz IV-“Errungenschaft“ Abstand nehmen sollte, rückt sie partout nicht davon ab. So erhält das „Social Distancing“ eine besondere Bedeutung, was bei Corona gewollt und beim Rest eher Bürde ist. Trotz oder gerade wegen der dunkelroten Saskia Esken, trotz knalllinker Forderungen wie die Enteignung von Immobilien. Ihr Image von der Heuchlerpartei, die für ein paar Regierungsämter sogar den Schulz-Zug eigenhändig von den Schienen warf, wird die Partei so schnell nicht mehr loswerden – dafür sorgt sie mit wachsender Inbrunst selbst.
Torten sind kein Argument
Dies ist aber nur eine Seite der Medaille, da sie sich von realpolitischen Problemen immer mehr verabschiedet und damit der Linken die Hand reichen kann (obwohl sie sich bis heute der Unterschiede wegen sträubt). Aktuell scheint es ihr wichtiger, Genderthemen und Identitätspolitik zu ihrer Kernkompetenz zu machen. Als Wähler runzelt man die Stirn, ob sie sich wirklich an ein Thema wagt, das so kontrovers wie selten diskutiert wird und damit in den Wahlkampf ziehen will. Gerade die einstige Stammwählerschaft fühlt sich mit dieser Themenverschiebung alleine gelassen, weil das Gendern unmittelbar rein gar nichts zur wirtschaftlichen Lage beiträgt. Immer noch müssen Arbeiter, Angestellte und andere desselben Status um ihre Planungssicherheit bangen, weil sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet und die Ängste real sind, auf der Seite der Verlierer zu landen. Die SPD verschließt sich dem zuweilen konsequent.
Um so mehr Unverständnis verbreitet sich nicht nur bei den SPD-Wählern. Auch andere Lager wundern sich darüber, dass die früher ernst zu nehmende Arbeiterpartei erst ihren linken Flügel abstieß, nun nur noch in identitätspolitischen Aspekten zu punkten versucht und somit noch mehr linkspolitische Munition sinnfrei zu entsorgen. Ferner wird die Rolle ihres amtierenden Kanzlerkandidaten Olaf Scholz in der Warburg-/Cum-Ex-/Wirecard-Affäre immer dubioser, der Beschuldigte hüllt sich zudem in verräterischem Schweigen. Kurzum: die Partei ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Was blieb nach dem Verrat für den gebeutelten Mitte-links-Anhänger? Die Linke mit dem geschassten Oskar Lafontaine und seiner späteren Ehefrau Sahra Wagenknecht klang indes inhaltlich attraktiv. Zurück zu den alten Werten, echte Chancengleichheit, für die Rechte des Proletariats kämpfen, mehr Sozialismus wagen. Doch auch die Ausweichpartei hängt nun am Tropf der Agenda der Mitte und ist aktuell zerstritten bis ins Mark. Das liegt nicht an der angeblich spalterischen Rhetorik Wagenknechts, sondern an jenen, die folgten. Wagenknecht ist eine der Urgesteine der Partei, also ist es schon in chronologischer Hinsicht falsch, ihr Spaltung vorzuwerfen. Gegenwind, Torten im Gesicht und parteiinternes Mobbing haben sicherlich nichts zum internen, offenen Diskurs beigetragen.
Was übrig bleibt, ist brach liegendes Themenland, wozu die Merkel-CDU natürlich ihren großen Beitrag geleistet hat. Jedes emotional aufgeladene Thema, das in den letzten Jahren aufkam, wurde umgehend von Merkel aufgegriffen. Mit dieser Selbstbedienungsmentalität hat die CDU auch dafür gesorgt, der Konkurrenz die jeweilige Kernthematik zu entziehen. Seitdem fällt es der linken Flanke zunehmend schwer, Themen zur sozialen Gerechtigkeit wirksam nach außen zu tragen. Das einzige, das die CDU nicht anfassen mag, ist eben jene Identitätspolitik, die jeder liberalen Einstellung als felsenfestes Manifest gegenübergestellt werden kann. Doch selbst bei den Linken gibt es hierzu keine einheitliche Linie, wenn sie damit die, für die sie einstehen sollte, vor´s Schienbein tritt.
Gelber Geist
Neu ist diese Erkenntnisse nicht. Es hilft allerdings, den Weg der politischen Strömungen einzuordnen, wo sich Entfremdung einstellte und wie sich der potentielle Links-Wähler überhaupt noch abgeholt fühlt. Während die SPD sich völlig selbst demontiert, die Linke nur noch in Teilen die Bedürfnisse des „kleinen“ Bürgers bedient und beide zusammen eine Schnittmenge vertreten, die dem Volk mehrheitlich unwichtig und zuweilen ein Ärgernis ist, erwächst im Kreuzchenmacher die Erkenntnis, dass man diese neue Form von selektiver Solidarität gar nicht mittragen möchte.
Der Kampf für Minderheiten mag moralisch angebracht sein, deren Gleichberechtigung ein hehres Ziel und berührt im Prinzip wieder die alten Werte. Doch statt Debatten auf Augenhöhe zu führen und für echte Gleichstellung zu kämpfen, kehren sich die Machtverhältnisse schlicht um. Dazu passt auch der anklagende, akademisch-abgehobene Tonfall, der scheinbar nur durch die Herabwürdigung der Traditionalisten und Bestandswahrer Wirkung zu entfalten scheint. Dabei ist vernachlässigbar, ob das die alte Unternehmerfraktion oder der traditionelle Handwerker ist. Die Debatte ist zudem persönlich und existentiell bedeutsam geworden, die Sache rückt in den Hintergrund. Das trifft natürlich auch bei den Betroffenen einen Nerv, so dass wir uns nicht mehr in einem Wettstreit um inhaltliche Hoheit befinden, sondern um Ideologien und Personenkulte, die mit Fakten und deren differenzierte Deutung nichts mehr zu tun haben.
Hiervon scheint vor allem die FDP zu profitieren. Ihr bisheriges Credo von Wirtschaftsliberalität und der Eigenverantwortung hat sich schleichend positionieren können, als Gegenentwurf zur Agenda der Gleichstellung und dem Ruf nach mehr Staat. Corona hat dies schlagartig in den Fokus gerückt, nachdem die plötzliche, staatliche Einmischung nach Jahrzehnten der Enthaltsamkeit und des Privatisierungswahns in Teilen sogar als neuer Totalitarismus oder im Gegenzug die Erfüllung unterdrückter Führungswünsche wahrgenommen wird. Die Prinzipien des Rechtsstaates erleben dazu ein ideologisches Comeback, die Diskurse um den Wert von Grundrechten werden in einer pandemischen Krise zur Notwendigkeit. Die FDP kann in dem Punkt auch davon zehren, dass die Linksliberalen sogar freiwillig für den Gesundheitsaspekt auf ihre Rechte und ihre individuelle Selbstbestimmung verzichten. Also auf jene Prinzipien, die ihnen von Geburt an in einem demokratischen Staat zustehen; und so enteignen sie sich somit selbst zugunsten von Staatsbeschlüssen und dem aufkommenden Bedürfnis nach Sicherheit.
Wer nun dachte, etwa mit den Grünen würde ein komplettes Gegengewicht zum bürgerlich-liberalen Kurs der FDP geschaffen, irrt. Schon mit Gerhard Schröder und seiner berühmten Agenda 2010 haben sie einen Kurs mitbestimmt und -getragen, den CDU und FDP später gerne übernahmen und expandierten. Das Zünglein an der Waage übernahm indes das Schlagwort Neoliberalismus, das parteiübergreifend Programmatiken durchdrang. Die jüngere FDP, die zuerst ihre alten Werte beibehielt, aber sie mit einer raubtierkapitalistischen Neue-Wirtschaft-Doktrin anreicherte, sollte für jeden Arbeiter und Angestellten aus der alten SPD-Zeit kein Thema gewesen sein.
WK Superstar
Warum behaupte ich dann, ich würde liberal werden? Momentan ist die FDP die einzige etablierte Partei (abgesehen von der Gegen-alles-Partei in blau), die die Corona-Politik in ihrer offiziellen Auslegung offen kritisiert. Ich reibe mir verwundert die Augen, dass ich gespannt über jedem neuen Facebook-Post von Wolfgang Kubicki klebe und sein und seinesgleichen Rechtsverständnis über Notstandsgesetze und Verhältnismäßigkeiten ohne Einschränkung teile. Ihre Forderung zur Eigenverantwortung über die Wahl, ob und wie ich mich impfen lassen soll, befürworte ich vollumfänglich. Irgendwann fiel mir auch auf, dass mein Verständnis von Recht und Gesetz sich mit dem der gelben Partei prinzipiell deckten.
Ist denn nun bei mir eine ideologische Gehirnwäsche vorgefallen, die mich vom bisher roten Wähler zu einem gelben machten? Das muss ich stark verneinen, weil ich im Kern immer noch derselben Auffassung von Politik und gesellschaftlichem Zusammenleben bin wie zuvor. Dass dies nicht in die Trendentwicklung passt, ist mir ebenfalls bewusst. Ich lasse mich nicht gerne in Schubladen pressen, wo man sich gezwungen fühlt, bei der größten Schnittmenge mit der Programmatik einer bestimmten Partei den ungeliebten Rest auch noch für mich zu beanspruchen und den zu dulden. Dass dies dazu führt, sich schwer entscheiden zu können, ist selbstredend.
Scheinbar hat diese Krise den Bedarf an Selbstverantwortung neu entfacht. Dabei soll es nicht darum gehen, die Isolierung und Ellenbogenmentalität im wirtschaftsliberalen Sinne zu verfestigen, sondern die drohende Gleichmachung aller im Deckmantel von Solidarität und Pflichtbewusstsein zu verhindern. Man bedient sich schnell den entsprechenden, ideologischen Grundsätzen, die zeitgeschichtlich relevant werden. So ist es mir zumindest ergangen. Es klingt zuerst reizvoll, in dieser bisherigen Individualgesellschaft einen neuen Gemeinschaftsgeist zu entdecken. Doch entlarvte der sich schnell als stark zweckmäßig – für die Gesundheit und gegen alle, die das nicht so sehen. Darauf reagiert man schnell mit derselben Zweckmäßigkeit, so dass man seine subjektiv alten Rollenbilder ins Gegenteil verkehren mag und plötzlich FDP-affin erscheint.
Linke Sense
Immerhin ist die FDP noch im demokratisch legitimierten Rahmen verankert, auch wenn der allgemeine Handwerker sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht damit identifizieren wird. Eine radikalere Variante dessen vertritt indes die AfD. Ich muss nun nicht mehr aufführen, dass sich die Partei in ihrer ideologischen Marschrichtung auf einer Rasierklinge bewegt. Der völkische Flügel war und ist das Einfallstor von stramm rechter Gesinnung in die heiligen Hallen demokratischer Prozesse, Einrichtungen und Posten, was man zuvor bis dahin erfolgreich abgewehrt hatte. Doch ist die AfD nicht nur eine NSDAP light, wie es gerne von Links-Empörten kolportiert wird. Was sie verschweigen (oder gar nicht wissen?), ist ihre Gründungsphase unter Bernd Lucke 2013/2014, die zuerst als monothematische, Euro-kritische Partei in die Öffentlichkeit drängte.
Der rechtsradikale Einschlag kam erst später, so dass ohne ihn ein radikal-wirtschaftlicher Ansatz mit national-protektionistischem Einschlag bleibt – was erst mal nicht verwerflich ist, wenn man die roten Trennlinien der demokratischen Legitimation im Auge behält. Die linke Flanke scheint dies jedoch völlig auszublenden und begann einen Feldzug gegen alles, was sie als rechts identifiziert haben mag, gezündet durch das Reizthema Flüchtlinge. Dabei macht sie mitunter keinen Unterschied mehr zwischen rechtskonservativ und rechtsradikal. Auch dieser Umstand verwundert und verärgert mich und lässt mich eher daran zweifeln, ob ich dieses „links“ denn noch weiter mittragen und unterstützen soll. Letztlich ist noch die „woke“ Interventionssucht der Gradmesser dafür, wie stark sich „links“ von der Lebensrealität entfernt hat, sich in akademischen Studien wie den Gender-Studies oder Kolonialgeschichte verliert und sich nun öffentlichkeitswirksam aus der Think Tank-Blase bewegt. Hier wird jedoch nicht das Unkraut an der Wurzel selektiv entfernt, sondern gleich mit der groben Sense alles weg gemäht, was ihnen nicht gleichgesinnt ist. Man fragt sich ernsthaft, warum da an der deutschen Sprache herumgedoktert werden muss und man sich nicht an die Extremfälle wagt, wenn etwa zum Thema NSU noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.
Und das ist nicht mehr mein „links“, mit dem ich aufgewachsen bin. Die stark polarisierenden Diskussionen um das Gendern, Diskriminierung oder Feminismus sind nicht verabscheuungswürdig, weil man sie überhaupt führt – sie widern mich an, weil sie so radikal geführt und gefordert werden und dass man so grundsätzlich und diffamierend dagegen vorgeht, sollte man anderer Meinung sein. Das ist – zum Glück – kein Themenrahmen, den man ungehindert und kritiklos gewähren lässt, selbst in den zweifelhaften Auftritten der großen Medien. Das lässt hoffen, dass wir auch bezüglich der Corona-Krise wieder auf ein Maß zurückkommen, das ergebnisoffener debattiert werden kann. Da unrealistische Agenden wie #zerocovid oder in gewissen Zügen wilde Annahmen von strukturellem Rassismus in der Gesellschaft an ihre Toleranzgrenzen gerät, ist es zwar meinerseits heuchlerisch, sich teil-ideologischen Aspekten von Parteien zu bedienen, die ich sonst nicht wählen würde. Aber ist es auch notwendig, sich innerhalb der roten Trennlinien das anzueignen, was man gegen die Radikalität dieser einzigen, dominanten Ideologie verwenden kann.
Zweckempört
Durch die mannigfaltigen Veränderungen in der Politiklandschaft sind viele exklusive Alleinstellungsmerkmale durcheinander gekommen. Deswegen ist der Vorwurf der Heuchelei nach alten Standards gar nicht mehr angebracht, oder man begegnet Heuchelei mit derselben. Welcher Weg der beste ist, erscheint heute schwierig. Wechselwählen bringt wenig, Nichtwählen noch weniger. Wahrscheinlich bleibt nichts anderes übrig, als die für eine Phase die wichtigsten Aspekte hervorzuheben und diese regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Das Behäbige von einst lässt sich heute nicht mehr anwenden, dafür sind die Zeiten zu dynamisch und hektisch geworden.
Vielleicht ist man als Mittvierziger doch schon zu alt, flexibel auf das Weltgeschehen zu reagieren. Mein Anteil am Protektionismus hat durchaus Ursachen – das kann man als rückständig kritisieren. Ich möchte jedoch auch die Garantie, dass mein Leben nicht unter der Erhebung des Lebens von Fremden leidet. Bei mir gibt es kein finanzielles Polster, mit dem sich Flüchtlingsströme und die damit aufkommende personelle Konkurrenz oder Lockdowns und Statusverzicht einfach so kompensieren ließe.
Meine Ängste sind also nicht irrational oder unangebracht. Sie sind in meiner Lebensrealität einfach da, und ich sollte sie nicht einfach so bestehen lassen. Das bedeutet auch, dass ich nicht zur Untätigkeit verdammt sein darf, weil die SPD oder die Linke meine Bedürfnisse nicht mehr bedient. Aktuell kann man lediglich noch den Diskurs durch Däumchen, Kommentare und Solidaritätsbekundungen beeinflussen, was selbstverständlich nicht Sinn der Sache sein sollte. Es ist befremdlich, sich derart in den Sog von ideologischer Empörung und Anti-Haltung hineinziehen zu lassen. Man reibt sich verwundert die Augen, kämpft bis zur Erschöpfung. Und hoffentlich erfüllt es mein Bedürfnis, uns aus dem Würgegriff totalitärer Strukturen zu befreien. Und wenn es die liberalen Grundwerte sind, die ich mir zeitweise aneignen muss.
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Cetzer (Montag, 19 Juli 2021 12:24)
Alle Parteien, die es über die 5%-Hürde geschafft haben, sind nur noch Teil eines miesen Kabuki-Theaters; Die BRD-Blockparteien führen gegeneinander müde Kriegstänze auf, doch wenn ein für Normalbürger unhörbares Signal (Hundepfeife ?) ertönt, knallen alle Hacken zusammen und die letzten Reste von Wähler-Repräsentation verschwinden.
Ich werde übrigens die Basis (Basisdemokratische Partei) wählen, von der ich mir nicht viel erwarte; Allerdings ist eben auch der Aufwand des Wählens gering (~5 Minuten).
Mein Lese-Tipp: https://de.wikipedia.org/wiki/Ehernes_Gesetz_der_Oligarchie