Ich verstehe die Gepflogenheiten im Netz kaum noch. Blogs und Newsseiten mit Kommentarfunktion sind noch in Ordnung (vielen Dank übrigens an Maschinist für die warmen Worte, gebe ich gerne zurück), aber in den (a)sozialen Medien laufen mir Themen und die daraus folgenden Diskussionen regelmäßig davon. Das muss das Reich der Nerd-Gehirne sein, die „im Tunnel“ sind, wenn sie Codes, Shooter-Events, Zahlen und Programmiersprachen in ihre Bedienelemente hacken und ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen. Nullen und Einsen everywhere, direkt aus dem Kopf in die virtuelle Welt hinaus. Und das alles nur, weil Hashtags trenden; ich werde wirklich alt die Tage, graue Haare mischen sich unter die bisher unifarbene Minimähne, die Midlife Crisis fordert ihren Tribut, der alte Sack ist nun völlig außen vor...
Manchmal sinniere ich darüber, dass ihnen die aktuelle Situation doch so was von recht gekommen sein musste. Kein Lamentieren mehr seitens der Eltern „Geh doch mal raus, du sitzt den ganzen Tag nur vor der Kiste!“ - mit der Pandemie eine schlagartige Läuterung, nun bist du solidarisch und gesellschaftlich wertvoll, wenn du das bzw. nichts tust. Zusätzlich werden alle „physischen“ Gewerbetreibende „kreativ“, sie präsentieren ihre Dienstleistungen und Produkte nun... online! Im Radio und TV ist das jede Mal eine Meldung wert:
„Ja, stell dir mal vor...!“
„Super Idee!!“
„Wooooow!!!11elf!“
„Danke, dass es meinen Geduldsfaden schont, und meine Gelenke.“
Endlich muss man nicht mehr hinter stinkenden Virenschleudern in der Reihe stehen, oder vorher noch einen Schnelltest ertragen. Man kann so gut zuhause sitzen, sich nicht dem Wetter ausliefern, gerade jetzt, wo der Mai vergessen hatte, dass er nicht der April ist.
Diese physische Realität da draußen, die ist schon verdammt anstrengend, keine Frage. Viren, Autos, Mensch oder Tier – eine endlose Liste von unsichtbaren Bedrohungen, die uns permanent ans Leder wollen. Dann lieber in den eigenen vier Wänden bleiben, da ist die Welt, wie sie mir gefällt, noch intakt. Wir haben nun genug physische Welt entdeckt, uns dem feuchten Traum vom Billigfliegen ergeben, unsere Genusssucht betäubt, uns Risiken ausgesetzt – nun ziehen wir nach dieser Kapriolenzeit die roten, magischen Halbschuhe über, schlagen die Hacken zusammen und reden uns ein: „Nirgends ist es so schön wie daheim.“ Kansas 2.0 for everyone.
Sinnbild für diese „dandy lions“ sind die neuen, sensiblen Gemüter, die ihre unsensible Seiten lediglich online zur Schau stellen. In der Realität sitzen sie nur da, mit Betonmimik irren sie durch die Straßen oder starren auf und in ihre Parallelwelt, mit einem Wahrnehmungsradius von gefühlt fünfzig Zentimetern um sich selbst. Jeder neckische Schubser löst sie scharf aus dieser Lethargie, daraus wird Überreaktion wie das Erwachen aus künstlichem Koma. Sie sind die tragischen Figuren im Land von Oz, kein Herz, kein Hirn, kein Mut.
Eigentlich auch kein Wunder bei solchen, wie sie Überstunden am Bildschirm im Büro schieben, zwischen Heim und Firma ihre sozialen Medien durchforsten und daheim zur Entspannung einfach nur in einen anderen Bildschirm starren. Sie müssen doch selbst gemerkt haben, dass sie eigentlich nichts getan haben und nur noch ein Bildschirmleben führen. Nichts Reales, Greifbares erschaffen haben, sondern nur Digitalprodukte, oder sie konsumieren sie nur. Sind zu „Screenslaves“ geworden, zu Sklaven ihrer Technikgläubigkeit. Sich dem zu fügen scheint gar unausweichlich, sehr viele machen das so.
Wären wir ehrlich zu uns selbst, würden wir zugeben, dass wir uns heute durch und mittels der digitalen Welt erziehen, formen und erhalten. Und dass es bequem ist, aber sehr unselbstständig machen kann. Manche sind dabei noch analog unterwegs, brauchen aber trotzdem Webseiten, Facebook, Twitter und Instagram als Startpaket für die eigene Karriere oder wenigstens Aufmerksamkeit. Weil die meisten das tun. Sei dieser Sklave, damit du dich entfalten kannst. Wer da nicht mithält, hat schon verloren, ist isoliert – weil jeder es macht. Und wenn nicht – Pech gehabt, life long and lonely.
Ich bin zwar selbst genug digital unterwegs, aber auch nicht so sehr „drin“, dass ich Boris Beckers AOL-Zugang hacken könnte. Und nicht selten hängt man mich damit ab – auch weil ich mich den Gepflogenheiten schlichtweg nicht ergeben möchte. Ja, auch aus Prinzip, aber eher mit dem Eindruck konfrontiert, dass diese new normal Gesprächs- und Umgangskultur durch die Onlineabhängigkeit Beständigkeit und das Gefühl von Geborgenheit zerrissen haben. Der Fokus liegt jetzt woanders: sich präsentieren und Däumchen oder Herzchen sammeln, und das definiert den Status. Es ist wie das übliche, analog-reale Retrospiel, um das neu gekaufte Auto herumzustehen. Die Staunenden gucken, loben, fragen, kriechen Arsch, und der Käufer suhlt sich darin, erklärt, protzt, präsentiert. Gar nicht mal so unterschiedlich zu einst, aber dann doch wieder anders.
Heute ist es ein Massenphänomen, Alltag, jeder Post eine Statushudelei oder zumindest der Wunsch danach. Nun ist das kein Exklusiv-Club-Gehabe, sondern mittlerweile breit aufgestelltes Verhalten. Befremdlich. Fühlt sich falsch an in mir. Und es ist nicht so, dass ich es nicht versucht hätte, mich da einzufügen. Aber es macht mich nicht zufrieden. Im Gegenteil: es erzeugt Druck und Abhängigkeiten, Erwartungen und Suchtgefühle.
Apropos Gefühle: da der physisch minimalistische Akt des Tippens und Wischens so viel Action bietet wie eine Schnecke in Zeitlupe, füllt man die Posts eben noch mit potentieller Emotion. „Whooooahh!!“ und „Awwwww!!“ und „Uiuiuiuiui!!“ macht es dann – zum ordentlichen Wort muss noch irgendwas boah-mäßiges rein, damit man auch merkt, wo man wie zu reagieren hat. „Zack!“, „Bäm!!“ und „Arrrgh!“ in bester Comicmanier, da findet das pralle Leben noch statt. Und in echt? Man sieht ein Grüppchen Menschen da herumstehen, in typischer Schaufensterpuppenmanier, die Gesichter ähnlich in Form gegossen. Die haben keinen Stock im Hintern, sie sind der Stock. Das Gegenteil wiederum hat was von Sitcom, Lacher vom Band und Applaus-Schildchen.
Während ich diese Zeilen schreibe, stolpere ich über eine Lanz-Sendung, in der es über „digitale Einsamkeit“ geht. Interessanter Gesprächspunkt. Ja, auch ich fühle mich als Opfer davon. Reale, private Kontakte tendieren gen null, die digitalen sind auch überschaubar. Es gab schon Zeiten des Verzweifelns, aus verschiedenen Gründen. Wer sich hierbei nicht selbst auf den Prüfstand stellt, wird dieser Psychofalle nicht entfliehen können. So sind die Heilsversprechen vom unendlichen, freien Internet eine Farce geworden. Ich erinnere mich immer noch an die Bedenken meiner Eltern, als sie mir meine erste Brotkiste ins Zimmer stellten und ich oft und ausgiebig Spiele spielte, dass ich hoffentlich nicht an dem Ding festkleben würde. Ist jedoch nicht passiert, Anfang der 90er gab es noch kein Internet, das einem den physischen Gang zum Kumpel ersparte, wenn man nicht alleine daddeln wollte. Heute muss man gar nichts mehr tun, nur Handyempfang haben.
Ein bisschen bedauernswert, andererseits gefährlich is dat. Da unsere mediale Aufmerksamkeitsspanne heute bei durchschnittlich acht (!) Sekunden liegt – Posts zur Kenntnis nehmen, weiterscrollen, Däumchen verteilen, wisch und weg, Katzenbild: „Awwwww!“, scroll, tipp, wisch, etc.pp. –, fühle ich mich mit diesem Wissen wenigstens einigermaßen vertröstet und teil-immunisiert. Das motiviert zum Innehalten, sich selbst aus der Gleichung nehmen, diesem Chaos der Sekundenkicks entrinnen. Digital detox – der neue Jesus unter den abtrünnigen Bytes-Jüngern.
Dafür raffe ich momentan jede Motivation zusammen, Texte zu schreiben. Viele Texte zu schreiben, und auch Themen etwas ausführlicher zu behandeln. Und es ist egal, ob. Das. Jetzt. in. Neumodischem Schreibstil. G.e.s.c.h.r.i.e.b.e.n. Ist.
Ich kann nur appellieren: Bleibt bei der Sache, lest, denkt nach, reflektiert. Blogs und Artikel ohne Bezahlschranke können hierbei helfen. Und dazu sind Facebook und vor allem Twitter nix gut. Obwohl ich mich immer noch scheue, zu viel in eine Materie einzusteigen und sich reinzusteigern. Aber auch das werde ich noch hinkriegen.
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Cetzer (Montag, 14 Juni 2021 22:14)
Schwindelgefühle beim Aufstieg zum Gipfel der virtuellen Göttlichkeit? Keine Sorge, das ist nur Sauerstoffmangel.