Ich kann jeden Kritiker verstehen, der sich aktuell machtlos und erschöpft fühlt. Schon seit über einem Jahr wird versucht, die Widersprüchlichkeiten von Politik und Medien zu entziffern und sie im öffentlichen Raum zu kommunizieren. Seit über einem Jahr sieht er sich massivem Druck ausgesetzt, dass seine Erkenntnisse Unfug seien, Spinnerei oder einfach „rechts“. Und seit einem Jahr gerät er immer weiter in die Spirale der Ausgrenzung und der daraus resultierenden Selbsterkenntnis, dass er sich damit immer besser arrangieren kann. Wer sich seines eigenen Denkens treu bleiben kann, wird auch das eigene Abdrängen in die Ecke der Geächteten schulterzuckend zur Kenntnis nehmen können.
Solche Ecken werden schleichend immer voller, und das nicht, weil jeder einzelne darin sich selbst dazu entschlossen hätte. Die Mehrheit wurde dort einfach hin verfrachtet. Und das alles nur, weil man das Leben mehr gewichtet als den Tod, der Kunst ihre Freiheit gewährt und die Debattenkultur momentan perspektivisch als einseitig empfindet. Es ist, als hätten Tugenden wie Ordnung und Disziplin neue Verkünder – die, die sich zuvor von den Nachkriegsspießern lossagen wollten und nun ins selbe Horn blasen. Mit dem Unterschied, dass ihre Moral ihr selbst gewähltes Trauma begründet, das Leben keine Grauzonen mehr kennen soll, in denen man auch mal Spaß und Hoffnung ohne Gewissensbisse haben dürfte. Nein, sie ziehen ihre Grenzlinien nur noch um das Leben als physikalischen Zustand, gesteuert von chemischen Prozessen und dem Tod, den es dringend zu vermeiden gilt.
In diesem verengten Selbstbildnis entstand wohl auch der dringende Anspruch, die Ich-Person mit einer Identität zu etikettieren. Ein statisches Leben, nicht durch Handeln definierbar, zwingt geradezu, sich einen Anstrich zu verpassen, um wahrgenommen zu werden. Das kann man aber nur im Leben erreichen – was wäre ein Leben ohne einen Bezug zu schreienden Farben, wenn es von der Geburt bis zum Tod auf der Stelle träte und man sich selbst dem lebenslangen Nichtstun ergäbe? Was wäre dann der eigene Tod wert, wenn man nur redet und nichts anpackt? Richtig: nichts.
Also liefert der Tod oft Grund dazu, ihn zu verabscheuen. Und so mag es zu ergründen sein, warum man aktuell den Tod mehr gewichtet als sonst. Ironischerweise gilt das nur für Opfer eines neuen Virus, die einen Sonderstatus einnehmen. Das erwischt uns auch, wenn wir nichts tun oder eben das Gegenteil. Da müssen andere Gründe für das Ableben zurückstecken. Rauchfrei, alkoholfrei, nur gesund leben – die Selbstoptimierer schinden sich selbst in einen Wahn der ewigen Existenz, und dann muss dieses Virus hier auftauchen und ihren Plan durchkreuzen.
Mensch über die Natur
Würde man darüber gar nicht sprechen, entstünde der Eindruck, dass dies in sich stimmig und unanfechtbar wäre. Ein Naturgesetz, wie die vier Jahreszeiten oder der absolute Kreislauf des Lebens – wir alle sterben, das ist unausweichlich. Wir haben lediglich die Macht, die Zeitspanne zu beeinflussen, dem Tod hier und da ein Schnippchen zu schlagen und ihn ein bisschen nach hinten zu verschieben. Wir leben scheinbar in dem Glauben, dass der Fortbestand der Erde von unserer bloßen Existenz abhinge. Wir sichern unseren Fortbestand mit einer Inbrunst, die uns glauben macht: wir wären zu Höherem erkoren, müssten uns durch unsere Denkfähigkeit nicht den Mechanismen der Natur unterwerfen und erschaffen ein Paradoxon vom Kult des Lebens und Dämonisierung des Todes. Aber nur an oder mit Corona.
Doch dieses Denken hat Tücken. Nicht nur, dass wir dem hierarchischen Denken unterliegen, so wie es Tiere tun, um in der Gemeinschaft das Überleben zu sichern. Menschen sichern aber ihr Überleben nicht nur, sie übersteigern den Wert ihres Daseins und lassen im Gegenzug die Toten nicht im Dickicht liegen, gewähren ihnen posthume Rituale, betrauern verlorenes Menschenleben fast wie schmelzende Gletscher oder gerodeten Regenwald. Corona scheint diese Wertstellung nun vollends in Hypersphären gehievt zu haben, wobei die Natur symbolisch die größte Bedrohung seit der Entdeckung gefährlicher Meteoriten im All darstellt. Und uns ist keine Methode zu abwegig, den Einschlag zu verhindern.
Wer solche Werte nicht in dem Maße aufrecht erhält wie die selbsternannten Menschenretter, gilt schon als unsolidarisch oder nähme den Tod durch Corona mindestens nicht ernst genug. Als kürzlich die #allesdichtmachen-Aktion den Fokus vom Retterdogma auf die Maßnahmen und gesellschaftlichen Aspekte umschwenkte, war die Empörung quasi schon im Drehbuch vermerkt – durch die Eskalation, die im zweiten Akt von Drehbüchern als Stilmittel angewendet wird. Statt der ständigen Beschallung von Bedrohungsszenarien in Krankenhäusern als Einfallstor in einen möglichen Tod zu zeichnen, beschrieben die 53 Videos die bisher von den großen Medien wenig beachteten Zwiespälte eines Lebens in der Maßnahmenfalle.
Die mediale Aufmerksamkeit sprach Bände, unabhängig davon, ob man es als nötig oder unnötig empfand. Was danach passierte, muss man vorsichtig beobachten und einordnen können, haben doch die üblichen Verdächtigen ihrer Empörung erwartungsgemäß Luft gemacht. „Schäbig“ sagte einer, andere fragten begriffsstutzig: „Was soll das?“. Naiverweise wäre davon auszugehen, dass jeder die Beiträge geschaut hätte, aber oft lässt sich ablesen, dass sich manch Berufsempörte damit kaum befasst haben und einfach in den Schimpftiradenkanon mit eingestiegen sind. Man hat sich mittlerweile, schon früh in der Pandemie, positioniert, da muss man die Gegenseite gar nicht mehr zur Notiz nehmen.
Tatort Medien
Was bedeutet das Aufkommen dieser Aktion nun in der Post-Production? Das Timing der Veröffentlichung hätte nicht besser gewählt sein können. So kurz nach Einführung der Bundesnotbremse die Videos einzustellen, könnte man schon als eine „Jetzt reicht´s!“-Antwort interpretieren. Man wird eingehegt, Argumente vorzubringen, und wenn, dann bitte sachlich, und wenn, dann bitte die „richtigen“. Man konnte sich jedoch noch so viel Mühe geben, mit Belegen, Artikeln und Studien zu arbeiten, wie man wollte; man konnte noch so oft die Aussage bemühen, dass man mit der AfD nichts am Hut hat und auch keine Reptiloiden in den Regierungsmitgliedern sieht. Man verlangte also Sachlichkeit und empörte sich, als die Sachlichkeit irgendwann nicht mehr fruchtete und man in der Verzweiflung zu beißender Ironie griff.
Ein gutes Beispiel für die Quengelei liefert aktuell der Tagesspiegel, dem kein Mittel zu plump ist, um – um ganz im „Tatort“-Duktus zu bleiben – am Set des Ermittlerbüros am Whiteboard Netzwerke zu recherchieren. Links das Foto von Regisseur Dietrich Brüggemann, einem der Mitinitiatoren der Aktion, rechts irgendein Symbolbild für „rechts“. Hakenkreuz, Björn Höcke, NSU – man schien sich sicher: da muss es einen Zusammenhang geben. Dazwischen ist viel freier Platz für Zwischenstationen, und die gilt es nun zu ermitteln. Die erste rote Linie hat man ohne Nachdenken gezogen: Applaus von der AfD.
Eine kurze Zwischenszene: die Twittersphären. Dort ging gerade ein Physiker viral, der sich mit Listen beschäftigt. Flankiert von „Volksverpetzer“ Philip Kreißel, der auch schön brav die Liste aufstellt. Cornelius Römer wollte sich zum Aufklärer der Nation aufspielen, indem er den „führenden Twitter-Querdenkern“ und „Durchseuchern“ auf die Schliche kommen wollte. Getriggert von seiner eigenen Wahnvorstellung machte er sich damit nicht nur Freunde.
Kino-Weisheiten
Zurück zum „Tatort“ Tagesspiegel. Auch hier wird von einer Hintergrundorganisation geschwurbelt: „Wer steckt hinter #allesdichtmachen? Spur führt ins Querdenker-Milieu“. Wahrscheinlich wollen sie irgendwann herausgefunden haben, dass Donald Trump einen Rachefeldzug gegen seine Abwahl organisiert hätte. Oder sonst etwas Abwegiges, bester Stoff für einen Verschwörungsthriller. Was wittert man dabei? Ruhm? Ehre? Zerschlagung von versteckten Nazi-Strukturen, wo keine waren oder zu vermuten sind? Man merkt schnell, dass ihnen die Kritiker-Strukturen nicht geläufig sind und man sie vielleicht deshalb schon als Organe von „windigen Geheimorganisationen“ sieht. Die politische Einordnung erfolgt via eigenmächtiger Vervollständigung der DNA-Gensequenz („Jurassic Park“ ließe grüßen) - im übertragenen Sinne ein Erfolgsrezept, mit dem auch der mittelmäßigste „Tatort“-Streifen noch zu einem Erfolg werden kann. Ein Happy End ist in der Realität allerdings nicht zu erwarten, nur die bitteren Szenen des Aufruhrs wie kürzlich in „Joker“ zu sehen. Offen bliebe hierbei, wer oder was den Status Ursache und Wirkung einnimmt.
Es ließen sich viele Filme, Szenen und Zitate aufführen, die man als Analogie anführen könnte, um diese reale Situation zu bebildern. So würden mir einige Beispiele in den Sinn kommen, um die Kunst, die momentan weitgehend stummgeschaltet ist, auf die aktuelle Situation anzuwenden: „Demolition Man“ (als Anlehnung an „Schöne neue Welt“), „Metropolis“ (selbstredend), auch „1984“, natürlich als inhaltstreue Adaption. Framing, ja, ganze Kampagnen sind seitdem gestartet worden, und sie sind der beste Beweis für die Überempfindlichkeit und Selbstherrlichkeit einer Meinungsfraktion, die einerseits ihre vermeintlich moralische Überlegenheit aufs Schlachtfeld führt und andererseits den Spott des Gegners sehr persönlich nimmt. Ohne Ironie. Unsachlich. Totalitär.
Wellen sind nicht nur Corona
Ob die Schauspieler-Aktion nun lange nachhallen wird, kann nur die Zeit aufzeigen. Bisher gibt es holprige Bemühungen, den Diskurs zu erden – dafür war die Prominenz eines Liefers sicherlich hilfreich. Doch zeigt sich – auch gut zwei Wochen später – die Verschärfung des Tons seitens der Sittenwächter. Bei den Medien herrscht mitunter Ratlosigkeit, wenn etwa Moderatoren im WDR ihre letzten Reste Zurückhaltung verlieren oder Stern TV sich mal zur Abwechslung selbst erklären muss, ein differenzierendes Talk-Format zu sein. Immerhin, möchte ich der Sendung wohlwollend zugestehen.
In den sozialen Medien wird indes weiter und noch heftiger polemisiert. Es scheint eine neue Welle des Trotzes anzurollen, die man nur noch Augen rollend zur Kenntnis nimmt, nach all den Wellen, mit denen wir uns seit gut 15 Monaten ausgesetzt sehen. Infektionswellen, Empörungswellen, Versagenswellen, Orwellen, sie alle und noch mehr prasseln regelmäßig auf uns ein. Viele suchen ihr Heil im kleinen Pieks als Lösung aller Probleme, manche haben ihr Mantra „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ gegen „Mein Impfstatus“ ausgetauscht und konstruieren sich schon ihre Privilegien gegenüber Impfgegnern und noch nicht Priorisierten.
Dieser neue Klassenkampf ist wahrscheinlich die neue Eskalationsstufe, die man so nie für möglich gehalten hätte. Die vorher so einschlägig propagierte Solidarität hat nun einen Impftotalitarismus hervorgebracht, und man verliert jede Zurückhaltung, mit dem Impfzeugnis herumzuwedeln – manche fotografieren gar ihre Ausweise und präsentieren sie stolz wie etwa sonst ihre Aufenthalte am und auf dem Eiffelturm in den sozialen Medien. Kann man dies nicht anders deuten als eine Racheaktion gegenüber den Kritikern? Oder nur als selten dämliche, spaltende und damit die Ironie der Videos bestätigende Reaktion? Bei manchen zeichnet sich schnell ein „Spritzendarwinismus“ ab, der Begehrlichkeiten weckt. Wer also geimpft ist, wird wohl kaum noch Freiheitseinschränkungen tolerieren. Alle anderen, die ihr „Impfangebot“ nicht annehmen wollen oder können, haben eben Pech gehabt.
Man macht uns ein Angebot, das wir nicht ablehnen können.
Bitterer Trost
Zeichnet sich denn nun eine Trendwende zugunsten der Kritiker ab? Es ist schwierig, dies fundiert zu beantworten. Im Internet wird immer noch fleißig gehetzt (ja, auch radikal Linke können das gut), und es wäre naiv, darauf zu hoffen, dass die Spaltung mit einem Mal überwunden wäre. Nach über einem Jahr Pandemie zeichnet sich allerdings eine langsame Kinetik des Götzentums hin zu Skepsis und dem Drang, die alten Freiheiten wieder erlangen zu wollen. Viele verbleiben da womöglich auf dem Impfweg, andere sehen darin eine Sackgasse oder auch ein Abhängigkeitsprinzip gegenüber den Mächtigen.
#allesdichtmachen hat wenigstens innerhalb der deutschen Bequemlichkeit einiges aufgerüttelt. Mit filmischen Mitteln, bitter-böse auch, aber wie soll man sonst die eingefahrene Denkstruktur aufbrechen, wenn nicht mit beißender, schmerzender Satire? Die Künstlerinitiative #alarmstuferot konnte zuvor zwar kurzzeitige Akzente setzen, ersoff aber schnell wieder in der täglich medialen Welle des Inzidenzen-Lotto und Impfstoff-Nachrichten an ihrer zu braven Kritik. Nach all den Schocknews von Impfprivilegien und der Bundesnotbremse war der brachiale Befreiungsschlag der 53 Schauspieler bitter nötig gewesen, und zumindest hat er kurzzeitig die neue Routine mächtig durcheinandergewirbelt.
Es mag ein schwacher Trost sein, aber man vernimmt zumindest die vielen kleinen Nadelstiche des Protestes, nicht nur in Deutschland. In Italien formiert sich die Gastronomie immer deutlicher gegen den Verlust ihrer Existenzgrundlage, Frankreich und andere Nachbarländer trieben mir mit den „Danser encore“-Flashmobs sogar Tränen der Rührung in die Augen. Es sind kleine Leuchttürme, die mir am schwarzen Horizont Orientierung und Hoffnung geben, die mich den Tod vergessen lassen, den Frust und die Ohnmacht einzufrieren. Zumindest so lange, bis die Macht uns wieder, freundlich motivierend, die Luft abdrückt.
Ich will nur eines – mein Leben zurück, wie es vor der Krise war. Dem Tod nicht zu viel Aufmerksamkeit einräumen und mich nicht von der Angst vor ihm lähmen lassen, die andere ausstrahlen. Wenn das nur so einfach wäre – wir sind immer noch abhängig von den launigen Beschlüssen der Regierung, die in ihrer Blase darüber entscheidet, wer sein Leben genießen darf. Wenn das weiterhin ausbleibt oder in bester Mafia-Tradition durchgesetzt werden soll, wird wohl diese Aktion noch die harmlose Variante des Protestes gewesen sein.
Das Leben findet einen Weg.
Kommentar schreiben