Deutschland öffnet sich. Es wäre ja schön, wenn die Leute da draußen ihre Verklemmtheit, ihren Pedantismus und ihren Hang zur Besserwisserei einstellen würden, aber in der Pandemiesituation hat das „Öffnen“ dann doch wieder einen anderen Stellenwert. Als kürzlich die ersten tatsächlich vorsichtig positiven Meldungen über den Äther gingen, roch es gewaltig nach Aufbruchstimmung, und als ich mit meiner besseren Hälfte einen Ausflug in die Weinberge unternahm, schienen die ersten Dämme gebrochen zu sein, sich in einer beständigen Vorsicht zu wähnen. Letzte Woche dann die ersten echten Anzeichen des Weges zurück in die Normalität: Der Fahrradladen nicht weit von uns hatte seine Tore geöffnet und die Parkplätze davor halb besetzt.
Das alles nehme ich ebenso vorsichtig optimistisch wahr, weil in meiner Straße immer noch genügend Menschen ihre Lappen auf der Straße überstreifen. Ich sage nichts, aber kann es einfach nicht nachvollziehen, wie man sich derart an die Dinger gewöhnt hat oder schlicht vergisst, sie abzunehmen. Ich reiße mir das Ding sofort wieder von den Ohren, wenn ich eine Räumlichkeit verlasse und an die frische Luft zurückkehre. Das bisschen Rebellismus, das ich mir nicht nehmen lasse, ist sogar wissenschaftlich unterlegt (Aerosole), und da soll mir mal einer der Maskenfans auf einem Supermarkt-Parkplatz seine „Solidarität“ entgegen giften.
Ausgerechnet in dieser Phase des Aufbruchs geriet ich noch in die schlimmsten Situationen mit solchen Blockwarten, die sich nicht nur sichtlich mit der Situation abgefunden haben, sondern auch noch heftiger denn je ihren Status verteidigen wollen. Da war der Vorfall des Heizungsablesers, der tatsächlich von mir verlangte, bei mir zuhause eine Maske überzuziehen. Kannste vergessen, dachte ich, aber da ich kein Unmensch bin, bot ich ihm an, dass ich draußen auf der Terrasse bleibe. Er nahm an, erwähnte zuvor noch, dass er zwei Mal geimpft wäre und sich und andere schützen wolle , marschierte dann schnell hinein und erledigte seinen Job – ich hinterher und löcherte ihn noch mit offen stehenden Fragen bezüglich der Ablesegeräte. Er hatte nicht gemerkt, dass ich eben wieder vor ihm stand, in meiner eigenen Virushölle und ihm - im Geiste grinsend - meine persönliche Virensammlung ungefiltert entgegen spuckte.
Ein anderer Fall geschah ein paar Tage später im Supermarkt, wo ich tatsächlich ein klein wenig einer Kundin zu nahe kam. Dummerweise war es eine jener Leute, die sich für den Einkauf in allerlei Schutzutensilien verpackt hatte: FFP2-Filtertüte, Einweghandschuhe, lange Kleidung, über die sie gar die Handschuhe übergezogen hatte. Als sie noch ihre SZ-Zeitung auf das Warenband legte, war die Sache gänzlich klar gewesen. Ich grinste noch zu meiner Partnerin hinüber und wollte sie gerade auf das Käseblatt aufmerksam machen, da starrte mich die Kundin auch schon böse an. Statt des üblichen „Halten Sie Abstand!“ fragte sie nur, ob ich es eilig hätte. Da meldete sich umgehend die Kassiererin zu Wort und sprach das aus, was mir die Kundin wohl nicht getraute mir zu entgegnen und ermahnte mich mit einer abschätzigen Geste und mosrigem Tonfall, Abstand zu halten.
Da ich die Kassiererin schon kannte und noch nie wirklich mit der warm wurde, lieferte sie mir mit dieser Aktion den letzten, endgültigen Grund, sie von da an zu meiden. Und selbst wenn sie die einzige freie Kasse besetzen würde, würde ich in Zukunft nicht mehr bei ihr bezahlen wollen. So viel Arsch sein muss sein, auch wenn mir das persönlich öfter mal schwerfällt. Doch wenn sich jemand bei mir die absolute Abscheu verdient hat, vergesse ich auch das letzte Bisschen Zurückhaltung. Seit diesen fünfzehn Monaten sowieso, da lässt sich nun viel einfacher herausfiltern, wer sich meine Freundlichkeit oder meinen Giftstachel im Hals verdient hat. Mein letzter Gedanke, als ich die Waren wieder in unseren Wagen legte, um eine andere Kasse anzusteuern: „Tu dich doch mit dem Heizungsableser zusammen. Ihr würdet ein tolles, passendes Paar abgeben.“
Sollten sie ihre ersten Dates haben, würde ich sie auch kontrollieren wollen. Aus Spaß, ein bisschen piesacken. Halten sie Abstand? Würden sie im Café ihre Maske tragen und eine Plexiglasscheibe zwischen sich aufstellen? Später dann, wenn sie sich sympathisch fänden und Anstalten machten, miteinander in die Kiste zu steigen, könnte ich noch das Gesundheitsamt informieren, dass sich da zwei Fremde aus zwei Haushalten treffen. Klingeling! Hallo, das Gesundheitsamt! Er öffnet dann die Türe und steht bis auf das Handtuch vor seinem Schniepel nackt da, sie dahinter, genauso spärlich bedeckt. Reicht als Beweis für ein Kontaktdelikt, Quarantäne, 250 €-Knöllchen für jeden. Ja, auch ich könnte ein guter Blockwart sein, wenn ich es wollte. Ich belasse es jedoch bei dem bösen Gedanken und gehe zum immer gut gelaunten Kassierer zwei Reihen weiter. Ich muss mir nicht die Unsitten anderer angewöhnen und schon gar nicht irgendwelche Debatten starten, die sowieso keinen Sinn machen.
Lieber denke ich wieder an die Weinberge. Dort wo zumindest zeitweise ein altes Normal eingekehrt war. Ein Grüppchen von Mädels, die Junggesellinnenabschied feierten; welch ein exklusives Bild, seit 15 Monaten. Es rührte mich. Am liebsten hätte ich mitgefeiert, aber das sollte ihr Tag werden, ihre Party. Ich lächelte sie an und zeigte ihnen den Daumen nach oben, wir gingen weiter und ließen die Klänge von KISS hinter uns. Auch auf unserem Rundweg spürte man die Stimmung des Aufbruchs, fast alle Menschen, die uns währenddessen entgegenkamen, grüßten freundlich, freuten sich vielleicht schon darauf, jemandem freundlich zu begegnen. Es war eine gänzlich andere Welt, in die man trat, als im Supermarkt, wo man zwangsläufig auf das andere Extrem trifft.
Vielleicht sind diese Beispiele nur stellvertretend für die psychologischen Folgen jener fünfzehn Monate, die durch diese Ausnahmesituation „etwas mit uns gemacht haben“, wie man es schon in unzähligen Beiträgen vernehmen konnte. Mit mir hat es definitiv etwas gemacht, nämlich die Menschen noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und früh auszusortieren, wem ich ein Stück Grundvertrauen und Respekt entgegenbringen will. Es wird sich wahrscheinlich früh herausstellen, wenn die Maskenpflicht eventuell bald wieder aufgehoben wird, ob sich Menschen von den Lappen trennen wollen oder ob sie gar Vorteile darin erkannt haben wollen, die sie in ihren Lebensalltag integrieren. Ich werde den Teufel tun, es ihnen ausreden zu wollen, aber werde sie dafür auch nicht beklatschen.
Es hat nichts mit Würde zu tun, die Gesundheit als Grund für jede Einschränkung zu rechtfertigen. Stand heute hat man uns diese Würde noch nicht zurückgegeben, oder zumindest nur durch Friseurbesuche. Wer diese Würde nicht mehr braucht, dem ist eh nicht mehr zu helfen. Es wird wohl eine zweigeteilte Welt übrig bleiben, die sich nicht nur in die Geimpften und Ungeimpften spalten wird. Schon heute versuchen vollständig Geimpfte, sich Vorteile zu erschleichen, an der Supermarktkasse, in öffentlichen Gebäuden, beim Arzt. Da erzählte mir kürzlich meine Partnerin, wie sich ein Mann beim Arzt vordrängeln wollte und von den Helferinnen ans Ende der Warteschlange verwiesen wurde. Er ließ nicht locker und meinte, er wäre zweifach geimpft. Als wäre es das Totschlagargument für Bevorzugung.
Zum Glück blieben die Helferinnen hartnäckig. Auch dies könnte verdeutlichen, welche Gefahren diese Aufbruchstimmung mit sich bringt, welchen Wert das Narrativ im gesellschaftlichen Leben in den Köpfen mancher verankert hat, weil die offiziellen Ankündigungen zu vage sind, vielleicht zu sehr diese Vorteilnahme durch ungenaue Aussagen befördern. Hier hätte ich mir eine ähnliche Stringenz bei der öffentlichen Kommunikation gewünscht, aber man gewinnt den Eindruck, dass die Entscheider selbst nicht wissen, welchen Stellenwert das Erreichte mit sich bringt. Und diese Unwissenheit lässt mich ambivalent zurück, lässt mich zweifeln an dieser angeblichen, neu entdeckten Solidarität. Wenn Corona vorbei sein sollte, ist auch die projektierte Menschenliebe vorbei. Dann werden wir wieder nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste“ weiterleben, vielleicht noch ausgiebiger als zuvor. Vielleicht schweißt es aber auch die zusammen, die der gleichen Meinung sind, Lockdownjünger wie Verschwörungsschwurbler. Und die dazwischen, die sind sowieso nie interessant genug.
Hier in die Zukunft zu denken mag etwas weit hergeholt sein, aber ist es hilfreich, sich die Zeichen der Gegenwart als Mahnmal für das Zukünftige im Hinterkopf zu behalten. Das Leben hat mich gelehrt, dass sich Menschen für keinen Blödsinn zu doof sind, wenn sie denken, dass es ihnen hilft. Astro TV, Drosten-Kult, Impffeudalismus oder pures Gottvertrauen – die Auswahl ist reichhaltig. Und dieser eine Super-Blödsinn war so weitreichend, global, dass sie sich nicht wie Ausgestoßene selbst hinterfragen müssten, die anderen machen es ja auch. Das ist das Wesentliche, was ich in dieser Pandemie gelernt habe. Dass es nichts mehr bringt, Menschen überzeugen zu wollen, wenn eine Situation kollektive Ausmaße annimmt, egal ob Ursache oder WIrkung. Und wenn bald Schutzanzüge aus Biolaboren geklaut werden, weil manche denken, sie müssten damit einkaufen gehen, um sich vor der bösen Umwelt zu schützen, dann sollen sie es tun. Es soll nur niemand versuchen, mich zur selben Selbstentwürdigung zu bewegen.
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Cetzer (Mittwoch, 26 Mai 2021 16:09)
Karnevalsmotto 2023:
Nur ein hustender Gesundheitsapostel ist ein guter Gesundheitsapostel!