Was haben Sie denn so an Erinnerungen an Ihre Kindheit? Kennen Sie noch Erziehungsmaßnahmen, welche Ihre Eltern oder die Lehrerschaft Ihnen gegenüber ausgesprochen haben? Vielleicht haben auch Sie Erfahrungen mit den klassischen Forderungen wie „Sitz gerade.“, „Nicht rumrennen!“, „Man redet erst, wenn man gefragt wird.“ - vielleicht wurden Sie aber auch im groben Maße „antiautoritär“ erzogen und sollten sich „frei entfalten können“.
Bei mir ist es beides. Ich hatte einen typischen sich selbst so sehenden Familienversorger und damit lange auf sich selbst und die klassische Pflichterfüllung bedachten Menschen als Vater und eine sehr nachgiebige, meist großzügige und liebevolle Mutter. Ich kenne also noch beide Seiten der Medaille, und es ist gut möglich, dass ich deswegen ein etwas widersprüchlicher Mensch mit wankelmütigem Verhalten geworden bin. Das ist jedoch nur die innerfamiliäre Prägung, die ich erfahren habe. In der Verwandtschaft prägten mich vor allem die Erwachsenen, weil ich damals als ruhiges und nicht freches Kind galt, das lernwillig war und nicht dem kindlichen Rebellismus frönte wie meine Cousins.
Mein Rebellismus setzte dagegen erst spät ein, nämlich pünktlich zur Pubertät. Ich versuchte damals in einer wichtigen Lebensentscheidung, aus dem Strebertum auszusteigen und etwas mehr zu leben statt unter dem Dauerdruck zu stehen, nur an meiner Intelligenz bemessen zu werden. Da wurde das Menschsein schnell in den Hintergrund gerückt, und irgendwann ist man es leid, lediglich als Informationsstelle für ungelöste Matheaufgaben herhalten zu dürfen, von Erwachsenen dafür getätschelt und im Nachgang von neidischen Kindern zumindest als sonderbar betitelt zu werden.
It´s my life
Im Groben bin ich schon die Summe solcher Erfahrungswerte, die ich nun in einer Art von Midlife Crisis versuche zu evaluieren, um eventuell das hinter mir zu lassen, was mir in meinem Leben häufiger auf die Füße gefallen war. Mit fünfundvierzig Länzen und bei meinem Lebenswandel müsste ich eigentlich schon lange so weit sein, meine Erfahrungen so umzusetzen, dass ich eigenverantwortlich handeln und gelernt haben könnte, doch steht dem immer wieder das individuelle Erziehungs- und Prägungspaket im Weg, das dich in alte, dumme Gewohnheiten zurückführt.
Ist man erwachsen und die Eltern haben keinen besonderen Einfluss mehr auf ihr Kind, wechselt die Einflussquelle schnell auf die Gesellschaft und auch die Politik. Man wächst zwar mit beidem parallel zur innerfamiliären Prägung, auch in der Kindheit, auf, beschäftigt sich jedoch in der Regel nicht oder nur rudimentär damit. Dies passiert häufig erst im Erwachsenenalter, so zumindest meine Erfahrung und Beobachtung. Natürlich steht dieser Annahme etwa das Engagement von Gruppen wie Fridays For Future entgegen, die allerdings erfahrungsgemäß zuerst einen monothematischen Aktivismus bedienen und andere relevante Themen gerne ausklammern.
Mit dem Internet, das die Jugend als ihren höchst eigenen Verbreitungsspielplatz betrachten können (auch weil sie quasi den Umgang damit mit der Muttermilch saugten), wurde ihre Relevanz nun auch deutlich, aber auch künstlich vergrößert. Mit dem Internet ist so ein Idealismus in die Politik übergeschwappt, der in der normalen, realen Lebensrealität so nie geschehen wäre. Wir haben dem trotzdem nachgegeben, weil auch von Teilen der Wissenschaft flankiert worden und damit auch eine politische Legitimation erteilten.
Epoche der Scheidungen
Dies ist allerdings nur als technischer Aspekt zu betrachten, und für die Motive und fabulierten Absichten hat man selten etwas übrig. Nun schieben wir mal den Zeitgeist dazwischen, soziale Entwicklungen, das familiäre Gesamtbild in der Gesellschaft. Wirft man einen Blick auf die Scheidungsraten in Deutschland über die Jahre, ist ein eindeutiger Trend zu verzeichnen: gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in der als revolutionär betrachteten 68er-Übergangsphase zur Auflösung des alten Patriarchats, haben sich auffällig mehr Menschen scheiden lassen als noch in den 60er Jahren. Nun ist auch der statistische Peak von 2005 von besonderer Bedeutung, wo sage und schreibe 51,9 % der Ehen geschieden wurden. Das war auch kurzzeitig den Medien eine exklusive Betrachtung wert gewesen.
Nun sind Scheidungen Erwachsene betreffend eine spezielle Art von Belastung, für Kinder sind sie allerdings eine folgenschwerere. Hierin sollte die Selbstschuldgabe der Kinder herausgestellt werden. Sie sind, egal ob das in der Familie ausgiebig besprochen wird oder nicht, immer mit einem versteckten Trauma belegt, und das prägt das Heranwachsen und führt später zu Defiziten im Leben abseits einer solide familiären Basis. Solche Kinder leben häufig in negativ geprägtem Umfeld auf, kennen in der Familie mehrheitlich nur Aggressionen oder Wut als vorherrschende Verhaltensweisen und erleben neutrales oder zugewandtes Miteinander schnell als befremdlich oder überfordernd. Es klingt widersprüchlich, kann ich aber so bestätigen. Und das nicht, weil es in meiner Familie so verlaufen wäre, sondern weil mich die Gesellschaft mehr geprägt hat und dies noch nachträglich in meine Persönlichkeitsstruktur mit eingeflochten wurde.
Dies ist auch ein Indiz dafür, warum ich dieser Gesellschaft derart skeptisch und misstrauisch gegenüberstehe. Und meine Summe der Erfahrungen haben wohl die nun ausgewachsenen Kinder aus den scheidungsreichen Jahren nach der Jahrtausendwende quasi schon in der Familie gebündelt in sich aufgenommen, sind also noch stärker betroffen als ich. Dies prägt nicht nur die Einzelpersonen, sondern auch die kollektive Mentalität. Es ist also kein Rand-, sondern ein Massenphänomen geworden. Deswegen denke ich auch, dass ich mehr oder weniger in zwei verschiedenen Epochen und Mentalitätsabschnitten gelebt habe. Die 70er und 80er etwa, in denen Deutschland ein eher lockeres Verhältnis zum Leben pflegte und die Scheidungsraten von gerade mal 10-20 % in den 60ern noch nicht in die Verhaltensstruktur eingeflossen waren. Doch danach haben diese Raten immer mehr Einfluss auf die Menschen genommen und einen negativ konnotierten Lebensbauplan erschaffen.
Bis zur Selbstauflösung
So wurde die Familie als Bastion des Rückzugs allzu sehr in den Hintergrund gerückt. Der Individualismus trat an ihre Stelle, in der der jugendliche Rebellismus nicht nur ein Phasen- und Hormonphänomen ist, sondern eine vollumfängliche Abkapselung einer jungen Person von seiner Familie – samt Schuldkomplex. Und so übernimmt die Person dieses Verhalten auch für sich selbst sowie weiterführend anderen gegenüber.
Ob der Vergleich hinkt oder nicht, wage ich nicht zu beurteilen, aber habe ich den Eindruck, dass ein Kriegstrauma und das Scheidungstrauma gar nicht mal so unterschiedliche Folgen auf die menschliche Psyche haben könnten. Die Nachkriegskinder könnten demnach eine ähnliche Sozialisierung wie Scheidungskinder erfahren haben. Das zeichnet sich dann vor allem in autoritärem und recht unnahbarem Verhalten ab. Auch deshalb vertrete ich die These, dass die FFF-Generation (die man etwa gerne die Generation Playstation samt „vor dem Fernseher geparkt-Unding“ nennt) eine ähnliche geistige oder gar körperliche Abwesenheit von Elternteilen zu verdauen hatte.
Letztlich bleibt eine Eigenwahrnehmung und auch extern praktizierte Einwirkung des Menschen als pauschal defizitäres und den Planeten gefährdendes Wesen hängen. Wagt man nun einen Blick in die aktuelle Debattenkultur, so herrscht dort keine Aufbruchstimmung mehr vor – eher eine nihilistische, negativistische Grundhaltung, die in allem Gefahren sieht, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Schadensbegrenzung lautet das Gebot der Stunde, Schaden von etwas, das mittlerweile nur in vorwegnehmenden Hypothesen begründet werden und noch gar nicht eingetreten sind. Wir reden nicht mehr oder nur noch alibimäßig von Möglichkeiten, Chancen und guten Vorsätzen, sondern eben in jenem Panikmodus, der jede Schlechtigkeit aufführt, um später dann sagen zu können, dass es doch nicht so schlimm kam. Mit einer derartigen Denkweise generieren wir uns als schlechtes Wesen und belohnen uns lediglich mit kurzzeitigen Moralgeschenken. Das ist einer Dauererniedrigung in Sekten nicht ganz unähnlich.
Zur Selbstgeißelung und dem Defätismus mit solch einfach zu bewerkstelligenden Gratismut auf Zeit kommt jedoch nun eine neue Facette hinzu, die noch weitergeht und eine Selbstauflösung als Ziel zeichnet. Antinatalismus etwa, also die Forderung an sich selbst und andere, keine Kinder in die Welt zu setzen. Sie begründen das oberflächlich mit dem ökologischen Fußabdruck und dass jeder Mensch zusätzlich nur mehr zur Zerstörung des Planeten beitragen würde. Die Gefahr von Hungersnöten durch eine Überpopulation wird prinzipiell mit einer Forderung nach Depopulation begegnet. Wenn man so will: die Menschheit teils auszurotten, um sie zu retten.
Schuldkult und Grundgesetz
Wer solch fatalistische Gedanken überhaupt in Erwägung zieht, ist selbstredend nicht ganz frei von defizitärem Verhaltensauffälligkeiten (wie oben skizziert). Und nun hat diese Mentalität auch die Politik durchzogen – also genau die staatliche Institution, die über ein Volk befindet und entscheidet. Der autoritäre Stil, gefüttert von Traumata und Selbstzweifeln auf Basis unsteter Familienverhältnisse, hat es geschafft, das Gros der politischen Akteure zu stellen. Und so stellt sich nun auch der Stil der Politikgestaltung dar: wir werden autoritär behandelt, sanktioniert oder selektiv abgewertet, wenn wir uns nicht oder nicht ausreichend fügen. Ob deren familiärer Background ähnlich ist wie der von mir skizzierte, möchte ich jetzt nicht zu Felde führen – jedenfalls würde eine besonnene, ruhige Person mit der Fähigkeit zur Differenzierung durch Erziehung nicht derart auf seine Bürger einwirken. Man hätte Vertrauen in sie, gäbe Ratschläge, ohne voraus nehmend schlechte Konsequenzen daraus zu vermuten. Und man müsste dies nicht als letztes Mittel in Gesetze gießen, um etwaige Sanktionen gleich staatlich und präventiv zu legitimieren.
Es scheint, als würde das eigene Getrieben-sein auf die übertragen, die das gar nicht nötig hätten. Anders lässt es sich wohl nicht erklären, dass so viele Menschen in diesem Land so freizügig ihre gesetzlich garantierten Freiheiten aufgeben – weil sie sie wahrscheinlich nicht mal als unentgeltlich verdient ansehen. In ihrem eigenen Seelengefängnis existiert diese demokratische Freiheit nur als verfügbare Kurzzeitbelohnung ähnlich der moralischen, begrenzten Läuterungen. Die wirkt jedoch kaum nach, so dass man, wie ich bei mir auch beobachtet habe, wieder in alte „Dummheiten“ zurückfällt.
Diese „Dummheiten“ sind nichts weiter als der Ausdruck des eigenen Schuldkultes, der in die basische Persönlichkeitsgestaltung eingeflossen ist und dort auch hartnäckig verbleibt. Solche Schlechtigkeiten sind schnell darin eingeflossen – sie zu entfernen ein weitaus aufwändigerer Akt. Denn häufig werden die Auswirkungen erst spät sichtbar und führen nur schleichend zur Verschlechterung der eigenen Position in der Gesellschaft oder der Gesundheit. Die Rechnung wird uns dann zumeist nur in körperlichen Gebrechen oder plötzlich und/oder schleichend auftretenden, psychischen Auffälligkeiten präsentiert. Die unmündige Gesellschaft ohne Hintergrundwissen wirkt dem kaum entgegen, und nur wenige würden diese Auffälligkeiten auch als solches benennen können, um wenigstens den Betroffenen das eigene Verhalten vor Augen zu führen und einen Aha-Effekt zu provozieren. Mit der Macht als Fallnetz kann man so in der Politik auch lange oder gar bis zum Ableben mit diesen Defiziten leben und sich in Erfolgen sonnen.
Fakt ist jedoch, dass wir uns Leben nicht mehr an Positivem, Chancen-gebendem ausrichten, sondern nach Verboten, Regulierungen und Bedingungen. Keine gute Basis, die auch auf Generationen gerechnet Auswirkungen haben kann.
Nicht Parteien, sondern Menschen
Ist es also schon legitim, die Annahme zu vertreten, dass wir in einer traumatisierten Gesellschaft leben? Wenn man Staat und Machthabende als Elternteile begreifen würde, würde ihr Verhalten gegenüber uns Bürgern als eine Wechselbeziehung von infantiler Logik offenbart werden. Das Gut-Böse-Schema, im weiterführenden Sinne links-rechts, hat mit erwachsener Differenzierungsfähigkeit und Lebenserfahrung nichts mehr gemein. Eher ist eine kollektive Borderline-Störung, auf dessen Niveau eine ganze Bevölkerung eingesogen wird, und zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt scheint in der allgemeinen Debattenkultur nicht mehr viel zu existieren.
Die gesellschaftliche Abwertung und die soziale Isolation von Individuen macht die Selbsteinschätzung auch nicht besser. Es wird nicht erzogen, es wird ausgegrenzt, und wer das im tiefenpsychologischen Sinne noch vorantreibt oder befürwortet, behandelt Mitmenschen wie ungewollte Kinder, die man zwar pflichtbewusst durchfüttert, aber sie durch Liebesentzug still und dauerhaft sanktioniert.
Man kann sich ausmalen, wie etwa ungewollte Kinder von ihren Müttern behandelt werden: wie ein Klotz am Bein, den man nur durch die eigene Scham nicht wegschlägt. Dass im Gegenzug eine Spiegelung des Verhaltens durch das Kind gegenüber dem Elternteil passiert, sollte eigentlich logisch sein, doch heute wird dieses Kind auch noch als ungehorsam doppelt bestraft. Die Machtstellung macht dies möglich – bei Familien fast ausweglos und folgenschwer, in der Politik würde eine Abwahl oder vorzeitige Neuwahlen normalerweise eine heilende Wirkung herbeiführen. Wären da nur nicht derselbe Typus Mensch, lediglich unter anderen Parteifarben geführt. So lässt es nur den Schluss zu, dass wir kein Parteienproblem haben, sondern ein tiefenpsychologisches und somit menschlich Grundsätzliches.
Des Vaters Läuterung
Eines Nachts vor vielen Jahren saß mein Vater alleine im Wohnzimmer und heulte sich im Suff die Augen aus. Ich sollte davon eigentlich nichts mitbekommen, aber ich wurde wach, weil er Lärm verursacht hatte. An diesem Abend entschuldigte er sich überraschenderweise bei mir, dass er aufgrund des Arbeitsstresses der 3-Schicht-Arbeit und seinem Pflichterfüllungsgedanken nicht genügend für mich da gewesen sei. Ich war völlig perplex gewesen, weil ich es nicht pauschal als das empfunden hatte. Ein bisschen was war sicherlich dran an seiner Aussage, und heute kann ich es verstehen, wenn er nach anstrengenden Schichten heim kam und erst mal zur Ruhe kommen wollte. Ich hatte es aber nie gänzlich so aufgefasst, dass ich ihm oder gleich mir die Schuld für diese Situation gegeben hätte.
Vielleicht ist ja doch etwas davon in mir hängen geblieben, vielleicht hat es einen Knacks bei mir verursacht, der die Widersprüchlichkeit in meiner Persönlichkeit erklären würde. Aber da ist zu viel abseits dieser Quasi-Bagatelle passiert, zu viel externer Einfluss durch mobbende Kinder, ignorante Kollegen oder falsche Freunde passiert, dass ich den Schuldanteil meines Vaters als eher gering erachten würde. Immerhin wuchs ich im Allgemeinen in einer intakten Familie auf, durch die ich sicherlich nicht in die Versuchung kommen würde, meine Schuldkomplexe an anderen auszulassen geschweige denn von ihnen etwas zu verlangen, das sie gar nicht erbringen können oder müssten.
Dem gegenüber sieht die Politik ihre Bürger als jene ungewollte Kinder an, die ihre Existenz zuerst durch gute Taten zu ihren Gunsten unter Beweis stellen sollen. Was das für nachfolgende Generationen bedeutet, haben schon Generationen vor uns schmerzlich erfahren müssen.
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